Fern | #zwand20

Eine einsame, schmale Straße in grüner, wolkenverhangener Landschaft. Links im Bild ein Reiserad.

Fern. Das trifft es. Mit dem Wort ‚Fern‘ bin ich heute früh gegen halb fünf aufgewacht. Die Künstlerbude ist im voranschreitenden Frühling nun schon so angenehm temperiert, dass man, wenn man aus dem Hochbett klettert, runter in die Zone, die ich als Arktis bezeichne, nicht sofort den Holzofen anschüren muss. Ich konnte mich direkt an den PC setzen, nachdem ich das Kaffeewasser aufgesetzt hatte. Mails checken und die neuen Kunstwerke, die abends für unser Col-Art-Kunstprojekt eingetrudelt sind in die Galerie einfügen. Wow! Die Beteiligung weltweit ist großartig. Nach nur drei Tagen sind schon über zehn Arbeiten eingegangen.

Der Mittelpunkt Frankreichs liegt, je nach dem, ob man Korsika einbezieht, in den Orten Nassigny im Departement Allier oder Vesdun, Departement Cher. Meine Route von Zweibrücken nach Andorra führt etwa 100 Kilometer östlich an diesen beiden Punkten vorbei.

Das Wörtchen Fern kann auf Fahrradtouren vielerlei Bedeutungen haben. So kann etwa ein angepeilter Etappenort ziemlich fern sein, wenn man vergessen hat, das Höhenprofil der Strecke anzuschauen. Drei Kilometer bei 12 Prozent Steigung, Regen und Gegenwind kurz vor der Dämmerung machen einen Ort in Windes Eile sehr sehr fern. Ferne kann aber auch zum Grundgefühl werden. Dann, wenn du beginnst, dich nach Hause zu sehnen,  emotional festgefahren zwischen Start und Ziel der mehrwöchigen Reise. Dieses Gefühl erzeugt ein mächtiges Begehren, den Zustand ‚kleiner Mensch kurbelt mit Schweißeskraft tagelang in die und die Richtung‘, sofort zu beenden. Plötzlicher Lustverlust. Sinnfrage. Was mache ich, was soll ich hier, trotz bester Routenplanung keine Ahnung wie es weitergehen soll. Am Liebsten würde man im Straßengraben umfallen und einfach liegen bleiben wie eine Pfanddose.

Ich meine, mich zu erinnern, dass Freund QQlka 1995, als wir durch Lappland radelten, in der Hoffnung, irgendwann das Nordkap zu erreichen, in einer dieser Phasen einmal sein Fahrrad hoch nahm, aufbrausend wie ein Jahrmarktsringer und es mitsamt Gepäck auf den Rand einer dieser typischen, riesigen Mülltonnen stemmte. Die gut drei Meter durchmessenden Müllbehälter an den Rastplätzen der menschenleeren nordischen Straßen sind riesige Löcher, in  denen entsprechend große, stabile Plastikmüllsäcke hängen. Als das Radel so auf dem Rand der Tonne stand, ohnehin nie und nimmer durch die enge Öffnung der mit Holz umrandeten Tonne gepasst hätte und ich ‚Halt ein‘ rief, brachen wir beide in ein verzweifeltes Lachen aus. Feiner Nieselregen aus tiefhängenden Wolken, breiartiger Wind aus Nordost, ein Vogelbeobachtungsturm. Fern die nächste Stadt und ebenso fern die, die wir vor ein paar Stunden verlassen hatten.

Ein Parkplatz. Nun abwärts, zurück ins Loire-Tal. Auf der gegenüber liegenden Flussseite rauscht eine Eisenbahn. Die Verbindung Roanne – Le Puy? Daneben eine Straße. Fast bin ich dankbar für die regnerische Stimmung. Es erinnert mich an den Kapschnitt 1995. QQlka und ich. Vier Wochen Sonne unter skandinavischem Hoch. Plötzlich, Mitte August, drehte das Wetter. Mitten in Lappland. Regen und Kälte. Aber anders als hier und heute, läutete das den Herbst ein. Mückensterben, Vergehen allüberall, Nächte bei -4 Grad, Tage kaum wärmer als zehn. Wie ich auf dieser Reise schon öfter an den Norden gedacht habe. Schon als es auf Dijon zuging vor ein paar Tagen. Plötzlich überfällt einen ein Geschmack, berührt einen ein Geräusch, holt dich ein Geruch aus dem Trott und du baust eine Brücke von dieser, jetzt gelebten, Realität zurück in eine ganz andere, längst vergangene Realität. Als spielte Zeit keine Rolle. Die Loire rauscht. Ein Moped schneidet vorbei. Nur wenige Autos auf der gewundenen kleinen Straße. Ein paar Kleinlaster, die Waren zu den umliegenden Supermärkten bringen. Ich könnte mir ein schönes Leben als Lasterfahrer in dieser Gegend vorstellen … [geschrieben während einer Rast zwischen Aurec und Bas-en-Basset, 30. April 2010]

Tag elf der Reise 2010 war ein Gemütskiller. Vom Nachtplatz in Aurec radelte ich nicht allzu weit. Im mantrischen Kurbeln verfing ich mich in melancholischen Gedanken, die aufreibend, krafträuberisch gemeinsame Sache machten mit den anspruchsvollen Aufs und Abs des immer enger werdenden oberen Loiretals. Ich quartierte mich abends für 9,30 Euro auf dem Campingplatz Les Moulettes in Vorey-sur-Arzon ein. Das elfte Nachtlager.

Ganz anders Tag elf der Reise zehn Jahre zuvor. Die Königsetappe.

Ein Fahrrad mit viel gepäck lehnt an einer steinernen Brüstung vor nebliger, mit Schneeplacken durchsetzter Berglandschaft.
Abwärts vom Mont Lozère Richtung Tarn. Archivbild aus dem Jahr 2010.

85,68 Kilometer bei einem Durchschnitt von 13,3 km/h. Etwa 1500 Höhenmeter (oder mehr), schätze ich. Ab Chappeauroux fährt man über eine kaum befahrene Straße das gleichnamige Flusstal aufwärts, bis sich sämtliche Bäche in den Bergen verlieren. Welch ein Idyll! Nach etwa 30 Kilometern muss man die N88 überqueren. Dann geht es in einer Berg- und Talfahrt über drei Pässe von 1300 bis 1500 Metern Höhe durch eine malerische Landschaft. Nachdem man das Massiv des Mont Lozère überquert hat, rauscht man auf gewundener, kleiner Straße vorbei an Granitbrocken durch eine Art Mondlandschaft bis ins Tal des Tarn. Der Col de Finiols dürfte mit knapp 1500 Metern der höchste Punkt der Etappe gewesen sein.

Und nun? Ich komme mir vor wie im Spagat, während ich in den alten Tagebüchern lese. Mehr und mehr klaffen die beiden Reisen auseinander, sowohl zeitlich als auch räumlich. Zwischen den Reisen 2000 und 2010 liegt nicht nur das Massiv des Mont Lozère. Zehn Lebensjahre liegen dazwischen. Ich bin Zeuge einer Mutation vom einen (längst vergangenen) Ich, das ich einmal war zum Ich 2010 (das ich auch einmal war). Zwei schwere Krankheiten, die ich überwinden musste, verlorene und gefundene Liebe … ich frage mich, ob es sinnvoll ist, in Zehnjahresabschnitten zu denken und zu klassifizieren. Lassen wir doch die Zeit als markierendes Element einmal außer Betracht. Sie ist doch sowieso nur eine von Menschen gemachte Maßeinheit, eine Art Richtschnur durchs Leben einerseits und ein Wertesystem, das seine grausame Macht erst entfaltet, wenn man die Leistungen eines Menschen, die er am Markt verkaufen muss, um über die Runden zu kommen, in Relation mit dem Zeitmaß setzt, auf das man sich geeinigt hat. Soundsoviele Stunden pro Tag, Tage pro Woche, Wochen pro Monat, Monate pro Jahr und schon hat man wunderbar den Wert eines Menschen berechnet. Die Zeit, das Geld, die Kilometer, die Lebensleistung, der Müßiggang, das eigene, arme, geschundene, kleine Hirn, das rattert und rattert und zwischen all den Markern, die die menschliche Gesellschaft geschaffen wie ein irritiertes Pelztier hin und her hechelt. Das Frettchen im eigenen Kopf, begehrtes Zuchttier … genug!

Die Tage vergehen wie im Nu. Ich habe aufgehört, Coronanachrichten zu lesen. Fernsehen, Radio und Zeitung habe ich zum Glück nicht. Informiere mich spärlich im Netz. Dass ich nicht am Ball bleibe und regelmäßig die Statistiken lese, hatte mir kürzlich einen Schrecken versetzt. Im Kopf hatte ich einen Wert von 19.000 für Deutschland gespeichert. Der aktuelle Wert lag plötzlich bei fast 50.000. Herz … Hosentasche. Mulmiges Gefühl.  Wenn man die Weltkarte mit den roten Kreisen ganz klein macht, ist sie knallrot. Ich verbringe die Zeit im Garten, spate und grabe, hege, hacke Holz. Die Bäume, die auf des Nachbars Feld lagen sind nun alle beseitigt. Die Frucht kann wachsen. Nur noch die Krone einer riesigen Pappel liegt in einer kleinen Brache. Ich werde sie demnächst in handgerechte Stücke schneiden und zur Seite ziehen. Den etwa sechzig Zentimeter durchmessenden Stamm muss ich mit der Seilwinde zum Hof hinauf ziehen und mir dann überlegen, was ich damit anstelle? Holzschuhmanufaktur? Oder in Dealermanier durch die Stadt laufen und den Leuten quer über die leeren Plätze zurufen Psst Psst Pappel (gesprochen mit dem Akzent des Dealers, wenn er ruft, psst psst Haschisch).

Die Fernbeziehnung zu Frau SoSo erlebt die härteste Prüfung seit überhaupt. Noch greift das Hilfskonstrukt der Reise, die ja momentan stattfinden würde. Die echte Fahrradreise nach Andorra. Wir hatten etwa drei bis vier Wochen eingeplant, maximal fünf oder sechs. Mehr nicht. Das heißt, wir würden unsere Beziehung jetzt sowieso über die Videotelefonie leben müssen. Ein Segen übrigens. Trotzdem ist es anders. Theoretisch wäre ich seit vorgestern in der Schweiz. Wir hätten zusammen gearbeitet, gekocht, gelacht, gegessen, wären spaziert durch fruchtbare, lichte Bärlauchfelder, hätten Ausflüge … hätte hätte Fahrradkette, könnte könnte Altersrönte, müsste müsste Nordseeküste, möchte möchte Liebesnöchte und so weiter. Ihr seht, ich fahre nicht Rad, ich drehe am Rad. Man möge mir das verzeihen. ES denkt in mir, zwingt mich, diesen Text zu schreiben.

Fern. Die Luftlinie nach Hause? Ungefähr 650 Kilometer. Da ist es egal, ob die Etappenorte beim heute beginnenden Tag zwölf in den Jahren 2000 und 2010 schon knapp 100 Kilometer voneinander entfernt sind. Es macht so wenig aus, wie die Unterschiede zwischen den beiden Mittelpunkten Frankreichs. Pi mal Daumen bin ich damals etwa 600 bis 700 Kilometer fern der Heimat. Heute null.

Alleine bin ich. Müde. So leer. Es gibt kein Gefühl mehr, während der jetzt gerade sattfindenden virtuellen Reise. Ich habe alles verloren. Bin mir nicht sicher, ob der momentane, Pandemie bedingte Ausnahmezustand daran schuld ist, oder ob ich sowieso irgendwann alles verloren hätte. Jeden Bezug zu Gefühlen. Vielleicht ist es auch eine Selbstschutzmaßnahme der eigenen Psyche, um nicht verrückt zu werden.

(Das mag depressiv klingen. Es hört sich vermutlich schlimmer an als es ist. Ich bin immer noch sehr zufrieden, wenn auch nicht erfreut mit dem Verlauf).

Diesen Artikel markiere ich in der Karte am Mittelpunkt Frankreichs bei Nassigny (der Mittelpunkt, bei dem Korsika in die Berechnung mit einbezogen ist).

Nun gibt es englisches Frühstück und später werde ich ein bisschen Garten schuften. Oder einen Gegenstand reparieren. Auf einem zerfallenden Hof gibt es immer etwas zu tun.

Löwenzahn-Ensemble mehrerer Blüten bilden eine Art Herz auf grüner Wiese.
Eine Liebesbekundung aus dem Jahr 2010 an die werte Frau SoSo, die 2010 als hochgeschätzte ‚Homebase‘ das Projekt Zweibrücken-Andorra II unterstützte.

Paradigmenwechsel, so will ich es einmal nennen | #zwand20

Eine karge Burgmauer mit Turm und Zinnen links und einem zinnenlosen Turm rechts.

Was für eine Reise! Morgens noch bettschwer trifft mich die derzeitige Situation mit Wucht. Du gehst von Quarantäne zu Quarantäne. Tagelang ohne Menschkontakt, frische Frühlingsluft zur Nöche. Zur Selbstgenüge. Fast ist es wie der ruhige Tritt des Langstreckenradlers im ewigen Rund der Kettenblätter. Die Welt scheint schön zu sein. Sie könnte schön sein. Sie ist schön, aber … und wie man weiß, steht hinter dem Wörtchen ‚aber‘ immer der Kern der Botschaft. Die ganze Wahrheit. Du bist Schrödinges Patient, nicht krank, noch gesund. Wenn die Isolation nicht von Dauer ist und man sich in regelmäßigen Abständen unter Menschen begeben muss, frischt sich die Möglichkeit, an Covid19 zu erkranken wieder und wieder auf. Sisyphosesk. Einmal wöchentlich frische ich diese Möglichkeit auf.

In den Tagebüchern der beiden Reisen 2000 und 2010 meine ich, einen Paradigmenwechsel zu erkennen. Führte mich der Weg im hastigen Takt vor 20 Jahren noch auf schnellstem Weg nach Andorra (die Reise dauerte nur 17 Tage), beginne ich ab etwa Tag neun/zehn/elf, während der Reise 2010, mich zu verlangsamen. Das ist, soweit ich es lese, den Umständen der Reise zu verdanken. Begegnungen mit Menschen. So wichtig. So elementar das ‚Futter‘ an Geschichten das man unweigerlich zu sich nimmt, sobald man mit Menschen in Kontakt kommt.

Blick vom Berg auf eine dreieckige Flussinsel. Ringsum grüne bewaldete Klippen und Hügel
Blick von Schloss Essalois auf das Château de Grangent auf der Íle de Grangent in der Loire.

Wie es so ist beim Reisen. Ein freundlicher Gruß löst ein Gespräch aus.  [Zwei] Damen mit Pudel stiegen […] die Treppe vor der Kirche in Chambles herab, Marie-Claire und in ihrer Obhut eine alte Dame, die sie betreut. Marie-Claire fragte, fast empört, ob ich Essalois gesehen habe. Ein Muss! [Ich hatte das Hinweisschild auf das Château unterwegs gesehen, den Weg abwärts in die Sackgasse Richtung Loire jedoch gescheut. Die Gegend ist wirklich sehr hügelig]. Chambles liegt auf dem lokalen Hochpunkt meiner Route, 635 Meter ü. d. M. M.-C. schlug vor, mich im Auto mitzunehmen bis zum Château. Sie müsse mit der Dame noch etwas erledigen, derweil ich mir doch den abenteuerlichen Turm in Chambles ansehen könne. Danach würden wir uns treffen.

Eine steile, hölzerne Wendeltreppe in einem Turm
Treppe im Turm von Chambles

So kommt es, dass ich kurze Zeit später in einem blauen Mégane auf der Rückbank hocke und wir die etwa fünf Kilometer zum Schloss fahren. Wir reden französisch. Ich verstehe vieles. Marie-Claire redet langsam und in einfacher Sprache. Sie gibt etliche Geschichten zu den drei Schlössern südlich von Roanne preis. Die Burgen beherrschten das flache Land Loire abwärts. Früher waren sie strategisch wichtige Positionen zwischen dem Plateau von Chambles und dem Unterlauf der Loire. Nun ist das alte Schloss Essalois aber ein Ruine. Riesiger Parkplatz vor der Sehenswürdigkeit. Wir steigen auf den Turm, der ebenso bizarr und abenteuerlich ist wie der in Chambles. Für deutsche Verhältnisse, so vermute ich: Wahrscheinlich wäre er gesperrt, weil die Treppen nicht die Sicherheitsbestimmungen erfüllen.

Hier, hundert Kilometer nördlich der für ihre Vulkane bekannten Auvergne, befindet sich auf einem markanten Brocken, der einst aus den Vulkanen geschleudert wurde, ein Kloster, erzählt M.-C. Ich notiere mir das ins Tagebuch mit dem Vermerk, es unbedingt bei der nächsten Reise zu besuchen (leider steht im Buch nicht, wie das Kloster heißt. Ich erinnere mich, dass Marie-Claire es mir vom Turm aus zeigte).

So weit, dass ich mich auf die Suche nach dem Kloster auf dem mysteriösen Vulkanfelsen begeben könnte, ist es nun leider nicht gekommen. Erstaunt stelle ich beim Lesen der Zeilen fest, dass ich schon vor zehn Jahren die Absicht hatte, die Reise zu wiederholen.

Man könnte sagen, auch zwischen 2010 und heute, 2020, liegt ein Paradigmenwechsel, eine einschneidende Veränderung meiner Art zu leben, zu reisen, die Welt zu betrachten. Wenn auch vom Schicksal aufgenötigt.

Eine bürgerliche Kaufmannsfigur aus bemaltem Holz auf einem Sockel vor der Naturstein-Kirchenwand
Figur in der Kirche in Chambles.

Löste ich mich im Jahr 2010 ab Tag zehn der Reise vom Leistungsgedanken, so schnell wie möglich so viel wie möglich zu erleben, verabschiede ich mich nun im Jahr 2020 davon, überhaupt vorankommen zu wollen, gar überhaupt etwas erleben zu wollen. Geradezu demütig ertrage ich den Lauf dieser Zeit, in dem ich keinerlei Handlungsspielraum habe, zumindest physisch; ein Lauf der Zeit, in den ich nicht eingreifen kann in den Verlauf meiner ‚Reise‘. Der Lauf dieser Zeit scheint so mächtig – fast wie ein reißender Fluss – dass es das Beste scheint, überhaupt keine Anstrengung zu unternehmen (zumindest im Außen), um etwas zu ändern.

Wir befinden uns nun im Kern der Tour 2000. Von Le-nouveau-Monde am Fluss Allier werde ich an diesem elften Reisetag ansetzen zur Königsetappe. Ich hatte diesen Abschnitt so getauft, weil er über drei markante Anstiege mit anschließenden rasanten Abwärtsfahrten den Mont Lozère überquert. Am Ende dieses elften Reisetags sollte ich im Jahr 2000 die Tarnschlucht bei Le-Pont-de-Montvert erreichen. 2010 schalte ich ein paar Gänge zurück und bummele, Paradigmenwechsel sei Dank, Loire aufwärts bis Vorey-sur-Arzon.

Der Blogartikel taucht in der Karte des Projekts heute beim Schloss Essalois auf.

 

 

Festgefroren im Schelfeis des ungehemmten Konsums | #zwand20

Ein leeres Blatt. Unsortierte Gedanken. Zu viele Gedanken. Ach wären doch meine Gedanken ein Supermarktregal. Ein köstlicher Exzess konkurrierender Marken auf engstem Raum, aber gut sortiert. Das preisgegebenste liegt schön mittig vor Augen und die weniger promoteten Artikel etwas abseits des Hauptblickfelds der Zielgruppe. Wichtig: Kinderwaren in Kinderaugenhöhe positionieren. Geriatrisch von-belange Ware nicht so, dass sich der gebrechliche Mensch bücken muss.

Es ist über einen Monat her, dass ich mit Freund Journalist F. im örtlichen Monstermarkt zum Einkauf war. Wir liehen für ihn einen der Rollstühle aus, die der Laden für die weniger gut-zu-fußen Kundinnen und Kunden bereit hält, scherzten, dass es viel einfacher ist, in dem Markt einen Rollstuhl auszuleihen als im großen Uniklinikum jenseits des Bergs. Dann ging es los. Unendlich langsam. Journalist F. schlängelte sich mühsam von Regal zu Regal. Der Monstermarkt ist mindestens hundert Meter lang, vielleicht auch zweihundert und auch fast hundert Meter breit, schätze ich. Dichtes Gedränge. Ich schob den Einkaufswagen und Monsieur F. klaubte die Gegenstände aus den Regalen. Mit einem Scanner kann man die Ware selbst scannen, sieht deren Preis und am Ende wird bei einer Zahlstation stichprobenartig kontrolliert, ob man nicht geschummelt hat und sodann per Karte bezahlt. Ganz am Ende des Markts machte sich Erschöpfung breit. Hinter meterhohen Stapeln Mineralwassers aus aller Welt gerieten wir ins Stocken. Wie so eine Shackleton-Expedition, festgefroren im Schelfeis des ungehemmten Konsums. Mindestens hundert Meter bis zum Ausgang. Ich bekam langsam ein bisschen Angst, dass der Freund schlapp macht und ich einen Notarzt rufen muss.

Heute bin ich so weit entfernt von der Reise, spüre ich gerade. Zu Vieles treibt mich um. Schauen wir einmal ins Tagebuch des Jahres 2010. Nein! Das lassen wir. Es ist spät geworden. Es ist Zeit, Feierabend zu machen und die Dinge so stehen lassen, wie sie stehen. Was ist eine Reise – selbst eine, die im Stillstand stattfindet – anderes, als eine Arbeit im Voranschreiten? Auf ein Neues am morgigen Tag elf auf dem Weg nach Andorra. Das Nachtlager nach dem zehnten Reisetag 2000 war auf dem wunderbaren Campingplatz in Le-nouveau-Monde am Fluss Allier, knapp 70 Kilometer Luftlinie südlich des Nachtlagers 2010 auf dem Campingplatz in Aurec-sur-Loire.

Den Marker für diesen Blogartikel habe ich in der Projektkarte auf den örtlichen Monstermarkt gesetzt. Die beiden Lagerplätze sind momentan als Stecknadeln hervorgehoben. Wir befinden uns mitten in Frankreich.

Vom Pappelspalten und Ersterschlaffen | #zwand20

Ein Wasserschloss auf einer kleinen Insel in einem Fluss. Die Landschaft ist hügelig und bewaldet.

Fast habe ich mich selbst eingeholt. 2000 breche ich erst gegen Abend vom Campingplatz Villerest an der Loire auf und radele an diesem verregneten Tag noch gut 40 Kilometer bis nach Feurs. Ich weiß noch, wie glücklich ich war, als sich kurz vor der Ankunft ein Streifen Abendsonne durch die Wolken kämpfte, erinnere mich an einen übervollen Campingplatz, an meinen Platznachbarn, einen Motorradfahrer. Und daran, dass der Campingplatz mit sieben französischen Francs (ca. 1,5 €) der billigste Platz war, den ich je erlebt hatte.

Einer, der heutzutage Hufeisen herstellt – ist der noch Schmied, oder hat er sich von der Wesensform des Schmieds entfernt und ist Geschäftsmann? Einer, der auf Karten träumt und im Internet sich die Welt anschaut – ist der ein Reisender?

Das fragte ich mich während des langen Tags im Zelt. Als ich es satt hatte, den Schnecken beim Kriechen zuzuschauen und damit zu liebäugeln, ihnen Kunststückchen beizubringen, packte ich das nasse Zelt, nicht ohne vorher alle Tiere von der Zeltplane abzustreifen.

Es gibt bei meinen Fahrradreisen zwei markante Phasen. Ich nenne sie Ersterschlaffung und Zusammenbruch. Vermutlich, wenn ich es wissenschaftlich erkunden würde und einmal eine Auflistung aller Fahrradreisen, die ich je gemacht habe, anfertigen würde, könnte ich faszinierende Dinge herausfinden, wie solche Reisen gemütsmäßig ablaufen. Nach etwa einer Woche voller Elan und gutem Vorankommen, setzt irgendwann die Ersterschlaffung ein. Eine müde Phase, in der man den Körper nur noch mit Mühe aufs Fahrrad bringt, in der jeder Kilometer weh tut, in der selbst der leiseste Anstieg eine unüberwindbare Hürde darstellt und grundsätzlich ist gefühlt immer Gegenwind. Man hat den Point of no Return der Reise, der bei etwa 400 Kilometern von zu Hause liegt, zum Glück überwunden, sonst würde man direkt in den nächsten Zug steigen und wäre abends wieder daheim.

Die zweite markante Phase ist der Zusammenbruch nach Ende der Reise. Das Ende der Reise ist entweder dann, wenn man sein Ziel erreicht hat oder dann, wenn das Phänomen des plötzlichen Lustverlusts eintritt, von dem ich in diesem Artikel (zugehörig zum Projekt /Bayern) vor einigen Wochen berichtete.

Ich befinde mich 2000 in der Phase der Ersterschlaffung. Das Wetter ist nicht gerade schön. Wenn es nun weiterregnet, würde ich die Tour abbrechen. In Feurs sollte ich zudem miserabel schlafen, da neben dem Campingplatz eine Discothek ist, die bis vier Uhr nachts wummerte und nach Torschluss einige Nachtschwärmer ausspuckte, die auf dem Parkplatz krakelten.

In der nächsten Nähe eine After-Pub-Disco. Flair Überlandstrecken-Campingplatz […] In den Vogesen einen Tag lang nichts einkaufen zu können, ist fast so schlimm, wie besoffenen, komplexbeladenen Discoleuten bei der After-Pub-Party, dem Aufheulen ihrer Motoren, den quietschenden Reifen zuzuhören. Gegen vier verlassen die letzten den Schuppen und krähen mit einem Hahn um die Wette.

2010 hatte ich die Phase der Ersterschlaffung wohl schon hinter mir und legte mit einer langen Etappe Loire aufwärts gut nach. Mein Ziel war der Campingplatz Villerest, den ich vermutlich auch erreicht hätte, wenn mich nicht eine Reifenpanne kurz vor der Abenddämmerung auf dem Kanalradweg bei Roanne zum Stillstand gebracht hätte. Fahre nie bei Dämmerung in eine große Stadt, lautet die Devise. Ich erinnerte mich an den Komplex Roanne/Le Coteau als lästig hektische Stadtdurchquerung mit knappen Überholmanövern und vielen Ampeln. Also bog ich nach der Reifenreparatur vom Kanalradweg ab und verlor mich in den Industrien nördlich der Stadt. Das Europenner-Zelt kam schließlich auf einer großen, gepflegten Wiese vor einer Fabrik  zum Stehen. Das Tagebuch gibt leider nur preis, dass die Fabrik an der D 43 liegt.

Gibt es diese Phase der Ersterschlaffung eigentlich auch beim Bürostuhlreisen, frage ich mich. Befinde ich mich gerade in einer Ersterschlaffungsphase nach dem ‚Tourstart‘ vor einer Woche? Tag acht der diesjährigen Radreise Zweibrücken-Andorra hat gerade begonnen. Ich bin ein bisschen in der Bredouille. Nach halb durchwachter Nacht schlief ich gegen Dämmerung wieder ein und war erst gegen acht im ‚Sattel‘, sprich auf meinem Bürostuhl. Mit im Gepäck eine Zeitbarriere, die ich mir selbst auferlegt habe, nämlich um zehn Uhr bei Freund Journalist F. zu sein. Heute ist wieder Assistenztag. Ich werde Rezepte einlösen und einen Aldi-Einkauf riskieren. Und weil es so schön ist, in diesen Tagen einkaufen zu gehen, nehme ich auch noch die Listen der Frau Mama und der Tante mit. Zu guter Letzt auch die eigene Liste. Ich will auch was abhaben.

Oder lässt sich das ganze Leben gar in eine Kette verschiedener Reisen aufteilen, ähnlich der Kapitel eines Buchs, echter Reisen mit motorisierten Fahrzeugen, Fahrrädern, zu Fuß, per Schiff oder per Flugzeug, wie auch Kopfreisen oder einzelne Projekte, die man als Reisen bezeichnen könnte. Das Leben ist nur eine Kombination verschiedener Reisen. Von Ersterschlaffung über plötzlichen Lustverlust und Zusammenbruch rettest du dich in die nächste jungkeimende Traumreise, nur, um erneut über die Ersterschlaffung jenseits des Punkts ohne Rückkehrmöglichkeit in den Zusammenbruch zu steuern. Weiter, weiter, weiter, bis irgendwann der letzte Zusammenbruch erfolgt.

einige liegende Stämme führen den Blick auf einen roten, uralten Traktor mit kleinem Anhänger zu. Im Hintergrund eine Baumreihe am Rad eines kahlen Achers.
Der Traktor namens ‚Hölle auf Rädern‘ im Einsatz bei der Pappelbaustelle.

Den gestrigen Tag verbrachte ich ‚bei Hofe‘. Es gibt immer etwas Holz zu Hacken. Die ideale Sportart, um kostengünstig, nutzbringend die Fitness zu trainieren. Da darf mir kein Fitnessstudiotrainer etwas erzählen. Das Land trocknet in den letzten kühlsonnigen Tage so gut, dass ich es wage, mit dem alten Porschetraktor hinunter zu fahren an den Waldrand, wo es einige Bäume auf des Nachbars Acker gelegt hatte. Die sollten schon längst beseitigt sein. Nun rücke ich ihnen mit Kettensäge und Seilwinde zu Leibe. Komme gut voran. Endlich sind die Felder wieder frei. Die größeren Stücke karre ich nach Hause, die Baumkronen einer gigantischen Pappel und eines Ahorns zerre ich mühsam, händisch zur Seite. Die Frucht wächst gut.

Man kann über Pappelholz sagen, was man will: dass es schlechtes Brennholz ist, dass es sich nicht lohnt, es zu zerkleinern und zu verbrennen. Im Chor der Brennhölzer hat es dennoch eine Stimme. Trockenes Pappelholz brennt unglaublich schnell und sehr heiß. Es ist ideal, um zum Beispiel einen Holzkochherd (leider habe ich keinen), in Kürze auf Betriebstemperatur zu bringen.

Exkurs wie spalte ich Pappelholz. Der ungeübte Holzfäller, die ungeübte Holzfällerin wird sicher dem Charme der Kernspaltung erliegen, wird versuchen, den vorliegenden Pappelholzklotz möglichst mittig zu treffen. Vielleicht hat sein, ihr geübtes Auge auch schon einen feinen Riss erfasst, der als Spaltriss tauglich scheint. Schnell wird man enttäuscht, selbst wenn man noch so sehr den Riss getroffen hat. Die Axt bleibt stecken und lässt sich weder mit der Umkehrtechnik (Axt unten, schwerer Holzklotz oben) durchs Holz treiben, noch löst sie sich so ohne Weiteres wieder aus dem Klotz. Auch die Arbeit mit einem Spaltkeil ist auf diese Weise unheimlich mühselig.

Es gibt jedoch einen Weg, wie man Pappelholz ohne große mit relativ wenig Mühe in ofenhandliche Stücke zerkleinert. Du musst von den Rändern nach innen spalten, sprich, den Stamm ringsum filetieren in feine Scheiben. Schlage etwa fünf bis zehn Zentimeter neben der Rinde und das Holz fällt fast von selbst relativ auseinander (wenn es keine Äste hat).

Abend nun. Ich habe den Artikel grob korrekturgelesen. Ein harter Einkaufstag war das. Nicht schön. Zum Ausgleich ließ ich es mir nicht nehmen, einige Pappelhölzer zu hacken und habe deshalb die Korrekturen vorgenommen, wie ‚leicht‘ das Pappelspalten ist. Nämlich nicht. Vielleicht sollte ich umsatteln und aus dem Holz Holländische Holzschuhe schnitzen. Den dafür verwendet man das Holz auch gerne.

In der Karte befinden wir uns nun, am Ende des heutigen neunten Reisetags, während der Radtour 2000 auf dem Campingplatz Prats de Mars, etwas westlich von Retournac. 2010 haben wir etwas Strecke eingebüßt und quartieren uns gut 50 Kilometer nördlich von Prats de Mars in Montrond-les-Bains ein. Diesjährig, wer hätte es nicht geahnt, endet der Reisetag im heimischen Bürostuhl. :-) Bleibt gesund und macht das Beste daraus.

Wer gerne malt, mag sich an diesem tollen Projekt beteiligen.

Col-Art in Zeiten von Corona – Galerie

Wir bedanken uns herzlich bei allen Teilnehmenden.

Das Projekt ist beendet. Bitte keine Bilder mehr malen. Schon gemalte Bilder oder begonnene Bilder können natürlich noch gesendet und gemailt werden.

Update: 1. 11. 2020 – Ein Vorab-Arrangement aller fast hundert Beiträge aus dem Frühling und Sommer 2020 – ACHTUNG, die gesamte Serie (95 Motive)  ist am Ende dieses Beitrags als Galerie zu sehen. Fehlende Bilder in der Collage (75 Motive) sind entweder noch nicht bei Marc angekommen oder werden künftig noch zur Collage hinzugefügt.

75 quadratische gleichgroße Gemälde in fünf Reihen und 15 Spalten angeordnet. Unterschidelichste Motive von Landschaft über Portrait bis Abstrakt.
Col-Art Projekt – Col-Art in Zeiten der Corona, März bis Juni 2020 mit zahlreichen internationalen Künstler:innen. Initiiert von Marc Kuhn (Schweiz).

24. März 2020. Kaum 24 Stunden läuft unser Projekt, weltweit an einem großen Col-Art-Gemälde – jeder von zu Hause aus – zu arbeiten. Schon trudeln die ersten Kunstwerke ein. Die folgende Galerie wird täglich in unregelmäßigen Abständen aktualisiert.

Worum es bei dem Projekt geht und an wen Du die 20×20 Zentimeter großen Leinwandbilder senden kannst, erfährst Du hier.

Update 1. April 2020 – Die Beteiligung ist überwältigend. VIELEN DANK allen Teilnehmenden. Falls Ihr Euer Bild nach zwei Tagen noch nicht in der Galerie findet, sendet bitte eine Erinnerungsmail. Ich habe es in der Vielzahl der Beiträge leider übersehen, was mir (Jürgen) sehr leid tut.

Update 4. April. Die Galerie wächst weiter. 38 Beiträge! Bildbeschreibungen einzelner Bilder für Barrierefreiheit werden folgen (das Arbeitsaufkommen ist hoch momentan).

Update 5. Mai. Über sechzig Kunstwerke! Wenn man sie alle zu einem großen Bild fügt, ist es schon über 2 Quadratmeter groß. Aus dem gelockdownten Spanien, wo in den letzten Wochen kein Postversand möglich war, erhalten wir noch viele weitere Bilder.

Update 18. Mai. Das Projekt wird bis 20. Juni fortgesetzt. Wir freuen uns auf Deinen Beitrag.

8. Juli. Das Projekt ist beendet. Schon fertig gemalte Bilder werden natürlich noch ins Gesamtbild integriert. Mit fast 100 Teilnehmenden weltweit ist eine der größten Col-Art-Kunstwerke der letzten 50 Jahre entstanden.