Das rostige, nicht sehr schöne Möbelstück im länglichen Wohnzimmer des Herrn Irgendlink | #zwand20

(Nachträglich geschrieben am 22. April 2020).

Verflixtes Deutschsprechen. Jetzt habe ich den Tote Hosen Song mit dem Schinken, dem Ei und dem belegten Brot im Ohr. Überm Tresen bleckt das Logo von Knittels Campingplatz. Ein geschnitztes Holzbrett mit Fischen und Angeln. Aus dem I im Namen schwingt sich eine filigran geschnitzte Angelschnur. Daran zappelt ein großer Fisch mit verzerrt todeskämpfend geöffnetem Maul.

Deutschsprechen aber als Auffrischung. Wie so eine Tetanus-Impfung. Blick auf den Ebrostausee. Ein paar Anglerboote ziehen ihre Bahnen. Rot bleckt das Geländer der Brücke beim Procter & Gamble Werk. Sind wir noch Katalonien, frage ich. Nein! Aragòn. Der Mann am Tisch gegenüber ist ein deutsch sprechender Spanier, der lange Zeit in Dortmund gelebt hat. Klingt so, als ob er Katalanien nicht mag. Ich vertiefe das Gespräch nicht. Aber irgendwie kochen wir doch alle im gleichen, großen Europatopf.

Wie naiv, Kunstbübchen, wie naiv. Hast Du den Graffiti-Krieg nicht gesehen? Diesseits und jenseits der Grenze zwischen Katalanien und Aragón findet man jede Menge Schriftzüge, die Freiheit für Katalanien fordern und solche, die Nein sagen zu Katalanien. Oft sind es Denkmale wie jenes stählerne Schiff auf der nördlichen Ebroseite. Hart umkämpfte Werbeflächen. Ein Graffitikrieg tobt diesseits und jenseits der offiziellen Landesgrenzen, stelle ich fest. So kurbele ich hinauf ins Niemandsland um Fabara, nachdem ich einige wenige Kilometer auf der Nationalstraße gekostet habe. Keine Autos überholen mich auf der serpentinensteilen A 1411. A, das steht für Aragón. In Katalanien würde eine Straße dieser Kategorie mit CA beginnen und in Navarra mit NA. Landesstraßen also. Soweit sogut. Ich radele ins Nichts. Kaum jemand begegnet mir, genau wie 2016 auf dem Weg nach Gibraltar. Die Gegend ist unheimlich. Brachen wechseln mit Feldern, steinige Wege zweigen rechts und links ab. Am verwahrlosten Bahnhof von Fabara mache ich einen Stopp. 2016 verweilte ich bis zur Unheimlichkeit an diesem Ort, fotografierte das zerfallende Gebäude gegenüber.Nur noch Baumbewohner und Gestrüpp zwischen maroden Fensterläden. Irgendwo summte etwas Elektrisches aus einem Traforaum. Kein Zug kam vorbei. Aber die Schienen sind blitzeblank. Die Strecke Barcelona-Zaragossa ist in Betrieb. Spiel mir das Lied vom Tod-Stimmung oder noch besser, Spanish Bombs von The Clash. Der Bürgerkriegssong schlechthin. Plötzlich wird mir bewusst, wie sehr ich durch den Krieg geradelt bin in den letzten Wochen. Einen Flickenteppich alter Grenzen und Ansprüche habe ich durchquert, ohne viel von den teils Jahrhunderte alten Konflikten, mitzukriegen. Vom Dreißigjährigen Krieg bis hierher ins scheinbar so vereinte Europa in wenigen Tagen. Eine völlig vernarbte Landschaft. Grenzen allüberall, aber eben nicht mehr offen sichtbar. Wunden allüberall. Notdürftig befriedete Konflikte. Fast muss man sich vorkommen wie auf dem Mond, in dessen atmosphärenlose Oberfläche alle nur erdenklichen Asteroiden, Meteoriten, Brocken und Staub eindrangen und eine unheimlich vernarbte Fläche hinterließen. Der Ist-Zustand der modernen Menschenwelt ist eine gigantische, verkraterte Fläche aus Besitzansprüchen, Kleingeisterei, nationalen und regionalen Konflikten bis herunter auf dei ganz ganz winzigen Konflikte zwischen einzelnen Nachbarn. Vorurteile und eben nie zu Ende gebrachte Kriege, die Abwesendheit von Vergebung sind die Ursache, vermute ich.

Vor meinem geistigen Ohr dudelt also Spanish Bombs und ich komme ganz gut voran von Narbe zu Narbe, von Wasserkonflikt zu Wasserstreit, von Romeojulianischen Liebeskonflikten bis zum den Nachbarn kann ich nicht leiden, ist halt so, war immer so, unsere Familien hatten immer Krieg. Bis Caspe auf ‚meiner‘ alten Strecke im länglichen Ort zwischen Nordkap und Gibraltar. Ich glaube, darin liegt das Paradox, das mich, den Durchreisenden Beobachter so verwirrt. Für mich ist seit seit ich die gesamte Strecke zwischen Nordkap und Gibraltar erradelt habe, ein länglicher Ort entstanden auf dem Narbenteppich des Verderbens all derer, die seit Jahrhunderten an ihren Konflikten festhalten, sie pflegen wie ein Pflänzchen oder ein putziges, beißendes, pelziges Tierchen. Die Narben? Natürlich sehe ich sie. Sie sind wie Möbel in meinem großen, grenzenlosen, selbst zusammen geradelten Wohnzimmer. Die Bevölkerung vor Ort sieht das anders, wenn sie tagein tagaus mit Spraydosen (zum Glück sind es nur Spraydosen und keine echten Waffen), anrückt um mein schönes feines Sofa, zum Beispiel die eiserne Barkenskulptur bei einem alten Castillo neu mit ihren jeweiligen Duftmarken zu besprühen. Heute Nein zu Katalanien, ist es morgen schon durchgestrichen und Freiheit für Katalanien steht auf dem rostigen, nicht sehr schönen, zum Möbelstück gewordenen Objekt im länglichen Wohnzimmer des Herrn Irgendlink.

Es ist ein Feature und not a Bug, würde mein innerer Serveradmin behaupten. Mache dir keine Sorgen, friedlicher Bewohner, es dient nur deiner Unterhaltung und damit Du etwas zu schreiben hast.

In Caspe überquere ich erneut den Ebro. Die Gegend wird gar großartig karl-mayisch. Zumindest so stellte ich mir die Gegenden vor, die der alte Sachse einst in seinen Romanen beschrieb. Staub und Leere und Durst. Irgendwo kreisen Geier. Tatsächlich?

Ich überlege mir moderne Karl May Heldennamen: Old Serverhand etwa, Vimnetou (nach dem Editor Vim) und Hadschi Halef Blogma. Eine Melange aus Karl May Film Melodie und den Spanish Bombs begleitet mich. So komme ich ganz gut voran. Das Lied Spanish Bombs ist übrigens hier in den Lyrics ganz gut dokumentiert. Wenn man einzelne Textpassagen anklickt, erhält man Hintergrundinfos dazu.

Ich stelle fest, es gibt keine Guten im Krieg*. Die Löcher in den Friedhofsmauern, von denen etwa die Rede ist, findet man noch heute und sie stammen gewiss nicht nur von den Roten oder den Faschisten. Beide Seiten waren grausam und erbarmungslos. Vielleicht war es einfach praktisch, den Gegner dort zu liquidieren, wo man ihn auch gleich begraben kann?

Mein innerer Sam Forgetthings versucht die Tristesse zu dimmen, versucht zu vergessen, beziehungsweise nicht daran zu denken. Kilometer um Kilometer, Schützengraben um Schützengraben, sich rettend ins Niemandsland des eigenen, länglichen Wohnzimmers lebe ich nur achtzig Jahre versetzt. Escatrón oder Sàstago heißt schließlich die Entscheidung an der Abzweigung zur A-221. Beide Orte liegen am Ebro, der in einer weiten Schleife eine Halbinsel ins Land gefressen hat. So kann man Narben vielleicht auch sehen. Sàstago wäre eigentlich eher meine Richtung. Dennoch radele ich links, einem Impuls folgend. Unten am Fluss ein Abzweig zu einem Kloster. Vielleicht eine Schutthalde nebenbei zum Wildzelten? Hundert Kilometer auf dem Tacho. Hundemüde und verlockend bleckt das hell erleuchtete Hotelschild. Gönn‘ dir was. Kauf dich frei, kauf dein Gemüt frei. Das billigste Zimmer kostet 68 Euro, mit Halbpension fast 80. Ich gönne mir den Luxus für diese Nacht. Zu viele Narben, zu viele Risse in der Welt. Ich brauche ein bequemes Bett ohne Ritze und etwas warmes zu essen.

Escatron liegt gegenüber der Hospederia, die im ehemaligen Kloster situiert auf der anderen Ebroseite. Es ist eigentlich nur ein kleines Dorf, aber es gibt ein Kraftwerk im Knie des Ebro. Ein Verbrennungskraftwerk. Früher wurde die Braunkohle, die man in Mequinenza förderte, verschürt. Heute hat man, glaube ich auf Gas umgestellt. Unheimliches Gespinst aus Starkstromleitungen liegt über dem Land. Vielleicht ist Handel das Balsam, das die Narben pflegt?

In der Hotellobby lümmele ich in den Abend, surfe im Wifinetz. Ein Bücherregal in der Ecke enthält genau ein einziges, deutschsprachiges Buch:** Panic von Mark T. Sullivan. [Titel noch unklar  – Zukunftsroman der Feinen Künste von Lind Kernig.]Ich denke, das kann ich mitnehmen?Es handelt von einer Jagdgesellschaft in Nordamerika, die abgeschnitten von der Außenwelt von einem unheimlichen Killer angegriffen wird. Einer nach dem anderen wird erlegt und ausgeweidet wie die Tiere, nach denen die Jägerinnen und Jäger auf der Jagd sind. Es handelt von einem Archäologen (Lind Kernig)  auf einer Mondstation der fernen Zukunft, der die Erde erforscht. Zunächst forscht er im digitalen Archiv des Mondes, stößt aber recht schnell an die Grenzen und muss einen Weg finden, auf die Erde zu gelangen, um im dortigen Archiv für digitale Frühgeschichte an weitere Informationen zu gelangen.

(Editiert 16. Juni 2020, Buchfundszene neu modelliert)

Edit 12. Juli 2020:

*Es gibt nur Böse und Antiböse

** Buchtitel Die Existenz/L’Éxistance. Das Leben in der Mondkolonie L’Existance hält nur ein begrenztes Repertoire an Erlebbarem bereit. Als wäre der Quell zu Erlebnissen irgendwann abgeschnitten worden und die Menschen, die in der Éxistance dem Elend der irdischen Apokalypse entkamen, durchleben Routinen, wieder und wieder. Neues ist rar. Neues ist ein knappes Gut. Neues gibt es nicht in der Kolonie, sondern nur auf dem Planeten. Der Zugang zum Planeten ist seit Jahrhunderten unmöglich. Kernig muss einen Weg finden, auf die Erde zu gelangen, um die Erlebnisquelle wieder zum Sprudeln zu bringen. Dabe stellt er fest, dass die Existenz nicht die Mondbasis ist, die in der Realität der Lunatier existiert.

Ich überfuhr den Sheriff, but I did not run over the Deputy | #zwand20

Kreuzigungsszene dreier Kreuze vor Kirchenmauer.

Gibt es einen trostloseren Ort? Tiere rascheln unterm Zelt. Das hatte mich geweckt. Vielleicht war es auch der Wind, der nachts von Westen aufstarkte, Staub aufwirbelte, was auf der Zeltplane so ähnlich klang wie Regen. Nur härter. Bin ich mit dem Wort ‚trostlos‘ in Gedanken erwacht, oder manifestierte sich das Wort erst aus den Gefühlen, die jedem Traum zu Grunde liegen? Im Traum existiert ja nichts. Da ist nur Gedanke. Das Hirn, habe ich einmal gehört, sortiert nachts alle Eindrücke des Vortags, ach was, aller jemals gelebter Vortage und mischt daraus die Träume, die nur im Schlaf logisch und schlüssig scheinen. Wenn man erwacht und sich erinnert, kommen einem die Bilder und Erlebnisse meist surreal vor, können beängstigen.

Ich bin unheimlich müde. Seit vier Wochen fast ununterbrochen im Sattel. Jeden Tag durchschnittlich etwa 70 Kilometer mit dem schwer bepackten Reiseradel vorantreibend, quer durch Frankreich und nun ‚im Krieg‘ den Flüssen folgend bis zum Epizentrum des Spanischen Kriegs. Die gestrige Etappe, 69 Kilometer westwärts, Ebro aufwärts gegen den Wind, der nachmittags ordentlich aufbrauste trugen ihr Schärflein zu meiner trostlosen Stimmung bei. Nach dem Desayuno im Klosterhotel in Escatrón schuftete ich mich wieder hinauf auf die Höhen nördlich des Ebros, nur um kurze Zeit später in Sastago wieder unten am Fluss zu stehen, ich Syssiphos der Tretkurbel, ich. Das Auf und Ab endete zum Glück kurz nachdem ich das Dorf Alforque (nicht zu verwechseln mit dem Nachbarort Alborge :-)) durchquert hatte. Hinauf auf eine Art Hochebene, die wie einem Wildwestfilm entnommen schien. Nachdem sich das Stromnetzgespinst des Wärmekraftwerks von Escartón in alle Lande verliert, wird es wirklich einsam, Menschenferne. Die kleine Seitenstraße ist durchaus als Radelstrecke empfehlenswert, gute Entscheidung, die A-221 zu verlassen, die auf der südlichen Talseite des Ebros gen Zaragossa führt. Tausche Berge gegen Wind und Staub. Es ist schon recht warm am gestrigen Tag, vielleicht über 20 Grad. Der Sonnenbrand auf der Nase hat sich dank großzügigem Einsatz von Sonnencreme, Faktor unendlich, gelegt. Die Hauptrichtung ist nun auch westwärts. Das heißt, Sonne kommt erst ab 14 Uhr ins Gesicht.

Bei Quinto überquere ich den Ebro, kurzes Stück Nationalstraßengemetzel. Der kleine Ort sieht aus wie eine in die Moderne verlegte Westernstadt. Fast schnurgerade führt die N-232 hindurch. Showdown mit beweglichen Zielen. Ich überfuhr den Sheriff, but I did not run over the Deputy. Wortspiele im Kopf. Melodien wie ich den Sheriff überfuhr. Wortspiele, die ab Quinto bitter nötig sind … Alforque, Alborge, Altersvorsorge … denn die Gegend wird flach und Trist. Einziger Trost: dass es um diese frühe Jahreszeit noch recht grün ist in der, tja, wie will ich es nennen? Hochebene? Ebene? Den Great Planes? llano Estacado? Karl May schon wieder (siehe Artikel Tag 27, der zum derzeitigen Stand noch nicht geschrieben ist). Die Erde muss eine Scheibe sein. Schnurgerade führt die schmale Straße gen Belchite. Ab und zu eine Farm, ein Getreidesilo, kaum Autos unterwegs. Der Wind drückt von rechts. Manchmal ateme ich Staub, wenn ein kleiner Wirbel von irgendwo jenseits des Straßengrabens einen frisch gesäten Acker aufgemischt hat. Bin ich froh, als endlich der ‚Ameisenhügel‘ von Codo am Horizont auftaucht. 12 bis 15 Kilometer langsam, kurbelnd, ächzend, Kodo der dritte aus der Sternenmitte singend. Niemand hört mich. So muss sich Irrsein einfühlen. Mal bin ich Clint Eastwood in dem Western, der im Showdown zu Dritt auf einem Friedhof endet.

Ein Mann bückt sich vor einer langen Mauer, aus der ein Brunnen entspringt.
Trinkwasserbrunnen in jedem spanischen Dorf. Hier in Organya.

In Codo laufe ich den örtlichen Trinkwasserbrunnen an. In jeder spanischen Siedlung gibt es mindestens einen Ort, ein Brunnen, oft auch einfach ein Wasserhahn, an dem man sich mit Trinkwasser versorgen kann. Weiter weiter weiter. Belchite sechs Kilometer. Gegen Abenddämmerung durchquere ich das neue Blechite, das nach der Schlacht im Sommer 1937 errichtet wurde. Die alte Siedlung wurde als Mahnmal belassen: Seht nur, was der Krieg anrichtet! Ein Ensemble zerschossener, ausgebombter Häuser, mehrere Kirchen, Brunnen, Marktplatz. Würde mich interessieren, wieviel Blei verschossen wurde während der etwa zwei Wochen andauernden Kampfhandlungen. Wieviel Gemetzel. Wieviel Hass, wie wenig Erbarmen. Man sagt, es wurde niemand verschont. Es gab nur noch das Töten oder den eigenen Tod. Auf beiden Seiten des wirren Kriegs. In den letzten Sonnenstrahlen schimmert die Häuserlinie der Ruinen rötlich. Vorbei am Besucherzentrum folge ich entgegen dem Uhrzeigersinn einem Weg entlang es Zauns bis zur Gegenüber liegenden Seite, wo ich in den Google Maps einen Wildzeltplatz ausgespäht hatte. Als könnte man durch schlichtes Umrunden des Mahnmals die Zeit zurückdrehen.
Ich bin normalerweise sehr vorsichtig, was Wildzeltplätze angeht. Diesen hier nehme ich ungesehen hin. Eine kleine Schutthalde zwischen Einzäunung und der nahen Landstraße, ein Gehöft, Hundgebell und Straßenrauschen dominiert von der Iglesia de San Martin de Tours.

Das ist kein Wildzeltplatz. Das ist eine Sakristei.

Hier und Jetzt, Ostermontag, 13. April 2020. Spanien unbereisbar. Frankreich unbereisbar. Deutschland, ganz Europa. Grenzen allüberall. Ich räume das Atelier auf, dringend nötig, überlege, wie ich die Ausstellung gestalte, obwohl niemand sie sehen wird. Aber ich bin es mir selbst schuldig, eine Atelierausstellung zu machen. Nachts hatte ich geträumt, mit Freund QQlka ein paar Bilder an den Außenwänden unterm Vordach aufgehängt zu haben. Zwischen Brennholzanhängern, Schrotthaufen, Kunststoffmüll und platten Schubkarren. Im Aufwachen reif ich, inspiriert wie Wickie, Ich habs! Wir behängen die ganze 50 Meter lange Wand mit Kunst und machen vorm Hoftor einen Aussichtspunkt, von wo die Leute mit Fernglas die Ausstellung anschauen können.
Mein Bett ist der trostloseste Ort des ganze Planeten. Trostlos. Ohne Trost. Gibt es überhaupt noch Orte? Wirres Zeug, das einem den Tagesstart bereitet. Surreales Lunchpaket deiner Nachtträume.

Und die beiden Zweibrücken-Andorras? Langsam merke ich, wie ich mich aus den Reisen von 2000 und 2010 verabschiede, wie sie immer blasser werden und sich auf ihren Rückwegen verlieren im Nebel der Vergangenheit. Im Jahr 2000 bricht wildzeltend neben der Kreismülldeponie in Berg/Pfalz der letzte Reisetag an. Es ist der 13. Mai 2000. Im Jahr 2010 verbringen Frau SoSo mit dem Auto tourend vermutlich eine zweite Nacht auf dem frühsaisonleeren Campingplatz in Sankt Pere Pescador. Frau SoSo berichtet im Rückspiegel über das Abenteuer.


Den Artikel vom gestrigen Tag 27 liefere ich im fertigen Buch nach; er erfordert etwas Recherche und Fingerspitzengefühl.

Mein schöner, gemütlicher Vampirsarg | #zwand20

Schnurgerade ungeteerte Straße durch kahles, flaches Land unter dunkelblauem, leicht bewölktem Himmel. Darauf ein Hund.

Ostwind pfeift durchs Schloss. Langsam dreht die Morgensonne. Die Schatten-Sonnenkante nähert sich meinem Schlafsack. Wie so ein Vampir, denke ich. Der Schlafsack mein Sarg. Gleich zerfalle ich zu Staub.
Blick auf die bröckelnde Wand, auf der sich deutlich die Karte Nordamerikas abzeichnet. Der abblätternde Putz sieht aus wie Kanada, USA, Mexiko, ganz Mittelamerika bis runter nach Kolumbien, ganz am Boden, wo ich die kalten Füße im Schlafsack aneinander rubbele. Es ist nicht sonderlich kalt, aber der Wind nagt an Allem, durchdringt jede Pore. Normalerweise hätte ich das Zelt aufbauen müssen, aber ich war, nach der gestrigen Hammer-Etappe zu müde, um noch irgendetwas zu machen außer Matte ausrollen und mich in den Schlafsack mummeln (okay, zum Abendessen gab es noch ein Viertel Wein aus einer etikettenlosen Flasche, die bei einem Hofverkauf in den Außenbezirken von Zaragossa ins Netz ging).

Eigentlich eine wunderbare Etappe gestern. 106 Kilometer verzeichnet der Tacho.
Frühmorgens das trostlose, neue Belchite durchquerend, trieb mich der Südoster, so nenne ich den Wind in dieser flachen, staubigen Gegend, stets nordwärts. Mit Fragen zur Wunde, zur Vergangenheit, zum neuen Ort Belchite und wie die Menschen, drei Generationen nach der Zerstörung der Stadt ticken, kurbele ich mantrisch … ich werde diese Menschen wohl nie verstehen. Die, die das heutige Belchite bewohnen nicht. Die, die im alten Belchite ihr Leben ließen nicht; die, die auch heute noch hassen und provozieren und kämpfen schon ganz und gar nicht. Nicht die eine Seite der Schützengräben, noch die andere, noch gar mich selbst, der ich zwischen den Schützengräben umher irre wie ein traumatisierter Junge, der sich ein apokalyptisches, mittelalterliches Gemälde anschaut. Ein Bosch im Kopf des apokalyptischen Radlers.

Herrjessas! Da hat wohl einer zu viel Krieg abbekommen in den letzten Tagen? Segre abwärts radelnd vom Dreißigjährigen Krieg über den Spanisch – Französischen Krieg bis zum Ebro, mitten rein in den spanischen Bürgerkrieg des zwanzigsten Jahrhunderts und nun nordwärts zu den Grenzen des ehemaligen maurischen Reiches … überall fand ich Grenzen und Spuren vergangener Konflikte.
Ab Puebla d‘ Alborton erreiche ich geteerte Straßen, kleine, sich schlängelnde Etwasse, von denen ich gar nicht so recht verstehe, warum sie sich schlängeln. Die Gegend ist flach, durchsetzt von sanften Hügeln, kein Wald und auch so kaum bewachsen. Karges Ödland, durchwirkt von ab und zuen unheimlichen Gemäuern: Viehställen? Lagern für Getreide? Und künstlich zum Leben erweckten Feldern. Dung und Wasser, Diesel und Dust. Mit Midnight Oil Songs im Ohr erreiche ich Zaragossa gegen Mittag. Moloch. Irgendwie gelingt es dennoch, mich auf Seitenstraßen in die Stadt zu schleichen, durchs innenstädtische Gewirre unbeschadet den streng bewachten maurischen Palast zu erreichen, in dem sich ein Museum und das Aragonische Regionalparlament befinden. Überall finster drein blickende Polizisten, wie abschreckend, aber als ich aufs Telefon zeige und eine Knipsi-knipsi Geste mache, nickt der dicke Polizist freundlich, seguro, seguro Tourist, mach Du nur. Ausruhen im Park hinter dem ehemals maurischen Palast. Die Aljaféria ist nicht besonders schön, finde ich. Einzig die Ornamente an dem nahezu quadratischen Bau, die haben etwas. Zum Besichtigen habe ich im Stadtgetümmel keine Lust. Ich bin unruhig wie der Ostwind, der auch vor der Stadt nicht Halt macht. Im angeschlossenen Park auf einer Wiese lungern tut der Seele ohnehin besser, als sich touristischer Zwangshandlungen zu unterwerfen. Und überhaupt. Der Palast hat tausend Jahre durchgehalten, da wird er wohl noch ein paar weitere Jahrzehnte schaffen, in denen ich die Chance habe, zum Beispiel als Rentner auf Städtereise einmal zurückzukehren.
Nach einer Stunde Großstadt-Inhalat, rolle ich runter zum Ebro, über die Puente de Santiago nordwärts, durch trostlose Außenbezirke. In einem kleinen Markt kaufe ich Lebensmittel und eine Zweiliter Wasserflasche. Ein bisschen erinnert mich die Passage an León. Unheimliche Bauruinen, Schutt und zertrümmerte Fenster flankieren den Weg … nein, nicht ganz so verwahrlost wie das León des Jahres 2010, als ich auf dem Jakobsweg westwärts wanderte. Vielleicht liegt es auch an der Geschwindigkeit? Mit dem Fahrrad hat man weniger Zeit, sich auf das Detail zu konzentrieren, ist ruck-zuck an einer Graffiti versprayten Mauer vorbei. Zu Fuß ist man andächtiger, aufmerksamer. In León, erinnere ich mich, tauchte ich tief ein in die Ruinen verlassener Autohandlungen, ihre einst so glänzenden Schaufenster.

Auch ist dies eine andere Zeit. Der Beginn der Pandemie, die Weltrezession befindet im Anfangsstadium, im Gegensatz zum León des Jahres 2010, in dem der Prozess des Niedergangs nach der Finanzkrise schon weitgehend abgeschlossen war.

Weites, freies Land ab Villanueva de Galego. Ich folge der A 102 (A steht für Aragón, also äquivaltent einer deutschen Landesstraße) in die Abenddämmerung. Passiere militärisches Sperrgebiet. Hier wildzelten? Ich bin doch nicht verrückt. Man könnte mich für einen Spion halten. Ein James Bond in Lumpen. Nicht geschüttelt, noch gerührt. Der Wind flaut ab, dreht sich, bläst mich nordwärts. Auf der Karte habe ich das Castillo de Sora (Wikilink) ausgemacht. Noch gut 25 Kilometer. Stunde Fahrt. Ich brauche Schutz. Ich will eine Burg. Mit flachen Landen kommt mein Gemüt nicht so gut zu recht. Wenn ich in all den Jahren nicht Flachland geübt hätte, würde ich hier verzweifelt im Straßengraben liegen bleiben. In Gedanken tapeziere ich mein Zimmerchen, das ich heute Nacht im Castillo (Videolink) beziehen werde. Wikipedia gibt nicht allzuviel her über das Schloss. Außer, dass es eine Ruine ist und auf einem Berg liegt.

Soras Burg ist eine mittelalterliche Festung, die zu einem Ort von kulturellem Interesse erklärt wurde und sich in der Region Cinco Villas in der Provinz Saragossa befindet. Die Burg, etwa 4 km von der Stadt Castejón de Valdejasa entfernt, wurde auf dem sogenannten Guarizo-Berg erbaut, einem Punkt von großem strategischem Wert, da Sie von seiner Höhe aus eine große Ausdehnung des Landes sehen können, das sich von den Vorpyrenäen aus erstreckt im Ebro-Tal, einschließlich der fruchtbaren Ebene des Flusses Arba und des aragonesischen Abhangs der Bardenas Reales im Westen. Früher wurde diese enorme Sichtbarkeit durch die Verwendung einiger Wachtürme oder optischer Türme, die günstig in Monlora (im Norden) gelegen sind, erheblich erweitert ), die Plana del Castellar (im Osten), Tauste (im Süden) und das Heiligtum von Sancho Abarca oder der Pico del Fraile (im Westen). Dieser erstaunliche Ort gab ihm außergewöhnliche Kontrolle über die Truppenbewegungen und Gefechte in der Nähe (automatische Übersetzung des spanischen Wikis).

Magisch angezogen radele ich in die Dunkelheit und keuche die letzten Meter über einen würdigen Mountainbike-Pfad aufwärts. Der Plan geht auf. Kein Mensch zu sehen, keine Autos, keine Motorräder, keine Mountainbiker, Wanderer oder sonstige Menschen. Ich bin alleine, schaue in die Weite, sehe die Lichter Zaragossas im Zweikampf mit den Sternen. In einem Gemäuer rolle ich meinen Schlafsack aus. Mein schöner, gemütlicher Vampirsarg.

Zweibrücken, 14. Mai 2000. Ich bin zurück. Zweibrücken-Andorra ist Geschichte. Die Reise, die ursprünglich bis nach Gibraltar hätte führen sollen, endet nach 29 Tagen auf dem Rad. Gut 3000 Kilometer stehen auf dem Tacho. Dank des Missgeschicks, die Bankkarte zu Hause vergessen zu haben, geriet die Tour zur Low Budget-Reise (ich meine, mich zu erinnern, dass ich insgesamt 600 DM ausgegeben hatte; müsste es nachprüfen. Durch spätere Betrachtungen und Euro-Umrechnungs-Verwirrung könnte es auch eine andere Summe gewesen sein).

Cadaques, 19. Mai 2010. Frau SoSo und ich erwachen auf dem von Katzen beherrschten Campingplatz in Cadaques. Sogar im Cola-Automat lebt ein Wurf junger Katzen. Die Stadt trieft vor bettelnden Streunern, die teils in erbärmlichem gesundheitlichen Zustand sind. Der sandige Campingplatz erweist sich als gigantisches Katzenklo. Zelten nicht zu empfehlen. Noch monatelang liegt der Geruch von Katzenpisse im Europenner-Zeltchen. Was soll ich sagen: Man gewöhnt sich daran. Und: Der Geruch vergeht nach sehr langer Zeit des Lüftens.

15. April 2020. Gras gemäht. Garten gegossen. Sechs Eier der jungen Hühner, die ich zu Beginn der Pandemie ‚gehamstert‘ habe. Zum Schreiben muss ich mich momentan zwingen. Am meisten Freude bereitet die Wikipedia- und Streetview-Recherche der mutmaßlich bereisten Strecke. Es ist erstaunlich, wie gut man sich ein Bild machen kann vom großen Waswärewenn.

Wenn ich am Computer sitze und mich in der Recherche festbeiße, geht es zum Glück recht leicht von der Hand mit dem Schreiben. Ich sollte wieder nachts um vier Uhr aufstehen. Die Erfahrung zeigt, dass es, in die Morgendämmerung hinein schreibend, am Besten läuft.
Ich bin angespannt, verspannt, war seit letzten Mittwoch nicht außer Haus. Ich könnte Urlaub brauchen. Einen langen, skandinavischen Autotour-Hochsommer-Urlaub mit Frau SoSo.

Die übrigens im Rückspiegel des Jahres 2010 Folgendes zu berichten hat.

Freund Journalist F. ist noch immer im Krankenhaus, mittlerweile wurde er in ein Vierbettzimmer verlegt mit ‚äußerst seltsamen Mitbewohnern‘ sagte er. Heute werde ich Wäschewaschassistenz leisten und ein bisschen einkaufen für mich.

Die Punkte auf der Projektkarte folgen mittlerweile der neuen Reise. Die Route ist in der Ebene Supplement 2020 zu finden.

Langsam trenne ich die Nabelschnur zur Vergangenheit der beiden Zweibrücken-Andorras. Es fühlt sich gut an. Fast wie ‚echt‘ reisen. Etwas Neues hat begonnen.

Ich hoffe, dass ich das Castillo de Sora einmal sehen werde.

 

 

Vom Schreiben, Gärtnern, Hühnern, Schnittlauchquarken | #zwand20

Prächtiger Birnbaum in voller Blüte vor leicht bewölktem Himmel

Rein in den Künstlerstollen. Spät bin ich wach am heutigen Morgen. Zweibrücken, 16. April 2020. Am gestrigen Tag legte sich die unheimliche Anspannung die sich in den vergangenen Tagen in Form von Rückenschmerzen bemerkbar gemacht hatte auf wundersame Weise. Man ist ja in dieser Zeit stets froh, wenn die Wehwehchen schnell und ohne Verschlimmerung von selbst wieder verschwinden. Nicht auszudenken, man müsste zum Arzt, zur Physiotherapie, wäre sonstwie auf mitmenschliche Hilfe angewiesen, die ohne Nähe nicht auskommt.

Ich habe es tatsächlich geschafft, eine ganze Woche nicht aus dem Haus zu gehen. Keine Menschen zu sehen. Aerolsofreie, klare Frühlingsluft, Vogelzwitschern und jede Menge Arbeit rund ums Haus. Der Garten ist unendlich trocken. Trotzdem wächst was wachsen will. Die Obstbäume blühen prächtig. Weiß über Grün unter meist blauem, klarem Himmel. Wie sage ich scherzend: Das einsame Gehöft ist das Paradies, im Sommer. Und im Winter ist es die Hölle! Die zugige Künstlerbude entspricht wahrlich nicht den Standards, die der moderne Mensch für Wohlfühlwohnen annimmt. Es gibt keine Zentralheizung. Die Fenster sind uralte Dinger vom Sperrmüll, die irgendwer aus der Verwandtschaft einmal in der Scheune lagerte unter dem Motto, könnte man ja nochmal brauchen. Ich musste nur die imrovisierten Dachlattenrahmen mit festgenagelten Düngermitteltüten, die im Rohbau der niemals ganz fertig gewordenen Stallung die Fenster ersetzten, rausnehmen und die alten, zugigen Fenster einbauen. Die beiden Dachfenster sind durchsichtige Polyesterplatten. Im Winter gibt es nur einen etwa 16 Quadratmeter großen, beheizbaren Raum. Bei Frost kommt das Wasser aus einer Tonne neben dem WC. Immerhin.

Zwischen Europennerzelt, das schon an jensten Orten kreuz und quer in Europa stand und der heimischen Künstlerbude ist nur ein geringes Komfortgefälle. Vielleicht fühle ich mich deshalb auf der Straße wie zu Hause. Ich habe die große Traversée (Zweibrücken-Andorra) durch Frankreich in den Jahren 2000 und 2010 einmal als mein riesiges, längliches Wohnzimmer bezeichnet.

Die Sache mit dem länglichen Ort, der das eigene Wohnzimmer ist, beschäftigt mich schon Jahrzehnte. Hier ein halb fiktiver Artikel aus dem Jahr 2006.

Ich unterbreche mein Schreiben, spaziere im Garten. Bin konfus. Dieser Artikel läuft mir ziemlich schräg. Ich zeige mich selbst in echt und in Farbe im Hier und jetzt der Pandemie, die mich in den heimischen Bürostuhl zwingt. Mich dies alles schreiben lässt, mich in eine Rechercheposition nötigt. Mich zum Karten- und Erinnerungsreisenden macht.
Der längliche Ort, den ich schon im Jahr 2000 skizzierte ist vielleicht einer der Schlüssel für mein Leben. Ich lebte nie ’stationär‘, wie man normalerweise lebt als Mensch. Verortet. Ab und zu ein Umzug, bedingt durch die Arbeit, die Liebe oder weil man flieht vor unbequemer Lebenssituation.
Der Künstler lebt und arbeitet in Berlin, London und Bad Schießmichtot. Es ist zum Gähnen, dass in den klassischen Künstlervitae fast immer ein Berlin, London, Mailand oder New York, gepaart mit einem bedeutungslosen Ort im Niemandsland dieser großen Welt vorkommt. Als ob man die Vita dadurch aufwerten würde, dass man mal in London in der Jugendherberge ein Aquarell in sein Skizzenbuch gekritzelt hat und dadurch dort lebte. Naja, der längliche Ort ist auch nichts anderes. Die meiste Zeit verbringe ich wie jeder Mensch zu Hause. Kleine Nonamestadt neben dem Saarland, zugige Bude, Garten … während ich vorhin den Text unterbrach, habe ich die jungen Pflanzen gegossen, ein bisschen Schnittlauch und Petersilie geerntet für einen Kräuterquark, den es gleich zum Frühstück gibt. Nun wieder an den Tasten. Ich weiß nicht, ob dieser schräge Ausflug in den stinknormalen Alltag etwas in diesen Blogtexten zu suchen hat. Immerhin radeln wir doch zusammen durch Spanien!

Vielleicht muss ich mir auch ab und zu die Blöße geben als Autor? Die Ratlosigkeit wie es weitergehen könnte, obwohl doch der Weg vorgezeichnet ist?

In der Karte zeichnet sich der Kurs nordwärts deutlich ab. Auf halbem Weg zwischen Zaragossa und Pamplona ist die Marke des letztnächtlichen Lagerplatzes, Reisetag 30, eingezeichnet. Beim Eingang zu einem Tunnel eines Kanals, dem ich den ganzen gestrigen Tag folgte.

Seit Jahrzehnten des Reisens sinniere ich manchmal, wann ich wohl die trostloseste Tagesetappe absolvieren werde, bzw. absolviert habe und ob es Trostlosigkeitssteigerungen bis ins Unendliche geben kann. Im Jahr 2010 gab es auf dem Jakobsweg eine Etappe, die der maximalen Trostlosigkeit ziemlich nahe kam. Siebzehn Kilometer schnurgerade bei dichtem Nebel mit Sichtweite um 50 Meter. Eiskalt. In der Mitte der Strecke ein einsamer Baum. Trostlos war auch die Champagne (der nördliche Cerealienteil der Champagne) des Jahres 1996, den wir weitestgehend bekifft und umso intensiver tristessierend durchradelten. Und die Gegenwindpassage im Süden Islands auf einen einsamen Berg hinzu, der nicht und nicht näher rücken wollte … am gestrigen Tag zeichnet sich zwischen Eijea de los Cablleros und Sádaba ein knapp zwanzig Kilometer langes schnurgerades Stück Landstraße ab. Die A-127 führt durch absolut flaches Landwirtsland nordwestwärts. Ein Gemütskiller par Excellence. Die gestrenge Flache der Frau Natur, die gestrenge Hand der Frau Mama. Muss ich da durch? Zwanzig Kilometer, bei Ostwind, gut machbar für den Körper, aber der hungrige Geist, der sich nach züngelnden Kürvlein sehnt? Nördlich zeichnet sich eine Hügelkette ab. Die Karte hält ab Eijea eine schmale, etwas kurvigere Nebenstraße bereit. Die probiere ich aus. Wenn es mir zu anstrengend wird, ich nehme den Wind quer, statt auf der A-127 von hinten rechts, kann ich immer noch angekrochen kommen und mich über einen Feldweg zurücktreiben lassen zur Hauptstraße. Es ist im Grunde wie Segeln, ein kluges Spiel mit dem Wind, das ich hier treibe. Also nordwärts über die kaum vier Meter breite A-1204. Ich peile den Stausee von San Bartolomé an, der sich als eine Art Rückhaltebehälter in flachem Land entpuppt. Gute Wahl. Ein bisschen Kurventrost und kaum befahrene, geteerte Landstraße.

Eine geradezu perfekte Wahl, um die Gegend zu verstehen, um zu erkennen, wie es funktioniert. Es handelt sich nämlich bei dem Stausee um ein  Wasserreservoir, von dem aus sich diverse Bedarfskanäle durch das weite Areal aus Feldern zieht. Kanäle, die geflutet werden können. Vermutlich steckt dahinter ein ausgeklügeltes System der Wasserverwaltung. Jeden dieser Kanäle – sie heißen Acequia – begleitet ein zwar nicht geteerter, aber durchaus gut radelbarer Weg. Es ist wie ich es vor Tagen einmal geschrieben habe, wie durch eine ewig lange, geschotterte, nordschwedische Baustelle radeln. Staubige Angelegenheit hin und wieder.

Eine Acequia (spanisch: [aˈθekja]) oder Séquia (valencianisch: [ˈsɛkia]) ist ein von der Gemeinde betriebener Wasserlauf, der in Spanien und ehemaligen spanischen Kolonien in Amerika zur Bewässerung verwendet wird. Insbesondere in Spanien, den Anden, Nordmexiko und dem heutigen amerikanischen Südwesten sind Acequias normalerweise historisch angelegte Kanäle, die Schneeabflüsse oder Flusswasser zu entfernten Feldern befördern. Es kann sich auch auf den langen zentralen Pool in einem maurischen Garten beziehen, wie dem Generalife in der Alhambra in Süd-Iberien. (Übersetzung aus einem englischsprachigen Wiki)

Der Begleitweg des Acequia de San Bartolomé fährt sich gut. Der Kanalist an diesem Tag leer. Kein Wasserbedarf für die umliegenden Felder? Beim Abzweig am Canal de Bárdenas biege ich links ab, habe wieder Teer unter den Reifen. Der Kanal, Mutter der Acequias, der aus den Pyrenäen im Yesa-Stausee hierher führt, speist auch das Reservoir von San Bartolomé. Ich habe es mit einem ausgeklügelten Bewässerungsnetzwerk zu tun, fahrbare, ruhige Radlerstrecken inklusive. Das lehrt mich einmal mehr, dass es nicht immer der gerade, schnelle Weg sein muss, der einen auf Reisen voranbringt. Die arme, durstige, nach Input sehnende Künstlerseele lebt nicht vom Vorankommen alleine, ja, und vielleicht sind es auch gerade die Katarakte, die das Leben einem mirnichts dirnichts bereit stellt, die einen nähren. Es ist jedenfalls eine geradezue Lust, an dem grünlich bis türkis schimmernden Gewässer entlang zu radeln. Meist ruhig dahintreibend, muckt das künstliche Flüsschen ordentlich auf, wenn es in kataraktischer Manier in eine der geöffneten Acequias geleitet wird. Der Ostwind tut sein Übriges.

Mann, Mann, Mann, wie einfach kann das Leben sein, im Krummen die Direkte zu finden. Höchst entzückt von meiner Wahl und dem frisch entdeckten Weg folge ich dem Kanal bis Sádaba. Welch Kleinod! Das Dörfchen mit kaum 1500 Einwohnern breitet sich zu Füßen einer wuchtigen, fast quadratischen, sehr gut erhaltenen Burg aus. Sieben Türme, im Stile der Ritterorden gebaut, wurde sie nach der Rückeroberung von den Mauren errichtet.

Am gestrigen Tag finde ich im Kargen das Besondere. Ich glaube, es handelt sich um das Serendipitätsprinzip. Vielleicht ein Grundpfeiler dieser Reise? Finden ohne Suchen.
Hatte ich morgens nicht viel – ach was, eigentlich gar nichts – erwartet außer Staub und geradeaus, lege ich mich abends mit einem reich gefüllten Korb an Bildern ins Europenner-Zelt. Das habe ich übrigens ganz stilvoll direkt neben dem Canal de Bárdenas aufgestellt. Vorm Schlund des Tunnels namens La Loma unweit des Örtchens San Isidro del Pinar.

Die beiden Zweibrücken-Andorras? 2000 Tag 30. Die postreiserische Depression, sich wieder in den heimischen Alltag zurück finden, ergreift mich.

2010 haben Frau SoSo und ich die Pyrenäen überquert (per Auto, natürlich) und uns in Argeles-sur-Mer auf dem Campingplatz einquartiert. Sie berichtet hier im Rückspiegel. Bemerkenswert an diesem Tag, ab Cadaques nordwärts tourend, war das Denkmal für Walter Benjamin in Portbou.

Und hier auf dem Bürostuhl? Schreiben, Gärtnern, Hühnern, Schnittlauchquarken.

Ende | #zwand20

Drei Tage nicht geschrieben. Die Tour ist beendet. Es hat keinen Sinn, zu versuchen, den Motor neu zu starten.

Faszinierend, welch eigenartige Worte sich in den Notizen zur Ruine des Castillos de Sora finden.

Hier will ich für immer bleiben. Ich bin eine Ruine von Mensch.