Flussnoten19 – Tag 1

23. Juni 2019

Der letzte Flussnoteneintrag liegt etwa drei Jahre zurück. Geschrieben an der Mündung des Rheins in die Nordsee bei Hoek van Holland. Wir hatten den Fluss von der Quelle bis zum Bodensee erwandert, ich ihn sodann alleine in zwei Abschnitten (Bodensee-Pfalz und Pfalz-Hoek) erradelt. Darüber geschrieben. Die Welt bankrott erklärt. Zu viel Lärm, zu viele Menschen, zu viel Landnahme,  zu viel Zerstörung durch unsere Spezies mit dem implizierten, unterschwelligen Willen zur Sebstzerstörung.

Das Ende der Flussnoten schwingt mit in diesen neuerlichen Flussnoten. Die Welt hat drei Jahre weiter gedreht. Umwelt ist endlich ein Großthema geworden. Es brodelt und kriselt an allen Ecken und Enden. Etliche Despoten mehr sind zu Herrschern bedeutender Nationen geworden, zu korrupt-dümmlich-populistischen Wagenlenkern. Die große Mehrheit ist immer noch ignorant und lebt ihr sorgloses Leben, blamiert andere als die Schuldigen eines Dilemmas, an dem alle in der Verzahnung ihrer großen Weltenmaschine prozessual beteiligt sind.
Wir sind nicht besser. Transporttechnisch sind wir hochgradig verzahnt, ein Rad im Gesellschaftsgetriebe. Mit dem Auto sind wir von der Homebase im Aargau angereist bis nach Thun zu Freunden, wo wir die Karre für zwei Wochen stehen lassen können in einer Tiefgarage, privat, kostenfrei. Das ist viel billiger als die 250 Franken, die es kosten würde, per Zug anzureisen. Nur etwa 150 Kilometer per Auto. Mehr noch, die Freunde fahren sogar mit auf den Grimselpass, wo unsere Reise Aare abwärts beginnen soll und bringen das Auto zurück nach Thun. Weitere 100 Franken gespart im Tausch gegen ein paar Liter Benzin, wie wir in die Umwelt pusten. Ein paar Liter mehr Benzin und Diesel dünsten in die Umwelt beim Sonntagsverkehr den Grimsel hinauf. Wir merken es erst, als wir kurz anhalten in einer Parkbucht bei einem Holzlagerplatz. Der Lärm, das unablässliche Vorbeizischen von Motorrädern, Autos und Wohnmobilen, die sich alle mit einander einen balgenden Tanz liefern, um die vielen Radler, die den Pass hinauf keuchen zu überholen. Und einander gegenseitig überholen. Wie Nahrungskette ohne Fressen. Wie Pogo mit tonnenschweren Stahlkarossen. Oben am Pass wird die Dimension des Wahnsinns deutlich. Die Terrasse des Restaurants Alpenrösli ist voller Menschen, Parkplätze gut belegt. Gipfelfoto hier, Gipfelfoto da. Ein Harleyfahrer mit wummerndem Topf stoppt, lässt den Motor laufen, steigt ab, schaut, liebäugelt nach Bewunderern. Klar, der  Motor muss wummern. Wupp-wupp-wupp-wupp. Ich gebe zu, der Sound ist wirklich extravagant.
M., der das Auto zurücksteuern wird, geht zielstrebig auf einen Schmelzwassertümpel zu, bückt sich, fotografiert, beobachtet etwas. Aus der Ferne kann ich ihn sehen, frage mich, was er da vor der Linse hat. Als ich die dreißig Meter rings um ein kleines Tiergehege laufe, um mir M.s Fotomotiv anzuschauen, bin ich entzückt. Der Tümpel, in dem noch Schnee liegt, der dahin schmilzt, sitzt voller Frösche. Lurche aller Farben. An den Rändern des Tümpels wurde mannigfaltig gelaicht. Die Zukunft. Blick schwenkt über den Parkplatz, das Alpenrösli, all die Individuen, die in seltenen Fällen tatsächlich darüber nachdenken, was geschieht, was sie anrichten im gemeinsamen Dahintreiben durch die Zeit, und es blitzt ein kurzes Bild, in dem all das vergangen sein wird, endlich wieder Stille herrschen wird auf dem Planeten und die Frösche die Herrschaft übernommen haben werden.
Welch groteske Vision ich da habe. Die Sonne brennt ungehindert in klarer Luft. Wenn man sich im Kreis dreht, flimmern die Berge, Schneeplacken neben Granit-Zacken unter stählernem Blau und die Geräusche der Natur, gemacht aus Wind und Wasser schimmern manchmal durch im von Menschen gemachten Motorgeräusche-Soundteppich.
Wir wandern los, Frau SoSo und ich. Rucksäcke zu je etwa 15 Kilo inklusive Wasser und Lebensmittel für drei Tage. Eigentlich sind wir ausgerüstet für eine Trekkingtour, könnten gut und gerne auch auf dem Kungsleden in Nordschweden wandern oder irgendwo in Schottland.
Die Aare entspringt in den Gletschern oberhalb des Oberaarsees. Erst ab dem Grimselsee, einem von mehreren Stauseen, heißt der Fluss Aare. Wenn ich meiner Karte auf der Open Cycle Map glauben darf. Vorher steht in der Karte geschrieben ‚Oberaarbach‘.
Da noch sehr viel Schnee liegt und die Wanderwege von Schneefeldern durchzogen sind, die wir mit unseren Schuhen nicht durchqueren wollen und auch nicht können, starten wir unterhalb der Staumauer des Grimselsees. Schon nach wenigen Metern die erste Barriere: Ein Warnschild zeigt, dass der Wanderweg wegen Schneefeldern zerstört ist und man eine Umleitung über die Passstraße wandern muss. Sonntags. Bei dem Verkehr. Wir versuchen es trotzdem, denn es ist genug Zeit und der schmale Wanderpfad in Flussrichtung linksseitig ist schön ruhig. Vielleicht hat ja schon jemand einen Pfad durch die Schneefelder getreten, dann schaffen wir das auch. Und wenn nicht, kehren wir um und wandern demütig die Passstraße. Schauen uns die Blockade wenigstens einmal an. Es sind nur anderthalb Kilometer hin und zurück. Ein Pokerspiel. Und wir haben Zeit. So stapfen wir los und stellen fest: tatsächlich. Auf etwa 100 Metern Länge liegt ein steiles Schneefeld über der Wanderstrecke, das, wenn man es durchqueren würde und stolpern würde, zu einer wunderbaren Rutsche bis hinab in den See gereichen würde. Der zweite Stausee unterhalb des Grimselpasses, der Räterichsbodensee. Hier gewinnt man Energie.
Also wieder zurück. Wie auch ein Trio, Mutter, Vater, Tochter nebst Hund, die ebenso geliebäugelt hatten, ob man durch die Engstelle kommt. Sie geraten uns zu Engeln. Hatten wir uns schon Plan B zurecht gelegt, Irgendwo zu zelten und montags früh die Passstraße zu erwandern, in einer Zeit, zu der sie noch nicht so stark befahren ist, luden sie uns kurzerhand in ihr Auto und kutschierten uns bis zum Ende der Umleitung über die Passstraße.
Nur noch etwa 1700 Meter hoch, liegen unterhalb der Staumauer des Räterichsbodensees weniger Schneefelder. Doch schon kurze Zeit später das nächste Dilemma: eine weggerissene Brücke. Unmöglich, den reißenden Gebirgsbach zu überqueren, weshalb wir bei einer Seilbahnstation querfeldein laufen und holpern – es dauert ewig, wir müssen klettern, um das Hindernis zu umwandern.
So kommen wir nicht sehr weit an diesem ersten Wandertag, bauen unser Zelt auf einem flachen Wieschen unterhalb der zweiten Staumauer auf. Ein sehr feuchtes Wieschen. Die einzige halbwegs trockene Stelle in der mit Wasser vollgesogenen Matte reicht gerade für Zelt und eine kleine Lagerterrasse davor.
Die Wiese lebt, wie alles um uns Menschen, von dem wir aber nichts mitkriegen wollen. Morgens bemerken wir, dass der Wasserstand in der Matte gestiegen ist. Wo abends noch trockenen Fußes angesagt war, fließt nun ein Bach. Das Zelt ist zum Glück nicht betroffen.

Wofür hat man Schuhe, wenn nicht zum Tastatur drauf legen? So sitze ich vorm Zelt im Schneidersitzbüro und tippe diese Zeilen.

Unveröffentlichter Artikel vom 24. Juni 2019, nachbearbeitet am 9. Juli 2019

Frau SoSo berichtet von Tag 0 und 1 -> hier klicken.

Tag zwei und drei hatte ich schon während der Reise veröffentlicht -> hier klicken.

Am Fluss mit den vielen Namen – #flussnoten19

Ein kurzes Lebenszeichen aus dem Outback der Reise. Status: irgendwo zwischen Thun und Beatenbucht, etwas außerhalb eines Dorfes auf einem Platz, über den sich nur sagen lässt, was für ein Glücksfall!Waren wir die letzten Tage stets weit außerhalb der Zivilisation und fern aller Infrastruktur, so trifft uns der Picknickplatz wie mit Kübeln von Glücksfällen überschüttet. Genau zum rechten Zeitpunkt der Reise.

Am Zusammenfluss zweier Bäche liegt er, gesegnet mit gleich zwei Brunnen, blitzsauberer Toilette und vielen Picknickbänken, zum Teil überdacht.

Was für eine Verschwendung, denke ich abends egoistisch: ein Brunnen zu viel, ein Bach zu viel, viele Picknickbänke zu viel, hätte man das nicht fein über unseren Weg verteilen können, so dass jeden Abend eine der kostbaren zivilisatorischen Ressourcen beim Nachtlager ist?

Nachts dann Wetterleuchten, das den – von Norden gesehen wie eine flache Pyramide anmutenden – Berg Niesen in ein phantastisches Licht taucht.

Surreal, außerirdisch, die Bühnenbildner von Doktor Who hätten es nicht besser inszenieren können … bald schon öffnet sich die Spitze, auf der ein Licht brennt, und ein Raumschiff startet mit Getöse, dämmere ich im Halbschlaf. Aber nein, das Getöse ist ein waschechtes Gewitter.

Vom Spielplatz, wo wir unter freiem Himmel gebettet auf Holzschnitzeln schlafen, ziehen wir um ins Schutzhäuschen, legen uns auf die Tische, die fast so groß sind wie ein Einzelbett. Dann prasselt der Regen und die Blitze zucken direkt über uns.

In dem Moment ziehen alle Lagerplätze der letzten Woche an meinem geistigen Auge vorbei und mir wird klar, dass kein einziger so guten komfortablen Schutz geboten hätte, wie dieser. Zwei unserer Lagerplätze hätten gar äußerst gefährlich werden können, trotz hochdichtem Europennerzelt.

Wieder einmal frage ich mich, ob so viel Zufall realistisch ist, oder ob es eine Art geheimes Schicksal gibt, das uns leitet und das uns die Dinge und Umgebungen gibt, die wir im jeweiligen Moment am meisten benötigen.

Ich bin agnostisch, tendiere daher stur dazu, dass es purer Zufall ist. Oder ein insgeheimes Gespür für nötige Orte, das man sich im Laufe von bald einem halben Jahrhundert intensiver Europennerei angeeignet hat.
Das Blog ist derzeit nicht gerade dicht befüttert. Dabei gäbe es viele Begebenheiten und Reisealltage zu berichten. Um ein Lebenszeichen zu geben, schreibe ich diesen Artikel.

Noch eine knappe Woche werden wir Aare abwärts wandern. Vielleicht bis Bern, vielleicht bis zum nächsten Gewitter. Die Reisebreichte liegen in einer äußerst rohen, vertippfehlerten Stakkato-Form vor, so dass ich sie, entgegen der gewohnten Direktberichte, dieses Mal unter Verschluss halte.

Es handelt sich um Flussnoten, also jenen Zyklus, der ursprünglich am Rhein 2016 im Blog http://flussnoten.de begonnen wurde und der, das wird mir nun klar, gemeinsam mit einer Gotthard-Wanderung im Jahr 2014 und der heurigen Aare-Wanderung ein vermutlich interessantes Buchprojekt sein könnte, das man in einem Post-Blog-Prozess veredeln könnte.

Unterwegs diskutieren Frau SoSo und ich, wie man das machen könnte und überlegen, ob man nicht alle Beiträge aller Reisen am ‚Fluss mit den vielen Namen‘ zwischen den Jahren 2014 und 2019 auseinander nehmen könnte und sie in eine neue, unsynchrone Form bringt?

Zukunftsmusik. Erst einmal geht es weiter – auf dem Pilgerweg nach Thun übrigens.

#flussnoten19 / #flussnoten

Seit Sonntag mit Frau SoSo Aare abwärts wandernd.

Notizen von Tag 2 und 3 (Tag 1 gibt es auch als Textskizze, aber noch nicht öffentlich.

Flussnoten19. Tag 2 Montag und Tag 3 Dienstag

Die Grimselgegend als künstlich von Menschen geschaffener Organismus. Eine durchbohrte Felsmasse, mit Tunnels für Wasser und unterirdische Schmalspurbahnen, eine Kombination verschiedener Stauseen, eine Energiegewinnungsmaschine. Das Frankensteinmonster alpiner Durchbohrtheit.

In Guttannen können wir den Eingang zum Stollen bewundern, der hinauf führt zu den Seen. Rätherischboden und Grimsel im Haupttal und Gelmersee östlich, abseits, 1860 Meter hoch. Der Tunnel mit der Versorgungsbahn führt von Guttannen hinauf nach Handeck. Die Geschicchte dazu konnte man auf einer Tafel beim Gelmersee lesen. Faszinierend der Bau der dortigen Staumauer, die durch Lokomotiven aufgeschüttet wurde, die auf Gerüsten hin und her webten.

Sitzen auf den Bänken vorm kleinen Dorfladen Regula’s in Guttannen. Erste Einkaufmöglichkeit, kein Kaufrausch. Einzig gönnen wir uns ein Bier, das wir später in der eiskalten Aare kühlen (so eiskalt, dass einem die Glieder schmerzen, wenn man sich hineinsetzt in seine selbst gebastelte Aarebadewanne).

Vorm Dorfladen unseren Alpkäser wieder getroffen. Kurzangebunden, nordisch kühler Sachse.

Die gesamte Dorfladenfamilie versammelt sich in der Hitze auf den Bänken im Schatten. Immer wieder Leute vom Dorf, die einkaufen. Der Dialekt ist unverständlich Berner Oberländisch, so dass selbst Frau SoSo kaum etwas versteht.

Nacht unter freiem Himmel. Im Aarebett ohne Zelt. Bemerkenswert das Lichterspiel der Autoscheinwerfer auf der Felswand. Ein Theatermacher hätte es nicht besser inszenieren können: links blitzt der Strommast, wenn die Scheinwerfer in Konjunktion mit der ersten Kurve stehen. In verschiedenen Schichten bilden sich die Bäume und Hecken, die den Straßenrand säumen ab. Durch den serpentinösen Verlauf der Straße, wandert das Licht wie in den Ganglien eines Fraktals (man verzeihe die surreale Wortkombination, die Nachtszene mit den Autoscheinwerfern ist nun einmal surreal) räumlich mal links oben, rechts unten, vorne, hinten, -nur ein Genie könnte auf Basis des Lichteffekts den Verlauf der vielleicht zweihundert Meter entfernten Grimselstraße und ihrer beweglichen Lichtquellen berechnen.

Dann der Sternenhimmel. Langsam wandert der Große Wagen über die Schlucht, Blick von Süden. Wo ist der Nordstern? Sternschnuppe. Million gewünscht. Sternschnuppe. Noch eine Million gewünscht. Wohin mit all den Millionen? Sternschnuppe. Abdankung eines Despoten gewünscht. Warum gehen die Wünsche, dass Despoten abdanken nie in Erfüllung?

Wieder streicht ein Lichtkegel an der Steilwand entlang. Großer Wagen ostwärts. Sternschnuppe. Nimm dies, Trump!

Akustisch übermalte Nacht (vom Rauschen der Aare). Sehr laut. Wenn man genau hinhört, variiert das Geräusch. Ein bisschen besorgt, dass die Elektrizitätswerksbetreiber die Schleusen öffnen und wir hier im trockenen Bett überflutet werden. Hin und her im Schlafsack. Der Ameisensupergau blieb aus, erwartete ich doch abends, dass die Tierchen in den Schlafsack krabbeln und piesacken. Schlafen Ameisen nachts? Sternschnuppe. Für Dich, Erdogan, und für Deinen Kumpel Putin. Vergesst den korrupten Brasilianer nicht, Ihr Säcke.

Finale der zweiten Etappe | #UmsLand Bayern

Irgendlink entschied, heute die zweite Etappe /Bayern zu vollenden. Per Zug fuhr er über München nach Lindau, von wo aus er dem Bodensee entlang an die Schweizer Grenze nach Höchst fuhr, wo wir uns trafen.

Mit dem im Auto verladenen Fahrrad sind wir schließlich ein paar Stunden später in der Homebase eingetroffen.
(Fortsetzung folgt.)

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Heute gibt es keinen Track und keine Karte.

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Hier nun ein paar Bilder von Irgendlinks vorläufig letztem Reisetag:

‚Der Kopf des unbekannten Dichters‘ von Gabi Hanner steht in der Nähe des Bahnhofs von Plattling.

Die Hafeneinfahrt von Lindau. Beobachtenswert je nach Sonnenstand und Lichtverhältnissen. Eine Instanz bei Gegenlicht und praller Sonne befindet sich auf dem ersten Bayern-Poster.

Ein Bootshaus am Bodensee nahe Losau.

Das Bühnenbild für Rigoletto der Bregenzer Seebühne.

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Herzlich aus der Homebase
Eure Sofasophia

Der Tag des Künstler-in-die-richtige-Richtung-Drehens | #UmsLand Bayern

Ich kenne die Frau doch, die sich da neben mich auf das Wartebänkchen beim Bahnhof Grafenau setzt. Und den Mann da drüben auf dem Parkplatz beim Rewe, den kenne ich auch. Mit dem Busfahrer, der gerade am Busbahnhof nebenan abfährt, habe ich mich vorhin im Café des Rewe unterhalten, als wäre er ein alter Freund. Fazit: ich bin von hier. Ich habe immer hier gelebt, war nie weg und diese ganze lange Radelreise rund um Bayern habe ich mir nur ersponnen.

Fast werde ich verrückt. Es ist wie einst in der US-Serie Dallas, als Bobby Ewing starb und nach vielen Folgen, in denen er scheinbar tot war, plötzlich unter der Dusche hochschreckte und feststellte, dass er das alles nur geträumt hat.

Morgens stand die Frau, die nun neben mir sitzt, beim Bahnhof Zwieselau, der eigentlich nur aus einer Holzhütte und einem Bahnsteig besteht. Das war beruhigend für mich, denn ich kenne das Prinzip des Bedarfsbahnhofs noch nicht so recht. Der Zug kommt immer zwei Minuten später, sagt sie und man muss aus dem Häuschen raustreten, sonst hält er nicht. So einfach. Und wenn man drinnen ist im Zug und aussteigen will, fordert einen eine Ansage auf, einen der im Wagen verteilten Halt-Knöpfe zu drücken.

Alles ist unklar an diesem Tag, außer, dass ich mir das Nationalparkzentrum mit seinem Baumwipfelpfad und dem Museum anschauen will. Bloß, wie komme ich dahin? Die Bahnlinie führt ja nicht bis zum Zentrum.

Im Zug weiß man Abhilfe: Mit dem Igelbus, jenen Linien, die auf die Berge Lusen und Rachel fahren und auf den wenigen erlaubten Straßen am Rand des Nationalparks Bayerischer Wald. Im Zug gibt es Begleitpersonal. Die Fahrkarte wird noch wie früher bei diesen Menschen gelöst. Sie lösen auch dein Problem, wenn du eins hast, geben Auskunft, scherzen manchmal, um die Leute bei Laune zu halten. Die Schaffnerin reicht mich an einen Fahrgast weiter: Der da, der kennt sich aus!, und so steige ich mit dem Mann in Spiegelau aus, er dreht mich in die Richtige Richtung, dort, bei der Bushaltestelle. Kommt gleich. Im Bus gehts genauso weiter. Der fährt nämlich gar nicht zum Nationalparkcenter. Es gibt keine direkte Verbindung dahin. Man muss umsteigen (falls Ihr jemals im Nationalpark seid und Bus fahrt, merkt Euch die Haltestelle Diensthütte. Sie scheint Dreh- und Angelpunkt zu sein. Das Dubai des Bayerischen Walds sozusagen).

Diensthütte umsteigen in den Lusenbus, der hinauf zum etwa 1300 Meter hohen Berg fährt, Wanderer hinbringt, abholt und wieder runter über Diensthütte dann zum Nationaparkzentrum.

Ein schön organisiertes Besucherzentrum mit Museum im Dr. Eisenmann-Haus, jenem Minister, der in den 1960er-Jahren diesen ersten deutschen Nationalpark maßgeblich initiiert hatte. Draußen ein Freigehege für Wild – man muss Glück haben, welches zu sehen. Die Gehege sind groß. Dann ist da noch ein Pflanzenpark und ein geologischer Rundweg und als Krönung der Baumwipfelpfad.

Der gehört einer Baumwipfelpfad-Kette, die auch in Österreich und Teschchien und in der Slowakei Baumwipfelpfade betreibt.

Für 9,50 komme ich rein und spaziere überm Wald bis zum Finale, einem Turm, der sich wie ein Ei um eine Baumgruppe legt. Alles ist barrierefrei. Man kann mit dem Rollstuhl oder Krücken bis ganz hinauf und hat einen prima Blick über den Nationalpark und bei gutem Wetter bis zu den Alpen. Am Holzgeländer sind pfeilförmige Plaketten angebracht, die zeigen, in welcher Richtung welche Stadt liegt, welcher Berg. Zwieselau ist etwa zwanzig Kilometer entfernt. Der Arber, höchster Berg der Gegend ist nicht sichtbar, aber die Richtung, in der er liegt, ist markiert. Er liegt nördlich hinter dem Rachel. München, Passau, Lusen und Rachel, viele kleine Orte der Gegend sind markiert. Finsterau und Mauth dürfen nicht fehlen. Bemerkenswert ist, das fiel mir schon am Baumwipfelpfad Saarschleife auf, es gibt Hinweise auf andere Baumwipfelpfade. Die Saarschleife ist nur 510 Kilometer weiter westlich.

Dies ist der Tag des Künstler-in-die-richtige-Richtung-Drehens. Zurück geht die Reise auf ähnliche Weise. Ich frage mich bei Mensch um Mensch von Ort zu Ort, lande schließlich in Grafenau, dem Endhaltepunkt der Linie drei der Waldbahn. Kein Wunder, dass mir alle so bekannt vorkommen. Ich habe den halben Bayerischen Wald befragt, um meinen Weg zu finden. Der Mann auf dem Rewe-Parkplatz ist derjenige, der mich in Spiegelau in die richtiger Richtung drehte. Der Busfahrer, mit dem ich über Porschetraktoren und Walter Rörl redete, hatte im Bus wegen des Fahrlärms recht laut geredet, ab und zu in den Rückspiegel blickend, Kontakt aufnehmend und hier im Café flüstern wir beinahe.

Die Waldbahn ist ein wunderbares Phänomen. Ich glaube nicht, dass wir schneller als fünfzig, sechzig Sachen auf der geschwungenen Trasse dahin fahren. Es geht familiär zu und unheimlich entspannt. Für den Moment denke ich, das ist es, was die Welt braucht: Entschleunigung, mehr Unsicherheit (so verrückt das klingt, im Sinne von weniger Durchtaktung), Ungewissheiten, Fragen, Langsamkeit, viel mehr Herz und Zwischenmenschlichkeit, anstatt abgehetzt und geschunden zwischen Maschinen und Automatismen hin und her zu hecheln.

Zurück auf dem Campingplatz erwartet mich eine Überraschung. Eine Gruppe mit drei Wohnwagen richtet gerade ihre Wagenburg ein. Ich weiß nicht, was mich so beklommen macht, aber ich glaube, es ist genau das, dieses Wagenburgbauen, dieses Grenzen errichten, dieses Hier-sind-wir-wer-seid-ihr-denn-Gebare. Drei riesige schwarze Hunde an langen Leinen bellen sich warm. Fast wie Schach, denke ich, wie sie die Hunde positioniert haben und nun stellen sie die Wohnwagen zur Rochade um.

Es ist fast 17 Uhr. Sieht nach Regen aus. Ich habe die nächste Nacht noch nicht bezahlt. Die Platzwartin war noch nicht da.

Es soll ja noch einen Campingplatz geben in Zwiesel, fünf Kilometer entfernt.

Schnell gepackt und los.

Den Campingplatz in Zwiesel gibts nicht mehr. Der nächste wäre in Regen. Elf Kilometer. Ich stelle mich auf Wildzelten ein, radele Richtung Regen. Nieselregen setzt ein. Regenklamotten anziehen unterm Dach der Bushaltestelle beim Krankenhaus. Weiterradeln. Plötzlich ein Schild Richtung Bahnhof. Nur ein Kilometer bergab. Hey, Mann, hast ja noch das Tagesticket der Waldbahn, könntste doch …

Und so kommt es wie es kommt. Schon stehe ich gegen 19 Uhr am Bedarfsbahnhof Bettmannssäge, einem winzigen Weiler. Weiß ja nun, wie das funktioniert. Dasein. Einsteigen, weiterfahren. Rausche durch bis Plattling.

Das liegt an der Isar, kurz vor deren Mündung in die Donau. Es gebe zwar keinen Campingplatz, aber bei der Isarwelle würden oft die Surfer mit ihren Caravans wild campieren, erzählt mir ein Fahrgast.

Obendrein lädt er mich während der einstündigen Fahrt zu einem verbalen Ausflug nach Berlin ein, ein Hausprojekt, faszinierende Geschichte, andere Geschichte.

Abstand zum Mittelpunkt Bayerns bei Kipfenberg 110 Kilometer.