Paradigmenwechsel, so will ich es einmal nennen | #zwand20

Eine karge Burgmauer mit Turm und Zinnen links und einem zinnenlosen Turm rechts.

Was für eine Reise! Morgens noch bettschwer trifft mich die derzeitige Situation mit Wucht. Du gehst von Quarantäne zu Quarantäne. Tagelang ohne Menschkontakt, frische Frühlingsluft zur Nöche. Zur Selbstgenüge. Fast ist es wie der ruhige Tritt des Langstreckenradlers im ewigen Rund der Kettenblätter. Die Welt scheint schön zu sein. Sie könnte schön sein. Sie ist schön, aber … und wie man weiß, steht hinter dem Wörtchen ‚aber‘ immer der Kern der Botschaft. Die ganze Wahrheit. Du bist Schrödinges Patient, nicht krank, noch gesund. Wenn die Isolation nicht von Dauer ist und man sich in regelmäßigen Abständen unter Menschen begeben muss, frischt sich die Möglichkeit, an Covid19 zu erkranken wieder und wieder auf. Sisyphosesk. Einmal wöchentlich frische ich diese Möglichkeit auf.

In den Tagebüchern der beiden Reisen 2000 und 2010 meine ich, einen Paradigmenwechsel zu erkennen. Führte mich der Weg im hastigen Takt vor 20 Jahren noch auf schnellstem Weg nach Andorra (die Reise dauerte nur 17 Tage), beginne ich ab etwa Tag neun/zehn/elf, während der Reise 2010, mich zu verlangsamen. Das ist, soweit ich es lese, den Umständen der Reise zu verdanken. Begegnungen mit Menschen. So wichtig. So elementar das ‚Futter‘ an Geschichten das man unweigerlich zu sich nimmt, sobald man mit Menschen in Kontakt kommt.

Blick vom Berg auf eine dreieckige Flussinsel. Ringsum grüne bewaldete Klippen und Hügel
Blick von Schloss Essalois auf das Château de Grangent auf der Íle de Grangent in der Loire.

Wie es so ist beim Reisen. Ein freundlicher Gruß löst ein Gespräch aus.  [Zwei] Damen mit Pudel stiegen […] die Treppe vor der Kirche in Chambles herab, Marie-Claire und in ihrer Obhut eine alte Dame, die sie betreut. Marie-Claire fragte, fast empört, ob ich Essalois gesehen habe. Ein Muss! [Ich hatte das Hinweisschild auf das Château unterwegs gesehen, den Weg abwärts in die Sackgasse Richtung Loire jedoch gescheut. Die Gegend ist wirklich sehr hügelig]. Chambles liegt auf dem lokalen Hochpunkt meiner Route, 635 Meter ü. d. M. M.-C. schlug vor, mich im Auto mitzunehmen bis zum Château. Sie müsse mit der Dame noch etwas erledigen, derweil ich mir doch den abenteuerlichen Turm in Chambles ansehen könne. Danach würden wir uns treffen.

Eine steile, hölzerne Wendeltreppe in einem Turm
Treppe im Turm von Chambles

So kommt es, dass ich kurze Zeit später in einem blauen Mégane auf der Rückbank hocke und wir die etwa fünf Kilometer zum Schloss fahren. Wir reden französisch. Ich verstehe vieles. Marie-Claire redet langsam und in einfacher Sprache. Sie gibt etliche Geschichten zu den drei Schlössern südlich von Roanne preis. Die Burgen beherrschten das flache Land Loire abwärts. Früher waren sie strategisch wichtige Positionen zwischen dem Plateau von Chambles und dem Unterlauf der Loire. Nun ist das alte Schloss Essalois aber ein Ruine. Riesiger Parkplatz vor der Sehenswürdigkeit. Wir steigen auf den Turm, der ebenso bizarr und abenteuerlich ist wie der in Chambles. Für deutsche Verhältnisse, so vermute ich: Wahrscheinlich wäre er gesperrt, weil die Treppen nicht die Sicherheitsbestimmungen erfüllen.

Hier, hundert Kilometer nördlich der für ihre Vulkane bekannten Auvergne, befindet sich auf einem markanten Brocken, der einst aus den Vulkanen geschleudert wurde, ein Kloster, erzählt M.-C. Ich notiere mir das ins Tagebuch mit dem Vermerk, es unbedingt bei der nächsten Reise zu besuchen (leider steht im Buch nicht, wie das Kloster heißt. Ich erinnere mich, dass Marie-Claire es mir vom Turm aus zeigte).

So weit, dass ich mich auf die Suche nach dem Kloster auf dem mysteriösen Vulkanfelsen begeben könnte, ist es nun leider nicht gekommen. Erstaunt stelle ich beim Lesen der Zeilen fest, dass ich schon vor zehn Jahren die Absicht hatte, die Reise zu wiederholen.

Man könnte sagen, auch zwischen 2010 und heute, 2020, liegt ein Paradigmenwechsel, eine einschneidende Veränderung meiner Art zu leben, zu reisen, die Welt zu betrachten. Wenn auch vom Schicksal aufgenötigt.

Eine bürgerliche Kaufmannsfigur aus bemaltem Holz auf einem Sockel vor der Naturstein-Kirchenwand
Figur in der Kirche in Chambles.

Löste ich mich im Jahr 2010 ab Tag zehn der Reise vom Leistungsgedanken, so schnell wie möglich so viel wie möglich zu erleben, verabschiede ich mich nun im Jahr 2020 davon, überhaupt vorankommen zu wollen, gar überhaupt etwas erleben zu wollen. Geradezu demütig ertrage ich den Lauf dieser Zeit, in dem ich keinerlei Handlungsspielraum habe, zumindest physisch; ein Lauf der Zeit, in den ich nicht eingreifen kann in den Verlauf meiner ‚Reise‘. Der Lauf dieser Zeit scheint so mächtig – fast wie ein reißender Fluss – dass es das Beste scheint, überhaupt keine Anstrengung zu unternehmen (zumindest im Außen), um etwas zu ändern.

Wir befinden uns nun im Kern der Tour 2000. Von Le-nouveau-Monde am Fluss Allier werde ich an diesem elften Reisetag ansetzen zur Königsetappe. Ich hatte diesen Abschnitt so getauft, weil er über drei markante Anstiege mit anschließenden rasanten Abwärtsfahrten den Mont Lozère überquert. Am Ende dieses elften Reisetags sollte ich im Jahr 2000 die Tarnschlucht bei Le-Pont-de-Montvert erreichen. 2010 schalte ich ein paar Gänge zurück und bummele, Paradigmenwechsel sei Dank, Loire aufwärts bis Vorey-sur-Arzon.

Der Blogartikel taucht in der Karte des Projekts heute beim Schloss Essalois auf.

 

 

Fern | #zwand20

Eine einsame, schmale Straße in grüner, wolkenverhangener Landschaft. Links im Bild ein Reiserad.

Fern. Das trifft es. Mit dem Wort ‚Fern‘ bin ich heute früh gegen halb fünf aufgewacht. Die Künstlerbude ist im voranschreitenden Frühling nun schon so angenehm temperiert, dass man, wenn man aus dem Hochbett klettert, runter in die Zone, die ich als Arktis bezeichne, nicht sofort den Holzofen anschüren muss. Ich konnte mich direkt an den PC setzen, nachdem ich das Kaffeewasser aufgesetzt hatte. Mails checken und die neuen Kunstwerke, die abends für unser Col-Art-Kunstprojekt eingetrudelt sind in die Galerie einfügen. Wow! Die Beteiligung weltweit ist großartig. Nach nur drei Tagen sind schon über zehn Arbeiten eingegangen.

Der Mittelpunkt Frankreichs liegt, je nach dem, ob man Korsika einbezieht, in den Orten Nassigny im Departement Allier oder Vesdun, Departement Cher. Meine Route von Zweibrücken nach Andorra führt etwa 100 Kilometer östlich an diesen beiden Punkten vorbei.

Das Wörtchen Fern kann auf Fahrradtouren vielerlei Bedeutungen haben. So kann etwa ein angepeilter Etappenort ziemlich fern sein, wenn man vergessen hat, das Höhenprofil der Strecke anzuschauen. Drei Kilometer bei 12 Prozent Steigung, Regen und Gegenwind kurz vor der Dämmerung machen einen Ort in Windes Eile sehr sehr fern. Ferne kann aber auch zum Grundgefühl werden. Dann, wenn du beginnst, dich nach Hause zu sehnen,  emotional festgefahren zwischen Start und Ziel der mehrwöchigen Reise. Dieses Gefühl erzeugt ein mächtiges Begehren, den Zustand ‚kleiner Mensch kurbelt mit Schweißeskraft tagelang in die und die Richtung‘, sofort zu beenden. Plötzlicher Lustverlust. Sinnfrage. Was mache ich, was soll ich hier, trotz bester Routenplanung keine Ahnung wie es weitergehen soll. Am Liebsten würde man im Straßengraben umfallen und einfach liegen bleiben wie eine Pfanddose.

Ich meine, mich zu erinnern, dass Freund QQlka 1995, als wir durch Lappland radelten, in der Hoffnung, irgendwann das Nordkap zu erreichen, in einer dieser Phasen einmal sein Fahrrad hoch nahm, aufbrausend wie ein Jahrmarktsringer und es mitsamt Gepäck auf den Rand einer dieser typischen, riesigen Mülltonnen stemmte. Die gut drei Meter durchmessenden Müllbehälter an den Rastplätzen der menschenleeren nordischen Straßen sind riesige Löcher, in  denen entsprechend große, stabile Plastikmüllsäcke hängen. Als das Radel so auf dem Rand der Tonne stand, ohnehin nie und nimmer durch die enge Öffnung der mit Holz umrandeten Tonne gepasst hätte und ich ‚Halt ein‘ rief, brachen wir beide in ein verzweifeltes Lachen aus. Feiner Nieselregen aus tiefhängenden Wolken, breiartiger Wind aus Nordost, ein Vogelbeobachtungsturm. Fern die nächste Stadt und ebenso fern die, die wir vor ein paar Stunden verlassen hatten.

Ein Parkplatz. Nun abwärts, zurück ins Loire-Tal. Auf der gegenüber liegenden Flussseite rauscht eine Eisenbahn. Die Verbindung Roanne – Le Puy? Daneben eine Straße. Fast bin ich dankbar für die regnerische Stimmung. Es erinnert mich an den Kapschnitt 1995. QQlka und ich. Vier Wochen Sonne unter skandinavischem Hoch. Plötzlich, Mitte August, drehte das Wetter. Mitten in Lappland. Regen und Kälte. Aber anders als hier und heute, läutete das den Herbst ein. Mückensterben, Vergehen allüberall, Nächte bei -4 Grad, Tage kaum wärmer als zehn. Wie ich auf dieser Reise schon öfter an den Norden gedacht habe. Schon als es auf Dijon zuging vor ein paar Tagen. Plötzlich überfällt einen ein Geschmack, berührt einen ein Geräusch, holt dich ein Geruch aus dem Trott und du baust eine Brücke von dieser, jetzt gelebten, Realität zurück in eine ganz andere, längst vergangene Realität. Als spielte Zeit keine Rolle. Die Loire rauscht. Ein Moped schneidet vorbei. Nur wenige Autos auf der gewundenen kleinen Straße. Ein paar Kleinlaster, die Waren zu den umliegenden Supermärkten bringen. Ich könnte mir ein schönes Leben als Lasterfahrer in dieser Gegend vorstellen … [geschrieben während einer Rast zwischen Aurec und Bas-en-Basset, 30. April 2010]

Tag elf der Reise 2010 war ein Gemütskiller. Vom Nachtplatz in Aurec radelte ich nicht allzu weit. Im mantrischen Kurbeln verfing ich mich in melancholischen Gedanken, die aufreibend, krafträuberisch gemeinsame Sache machten mit den anspruchsvollen Aufs und Abs des immer enger werdenden oberen Loiretals. Ich quartierte mich abends für 9,30 Euro auf dem Campingplatz Les Moulettes in Vorey-sur-Arzon ein. Das elfte Nachtlager.

Ganz anders Tag elf der Reise zehn Jahre zuvor. Die Königsetappe.

Ein Fahrrad mit viel gepäck lehnt an einer steinernen Brüstung vor nebliger, mit Schneeplacken durchsetzter Berglandschaft.
Abwärts vom Mont Lozère Richtung Tarn. Archivbild aus dem Jahr 2010.

85,68 Kilometer bei einem Durchschnitt von 13,3 km/h. Etwa 1500 Höhenmeter (oder mehr), schätze ich. Ab Chappeauroux fährt man über eine kaum befahrene Straße das gleichnamige Flusstal aufwärts, bis sich sämtliche Bäche in den Bergen verlieren. Welch ein Idyll! Nach etwa 30 Kilometern muss man die N88 überqueren. Dann geht es in einer Berg- und Talfahrt über drei Pässe von 1300 bis 1500 Metern Höhe durch eine malerische Landschaft. Nachdem man das Massiv des Mont Lozère überquert hat, rauscht man auf gewundener, kleiner Straße vorbei an Granitbrocken durch eine Art Mondlandschaft bis ins Tal des Tarn. Der Col de Finiols dürfte mit knapp 1500 Metern der höchste Punkt der Etappe gewesen sein.

Und nun? Ich komme mir vor wie im Spagat, während ich in den alten Tagebüchern lese. Mehr und mehr klaffen die beiden Reisen auseinander, sowohl zeitlich als auch räumlich. Zwischen den Reisen 2000 und 2010 liegt nicht nur das Massiv des Mont Lozère. Zehn Lebensjahre liegen dazwischen. Ich bin Zeuge einer Mutation vom einen (längst vergangenen) Ich, das ich einmal war zum Ich 2010 (das ich auch einmal war). Zwei schwere Krankheiten, die ich überwinden musste, verlorene und gefundene Liebe … ich frage mich, ob es sinnvoll ist, in Zehnjahresabschnitten zu denken und zu klassifizieren. Lassen wir doch die Zeit als markierendes Element einmal außer Betracht. Sie ist doch sowieso nur eine von Menschen gemachte Maßeinheit, eine Art Richtschnur durchs Leben einerseits und ein Wertesystem, das seine grausame Macht erst entfaltet, wenn man die Leistungen eines Menschen, die er am Markt verkaufen muss, um über die Runden zu kommen, in Relation mit dem Zeitmaß setzt, auf das man sich geeinigt hat. Soundsoviele Stunden pro Tag, Tage pro Woche, Wochen pro Monat, Monate pro Jahr und schon hat man wunderbar den Wert eines Menschen berechnet. Die Zeit, das Geld, die Kilometer, die Lebensleistung, der Müßiggang, das eigene, arme, geschundene, kleine Hirn, das rattert und rattert und zwischen all den Markern, die die menschliche Gesellschaft geschaffen wie ein irritiertes Pelztier hin und her hechelt. Das Frettchen im eigenen Kopf, begehrtes Zuchttier … genug!

Die Tage vergehen wie im Nu. Ich habe aufgehört, Coronanachrichten zu lesen. Fernsehen, Radio und Zeitung habe ich zum Glück nicht. Informiere mich spärlich im Netz. Dass ich nicht am Ball bleibe und regelmäßig die Statistiken lese, hatte mir kürzlich einen Schrecken versetzt. Im Kopf hatte ich einen Wert von 19.000 für Deutschland gespeichert. Der aktuelle Wert lag plötzlich bei fast 50.000. Herz … Hosentasche. Mulmiges Gefühl.  Wenn man die Weltkarte mit den roten Kreisen ganz klein macht, ist sie knallrot. Ich verbringe die Zeit im Garten, spate und grabe, hege, hacke Holz. Die Bäume, die auf des Nachbars Feld lagen sind nun alle beseitigt. Die Frucht kann wachsen. Nur noch die Krone einer riesigen Pappel liegt in einer kleinen Brache. Ich werde sie demnächst in handgerechte Stücke schneiden und zur Seite ziehen. Den etwa sechzig Zentimeter durchmessenden Stamm muss ich mit der Seilwinde zum Hof hinauf ziehen und mir dann überlegen, was ich damit anstelle? Holzschuhmanufaktur? Oder in Dealermanier durch die Stadt laufen und den Leuten quer über die leeren Plätze zurufen Psst Psst Pappel (gesprochen mit dem Akzent des Dealers, wenn er ruft, psst psst Haschisch).

Die Fernbeziehnung zu Frau SoSo erlebt die härteste Prüfung seit überhaupt. Noch greift das Hilfskonstrukt der Reise, die ja momentan stattfinden würde. Die echte Fahrradreise nach Andorra. Wir hatten etwa drei bis vier Wochen eingeplant, maximal fünf oder sechs. Mehr nicht. Das heißt, wir würden unsere Beziehung jetzt sowieso über die Videotelefonie leben müssen. Ein Segen übrigens. Trotzdem ist es anders. Theoretisch wäre ich seit vorgestern in der Schweiz. Wir hätten zusammen gearbeitet, gekocht, gelacht, gegessen, wären spaziert durch fruchtbare, lichte Bärlauchfelder, hätten Ausflüge … hätte hätte Fahrradkette, könnte könnte Altersrönte, müsste müsste Nordseeküste, möchte möchte Liebesnöchte und so weiter. Ihr seht, ich fahre nicht Rad, ich drehe am Rad. Man möge mir das verzeihen. ES denkt in mir, zwingt mich, diesen Text zu schreiben.

Fern. Die Luftlinie nach Hause? Ungefähr 650 Kilometer. Da ist es egal, ob die Etappenorte beim heute beginnenden Tag zwölf in den Jahren 2000 und 2010 schon knapp 100 Kilometer voneinander entfernt sind. Es macht so wenig aus, wie die Unterschiede zwischen den beiden Mittelpunkten Frankreichs. Pi mal Daumen bin ich damals etwa 600 bis 700 Kilometer fern der Heimat. Heute null.

Alleine bin ich. Müde. So leer. Es gibt kein Gefühl mehr, während der jetzt gerade sattfindenden virtuellen Reise. Ich habe alles verloren. Bin mir nicht sicher, ob der momentane, Pandemie bedingte Ausnahmezustand daran schuld ist, oder ob ich sowieso irgendwann alles verloren hätte. Jeden Bezug zu Gefühlen. Vielleicht ist es auch eine Selbstschutzmaßnahme der eigenen Psyche, um nicht verrückt zu werden.

(Das mag depressiv klingen. Es hört sich vermutlich schlimmer an als es ist. Ich bin immer noch sehr zufrieden, wenn auch nicht erfreut mit dem Verlauf).

Diesen Artikel markiere ich in der Karte am Mittelpunkt Frankreichs bei Nassigny (der Mittelpunkt, bei dem Korsika in die Berechnung mit einbezogen ist).

Nun gibt es englisches Frühstück und später werde ich ein bisschen Garten schuften. Oder einen Gegenstand reparieren. Auf einem zerfallenden Hof gibt es immer etwas zu tun.

Löwenzahn-Ensemble mehrerer Blüten bilden eine Art Herz auf grüner Wiese.
Eine Liebesbekundung aus dem Jahr 2010 an die werte Frau SoSo, die 2010 als hochgeschätzte ‚Homebase‘ das Projekt Zweibrücken-Andorra II unterstützte.

Bittere Hommage an die vielen ‚wackeren‘ Freizeit-Motorradler, Kleinwagencruiser und Cabriolisten | #zwand20

Schwarzer Oldtimer auf einer leeren Landstraße

Ich muss mit den Fingern zählen. Erst der linke Daumen: vergangener Dienstag, Tag acht … Mittwoch, murmele ich, und entballe Finger um Finger die Faust. Sonntag, dreizehn; der Daumen der rechten Faust gesellt sich zu den fünf ausgestreckten Fingern der linken Hand. Heute ist also der dreizehnte Tag meiner Reise. Lange habe ich geschlafen, nicht allzu unruhig, aber ich erinnere mich, mich mitten in der Nacht nassgeschwitzt im Bett hin und her gewälzt zu haben und als ich schließlich auf die Handy-Uhr schaue, vermutend, dass es drei Uhr nachts ist, zeigt sie schon fast fünf. Das Bewusstsein kehrt zurück. Die Zeit wurde umgestellt. Die innere Uhr, die oft untrüglich ist und mich auf wenige Minuten genau die Zeit schätzen lässt, hat trotzdem versagt. Ich wälze mich bis zur Dämmerung hin und her, stelle mir dabei vor, ich sei ein Nudelholz, oder Welljerholz, wie man hier zu sagen pflegt. Ein Welljerholz und meine Sorgen sind Teig. Ich backe einen Kuchen während des Aufwachens. Einen schäbigen, flachen, ungesüßten, ungesalzenen Kuchen ohne Mehl und Hefe. Eine feine Torte wird das, bestehend aus mehreren Schichten des soeben ‚gewelljerten‘ Teigs. Zwischen die Böden streiche ich zärtlich Sahneschichten und Früchte und Nüsse und was weiß ich noch alles. Des Künstlers neue Hochzeitstorte wird das werden. Erste Schicht fette Sahne … hab ich nicht, nehme ich eben den Rest Crème Fraiche aus dem Kühlschrank, dann folgt ein weiterer Boden, den ich aus dem nicht vorhandenen Teig buk. Dann Erdbeeren, die es nicht gibt und die ich durch ein paar getrocknete Äpfel ersetze, die in einem Sack an einem Balken im Wohnzimmer der Künstlerbude hängen. Glasur kommt obendrauf und ein schönes Brautpaar aus unsichtbarem Marzipan. Da aber die Frau SoSo derzeit unerreichbar in der Schweiz ist und ich für sie unerreichbar hier, baue ich nur ein kleines, kümmerliches ‚Manndokli‘, ein Püppchen, mit schwarzem Anzug, das mutterseelen alleine auf meiner imaginären Hochzeitstorte steht und inständig hofft, dass die Schweizer Grenze endlich wieder passierbar ist.

Straße durch eine felsige Schlucht mit überhängenden Felsen
An manchen Stellen ist die Schlucht des Tarn so eng, dass die sich windende Landstraße in den Fels gehauen werden musste.

Freitag. Gestern Geld gewechselt. Regen fast den ganzen Tag. Mir geht es nicht besonders. Ein Anflug von Heimweh. Jenes Gefühl, (du müsstest einfach magisch an den Helm tippen können wie so ein Pan Tau) und schon wärst du daheim auf dem heimischen Sofa. [*Das Gefühl ist kontinuierlich. Es durchwirkt die Reise. S0 schrieb ich etwa tags zuvor: Manchmal sehne ich mich, zu Hause im weichen Bett zu liegen oder im abgewetzten Sessel zu sitzen vor dem Fernseher […] Warum mache ich das alles? […] Um mich zu erholen? Um sagen zu können, ich bin mit dem Fahrrad quer durch Europa gereist? Um anzugeben? Spaß? Abenteuerlust? Verzweiflung? Weil ich nicht mehr Smith** sein will? Überwindung meiner Ängste? Um mir die Augen zu öffnen? Oder um mir selbst vor Augen zu führen, wie einsam ich bin – mit dem Ergebnis, dass es doch gar nicht so schlimm ist […] Um ein anderer Mensch zu werden?  Kann man denn überhaupt ein Anderer werden?*] Ich kann nur hoffen, dass das Wetter besser wird. Dann hebt sich auch die Laune. Gestern Abend riss mir ein Sturm beinahe das Zelt in Fetzen. Es handelte sich um eine Art Schluchtbö. Als der Spuk nachließ, habe ich die Zeltapsis mit einem Stein befestigt. Der Boden ist so durchsetzt von Steinen, dass es schwer ist, Heringe überhaupt einzuschlagen. Der Platzwart kam eben, wollte 40 Franc. Ich konnte ihn auf 30 (ca. 5 €) herunterhandeln. Geld. Noch so ein Ding, das mir Sorge bereitet […]

Nachdem ich im Jahr 2000 am vierten Reisetag in Dijon bemerkt hatte, dass ich meine Bankkarte nicht dabei habe, musste ich haushalten lernen, lebte von – ich meine – 300 oder 600 DM, 150 oder 300 €, die ich in Form von Reiseschecks dabei hatte für den Notfall oder einen Rückflug.

Glaubt mir, dieser Tage wünsche ich mir die wunderbar milden Sorgen von vor zwanzig Jahren fast sehnlich zurück im Tausch gegen die jetzigen. Gleichzeitig frage ich mich, wie ich wohl in zehn Jahren zurückblicke auf diese Zeit. Mein Ziel lautet, fit zu bleiben und im Frühjahr 2030 ein viertes Mal von Zweibrücken nach Andorra zu radeln und darüber zu berichten. Hoffentlich in ‚echt‘, also kurbelnd auf Radel mit Europenner-Reisegepäck und nicht so wie jetzt, vom Bürostuhl aus, in Erinnerungen grabend.

Den gestrigen Tag verbringe ich weitgehend im Garten. Es ist warm. Sonne von früh bis spät. Zu warm für Ende März, fürchte ich, wie es überhaupt die letzten Monate, schon den ganzen Winter 19/20 viel wärmer war als auch schon. Die Regenfälle im Februar machten Hoffnung, dass sich das Grundwasser wieder erholt. Jenseits des einsamen Gehöfts bildete sich in einer Mulde ein kleiner See, der nur langsam durch den dichten Lehm sickerte. Als ich gestern den kleinen Garten hinterm Haus mit der Motorhacke zu Leibe rücke, stoße ich auf recht harte, trockene Erde. Das ist nicht gut. Es ist trocken. Ungewöhnlich trocken für diese Jahreszeit, befinde ich. Vielleicht ist der Lehm unter der dünnen Erde mittlerweile so hart und ausgetrocknet, dass er nichts mehr durchlässt und alles Wasser fließt davon in die Schlucht, die Jammerbach heißt. Unterschwellig breitet sich die Sorge aus, dass der etwa 150 Meter tiefe Brunnen am Haus vielleicht in naher Zukunft versiegen könnte. Dann sind wir die Vorhut von Klimaflüchtlingen im eigenen Land. Kein Wasser, kein Leben hier auf der kleinen Scholle im Pfälzer Lehm. Auf der Landstraße oberhalb rauscht der Verkehr. Motorräder und Autos. Es klingt eigentlich wie immer samstags wenn das Wetter schön ist. Keine Anzeichen von Stay at Home. Soviel also zum Thema, wir verlassen das Haus nur in Notfällen. Andererseits, wer kann es den Menschen verdenken. Sie haben die Möglichkeit, also tun sie es auch. Gebt ihnen verheerende Werkzeuge und sie setzen sie ein.  Man könnte natürlich sagen, niemand, der alleine Motorrad fährt oder im Cabrio dahin cruist, steckt jemand anderen an. Das dürfte stimmen. Wäre da nicht die Sache mit der Umweltverschmutzung. Aber diese Rechnung stellt uns in naher Zukunft ein anderer Wirt, an den wir gerade nicht denken, weil wir andere Sorgen haben.

Schweren Herzens habe ich begonnen, die lila Blüten, die mitten im Kulturgarten wachsen (also dort, wo wir normalerweise Kartoffeln, Bohnen usw. hegen) umzugraben und die Fläche zur Saat vorzubereiten. Immerhin blüht nun schon einiges Anderes und die Hummeln müssen nicht hungern. Fast komme ich mir vor wie so ein Bolsonaro, der den Urwald freigibt, damit Goldsucher und Großbauern vordringen können, um für den internationalen Markt ‚Werte‘ zu schöpfen. Meine Mutter sagt, es handele sich bei der Pflanze um Taubnesseln. Mein Taubnesselfeld ist der Amazonasurwald. Das einzige, was ich mir nicht vorwerfen muss, ist wohl Gier. Und über die Stränge allen Genugs zu schlagen. Ich rode den Taubnesselwald am gestrigen Tag auch nur zum Teil, natürlich mit der Absicht, das Stück Land in dieser Pflanzsaison letztlich komplett mit etwas anderem zu bepflanzen. Während ich im T-Shirt schwitzend vor mich hin rode, denke ich über das verquere Bild nach, ich wäre der Bolsonaro des kleinen Mannes tief im Pfälzer Lehm und ich muss fast schmunzeln, wie abstrus das ist. Die wahren Bolsonaros dieser Erde machen sich keine Gedanken um Hummeln und um Taubnesseln. Vermuten sie eine Goldmine in unwegsamem Gelände, bauen eine Straße dahin und gießen mit breitem Strahl eine Schar korrupter Tunichtgute darauf. Ausbeuter auf dem Weg in ihr eigenes, kleines, engsichtiges, egoistisches Glück. Den Bolsonaros ist eigentlich alles egal außer sich selbst. Man könnte sagen, so ist die Natur … und im Blick auf die momentane Pandemie-Situation, spinne ich vor mich hin, es sind immer die Starken, die überleben. In der Natur, unter Tieren, fressen die Starken die Schwachen. Unter Menschen, die bedingt zu sozialem Denken und Handeln fähig sind, und zu anderen Lösungen fähig wären, wenn sie zusammenhielten, wird es immer einige geben, die dies nicht sind und die sich mit Gewalt nehmen, was ihre Gier ihnen gebietet zu nehmen. Über Leichen gehend. Menschen wie Gift. Klopapierhamsterei und nicht funktionierende Reißverschlusssysteme auf Autobahnen sind Indikatoren für den miesen Zustand, in dem sich unsere Gesellschaften befinden. Vor mich hin gärtnernd, sehe ich in diesem Moment schwarz für uns alle. Es gibt zu viele Menschen, die nicht weiter als bis zur nächsten weißen Wand des eigenen Egoistenknasts schauen. Die schöne, weiße Wand, auf deren anderer Seite das Blut hingerichteter Widersacher klebt.

Ein kleines Oval meines Taubnesselurwalds lasse ich als klebrig süße Insel in Mitten des Nutzgartens noch stehen. Er wird zunächst nicht benötigt.

Im Jahr 2010 erwache ich an diesem 13. Tag der Reise nach Andorra wild zeltend neben dem Wasserspeicher des Weilers Le Vernet. Ab Vorey wich ich ab von meiner ursprünglichen Route, die mich auf der D 103 in nur ein zwei Stunden hinauf geführt hätte nach Le Puy-en-Velay. Ich glaube, der Verkehr schien mir zu arg. Zudem hatte ich mich in dieser Phase der Reise wohl endgültig vom Leistungsdruck befreit, den mir die Reise zehn Jahre zuvor auferlegt hatte. Der Preis für die Abweichlerei war allerdings hoch, wenn man es in Höhenmetern und steilsten Straßen der Welt rechnet. Zum Ausgleich erhielt ich kaum befahrene Sträßchen und Loipen in einer wilden, hügeligen Wandergegend. Jene Gegend übrigens, durch die einst Robert L. Stevenson (Die Schatzinsel), begleitet von einem Lastesel wanderte. Oft stieß ich auf Wegweiser zum ‚Stevenson-Trail‘ und traf auch einige Wandergruppen, die sich auf die Spuren des berühmten schottischen Schriftstellers gemacht hatten. Gut 150 Kilometer (Luftlinie 100) liege ich 2010 schon hinter der Reise 2000 zurück.

In der Karte sind heute die Marker der beiden Nachtplätze von Tag 12 auf Tag 13 als Stecknadeln hervorgehoben. Der Marker für den heutigen Blogartikel befindet sich mitten auf der am gestrigen Samstag stark befahrenen heimischen Höhenstraße, eine bittere  Hommage an die vielen wackeren Freizeit-Motorradler, Kleinwagencruiser und Cabriolisten.

(*Rückblick im Rückblick, zwei Seiten zuvor im Tagebuch*)

**Den Namen hatte ich vor zwanzig Jahren manchmal benutzt, ein früher Versuch, dem Korsett des Tagebuchs zu entkommen.

 

Sierra del Räumungsverkauf, oder finde Möglichkeit 4 | #zwand20 #gibrantiago

Drei shoppende Figuren, überlebensgroß auf einem Verkehrskreisel. Sie tragen Taschen.

Darf ich in diesem Reisebuch die Grenze zur Fiktion überschreiten? Die Frage wurmte mich den ganzen gestrigen Nachmittag. Momentan habe ich ja leicht schaffen: fleddere die alten Reisetagebücher meiner beiden Radtouren nach Andorra – mittlerweile beginnt Tag 14 der Reise. Wow! Schon zwei Wochen on the Road.
Im Jahr 2000 erwache ich an Tag 14 direkt neben einer Brücke am Tarn. Eiskalte Nacht, meine ich mich zu erinnern. Ich hatte wild gezeltet. Nachts hatte es jenseits des Flusses gekracht, was mich aus dem Schlaf schreckte. Herzrasen. Ein Verkehrsunfall, zweifellos. Ich war hin- und hergerissen, ob ich aufstehe und nachschaue, ob ich helfen kann. Dann hörte ich Stimmen. Der oder die Verunfallte war also nicht alleine. Wildunfall? Ich dämmerte wieder weg.

Zehn Jahre später lag ich streckenmäßig schon fast 200 Kilometer zurück. Auf einer Art Bypass ackerte ich westlich von Le Puy teils auf Pilgerwegen durch eine zerklüftete, 800 bis 1000 Meter hohe Gebirgsgegend und baute das Zelt am Abend auf dem Campingplatz in Le-Nouveau-Monde am Fluss Allier auf. Fast wie Heimkommen. Der Platz war zehn Jahre zuvor Etappenort der zehnten Nacht.

Brrr, ist das kalt hier oben. Höchstens 5 Grad. Grauer Himmel, kein Regen. Kartenwälzen. Seit ich [eine Landkarte] habe, muss  ich wieder Entscheidungen treffen. Der eigenen Spur [auf dem GPS] blind folgen ist ja doch praktisch, aber nun bin ich meilenweit vom GPS-Track entfernt …*

(aus einer SMS vom 2.5.10/8:09; ich navigierte 2010 meist auf dem winzigen Bildschirm eines Magellan GPS, in dem der Track von 2000 angezeigt wurde. Die Hintergrundkarte hatte nur sehr wenige Details.)

Wie endet es eigentlich? Mittagsschlafend, vor mich hindämmernd im gemütlichen heimischen Sessel vor dem Holzofen, fragte ich mich plötzlich, wie endet dieses Buch? Wenn ich die beiden Reisen abgearbeitet habe an Tag 17 der ersten Andorrareise, werde ich östlich von La Seo d’Urgell in Katalonien in einem ausgetrockneten Bachbett unweit der Landstraße zelten. Die Reise Andorra 1 gibt den Takt des Buchs vor. Sie ist die Richtschnur. Wenn von Andorra 2 die Rede ist, liege ich stets soundsoviele Kilometer oder Tage hinterher. Es war 2010 schwierig, die räumlichen und zeitlichen Stränge der erlebten und der gerade durchlebten Reise zu koordinieren. Immerhin saß ich damals im Sattel, während ich schrieb. Das Zelt war mein Schneidersitzbüro. Liveschreiben war eine kitzelnde Herausforderung, die nicht unbedingt den besten, aber dennoch tauglichen Lesestoff hervorbrachte.
Nun, vom heimischen Bürostuhl liveschreibend, habe ich viel mehr Macht, mehr Ruhe und Zeit, um nachzudenken. Es ist die Fellpflege der Literatur, für die mir durch die Pandemie gerade eine gute Möglichkeit geboten wird. Zum Stillstand gezwungen, kann ich Erlebnisse im Jetzt, die voller Gier abends ins Reisetagebuch geschrieben werden müssten durch schlichtes Nichterleben verhindern. Kein Erlebnis, keine Tagebuchnotiz. Die dadurch gewonnene Zeit schicke ich das Hirn auf Wanderschaft. Das eigene Hirn, wenn man es zum Grübeln auf die Straße schickt, kann jedoch zum Quälgeist werden.

Junge, wenn du in einer knappen Woche schließlich die Pyrenäen überquert haben wirst, ist die Reise zu Ende, das Buch auch, aber du wirst, Pandemie bedingt noch viele Tage Zeit haben, in der du deine Bürostuhlreise weiterführen musst/müsstest/könntest. Daheim. Alleine. Ohne jegliche Nahrung, ohne die erschriebenen Futtervorräte, die du vor zehn und zwanzig Jahren angelegt hast. Ohne roten Faden, dem du im eher gemächlich verlaufenden Alltag hier auf dem einsamen Gehöft folgen kannst. Wie wirst du weiter reisen? Mir wurde klar, dass es mehrere Möglichkeiten gibt.

  1. Ich beende das Buch in La Seo d’Urgell, wie auch die beiden echten Reisen zuvor. Gebe mich der darauf folgenden Leere hin. Die Erfahrung mit echten Reisen zeigt, dass das in einer Depression enden wird. -> schlecht!
  2. Ich schaue mir die Dokumentation der Rückwege an. Im Jahr 2000 radelte ich flott zurück via Mittelmeer und Rhone. Es gibt kaum Einträge der rasanten Tour (ich hatte kaum noch Geld in der Tasche, radelte viel, schrieb wenig). 2010 traf ich mich mit Frau SoSo in den Pyrenäen und wir tourten per Auto zurück. Die beiden Wege verlieren sich. Ich glaube, das ist keine gute Idee, wie das Buch endet oder weiter geführt wird – und ehrlich, ich habe auch keine Lust auf den Rückweg. -> keine Lust.
  3. Lade dir die Wikipedia-Einträge von Katalonien, Navarra, dem Baskenland und der gesamten französischen Atlantikküste in die Open-Cycle-Map und folge der Route, die du als Masterplan für den Rückweg zurechtgelegt hast – ein Hirngespinst, von dem ich noch gar nicht erzählt hatte. Wenn genug Zeit wäre, könnte ich ja ab Seo weiterradeln bis nach Belchite. Die Ruinenstadt aus dem spanischen Bürgerkrieg wollte ich schon immer mal sehen. Von dort ins Baskenland und schließlich der Vélodysée auf dem französischen Atlantikradweg folgen. Feuchte Kunstbübchenträume. Aber immerhin, es wäre ein roter Faden, dem ich in informativen Beiträgen über die Wikipediaeinträge folgen könnte. Zudem würde es eine Phantasie wahrmachen, die ich schon 2010 hegte: eine Reise nur auf Basis von Sekundär-Informationen zu machen. Könnte eine trockene Angelegenheit werden. Aber besser als nichts. -> immerhin etwas!
  4. Es liegt auf der Hand, dass eine scheinbar endliche Liste von Möglichkeiten nur deshalb endet, weil man die Kriterien, nach denen Möglichkeiten als vorstellbar gelten in zu enge Grenzen gesetzt hat. Erweitere die Grenzen, was gedanklich immer möglich ist, dann erweiterst du auch das Möglichkeitsspektrum. Es ist so einfach wie eine Taubnesselwiese umzuspaten. Wenn das Land erst einmal gerodet ist, kann es neu angelegt werden. -> tu‘ das. Denk nach. Finde Möglichkeit 4 plus x!

Das Grübeln über das Ende der Reise machte mich unruhig, verhinderte, dass ich im mittäglichen Tief in der Künstlerbude vor mich hinschlummere. Ich hatte gerade einen riesigen Eichenklotz ins Feuer gelegt. Draußen gruselte das Wetter. Trister, grauer Himmel. Beißender Ostwind. Kälte. Kein guter Tag, das Haus zu verlassen. Eine Weile lief ich in der Wohnung im Kreis wie so ein Dagobert Duck beim Grübeln um Geschäfte. Drei Meter vor, Kehrtwende, drei Meter zurück. Ich stellte mir vor, wie die Fliesen sich mehr und mehr abnutzen, wie sich Gräben bilden in der Künstlerbude, wie ich den Boden meines Geldspeichers des kleinen Mannes nach und nach durchwetzen würde, wie ich runter plumpse in den Hühnerstall, zwischen Federvieh weiterlaufe und weiter und weiter und irgendwann in Australien oder Neuseeland wieder Tageslicht sehe. Ich bin völlig irre, so etwas zu denken, aber hey, es bringt auch ein bisschen Freude in der Tristesse dieser Tage, dem Hirn Freilauf zu gewähren und es auf Reisen zu schicken.

Als ich zu Ende gegrübelt hatte, nahm ich die Radlerhose vom Stuhl, streifte sie über, mein Leben als Presswurst, Mann, ist das Ding eng, schaute noch einmal aus dem Fenster, leichte Regenklamotten sind indiziert, ein Faserpelz und ein Gillet, Handschuhe … so könnte es klappen, doch noch ein bisschen vor die Tür zu gehen und es ist ja nicht wie unterwegs, dass man abends ins klamme Zelt kriechen muss, ungeheizt, nass wie der Tag. Nein, nein, wenn ich von meiner kurzen Runde zurück bin, kann ich die Vorteile des Bürostuhlreisens voll und ganz ausreizen und die nassen Klamotten neben dem Ofen aufhängen, einen wirklich feinen, fetten Eichenklotz verbrenne ich gerade darin, der wird Stunden durchhalten.

Herr Irgendlink darf die Grenzen zur Fiktion überschreiten. Natüüürlich! Er muss! Ohne Fiktion keine Zukunft. Ohne Abstraktion kein Konkret. Ohne Ihn kein Ich. The Slow must go on. (Lind Kernig, 30. März 2420).

Runter in die Stadt. Ich liebe Wege. Ich liebe die Vorstellung von Wegen. Ich peile einen Ort im Süden an, Hornbach, das Klosterstädtchen an der französischen Grenze. Ein wunderbarer Radweg auf einer alten Bahntrasse führt dort hin. Wenn man sich erst einmal durch das Knäuel unmöglicher Wege und Kreuzungen Zweibrückens gewurstelt hat, ist es eine Lust, dort zu radeln. Oberhalb des einsamen Gehöfts versuchen zwei Jungs, einen Drachen steigen zu lassen. Einer fummelt mit dem Drachen, der andere filmt. Der Drachen will nicht so recht. Die Leinen führen quer über den Weg. Ich warte. Bis sie mich irgendwann bemerken und zur Seite treten. Zwei Meter weit weg. Schon will ich auf dem üblichen Schleichweg relativ verkehrsarm die Stadt durchqueren, da fällt mir ein, dass es ja am heutigen Sonntag wegen Pandemie und Wetter vielleicht ruhig sein könnte auf der Hauptstaraße. Also rein ins (Nicht)Getümmel. Mit fast siebzig Sachen abwärts, geradeaus auf den – normalerweise – befahrensten Straßen der Stadt, mitten durch bis zur südlichen Grenze, wo der Radweg beginnt. Fahren wie in den 1980er Jahren. Kaum Verkehr. Welch‘ Segen. Beim Beginn des Radwegs kommt mir der Gedanke, dass es eng wird, wenn einem Fußgänger und Radler begegnen. Also weiter auf der Straße, was wirklich sehr angenehm ist zum Fahren.

Schnurgerader Radweg in einem grünen Tal. Auf dem Weg liegt ein Felsbrocken und daneben ein Gitter, um Mehrspurige Fahrzeuge an der Durchfahrt zu hindern
Die Grenze zu Frankreich auf dem Europäischen Mühlenradweg.

In Hornbach packt mich die Neugier und ich radele weiter, das Tal des Schwalbachs aufwärts, der beim Kloster in den Hornbach mündet. Die französische Grenze ist nur ein paarhundert Meter entfernt. In einem Dorf namens Brenschelbach gibt es noch eine alte Zollstation. So weit will ich aber nicht radeln, biege stattdessen links ab auf den Paradiesgarten-Wanderweg, der an dieser Stelle direkt auf der Grenze verläuft und den Schwalbach überquert bis zum offiziellen Radweg. Ein Radler weit hinter mir ruft ‚Frankreich‘. Laut, mahnend, ‚Frankreich, Achtung, da darf man nicht hin‘. Ich danke ihm für den Tipp, warte, bis er vorüber ist. Nun hat mich die Neugier vollends gepackt: ob man auf dem Radweg auch Wachposten aufgestellt hat? Hundert Meter später, einen Steg überquerend weiß ich: nein. Es steht auch kein Schild an der Grenze, dass man nicht einreisen darf. Trotzdem hüte ich mich, überzutreten.

Ein Hochsitz in einer Flusswiese vor stark bewölktem Himmel
Ein Hochsitz zwischen Hornbach und Brenschelbach im Tal des Schwalbachs

Hochsitze fotografierend trete ich den Rückweg an. Weiter geht’s auf Straßen hinauf zum Flugplatz, der  vor 15 Jahren einmal ein Wurmloch nach Berlin war mit regelmäßigen Linienflügen. Jetzt wird er nur noch militärisch und privat genutzt. Oder gar nicht mehr, dieser Tage. Einige wenige Autos kurven auf dem Parkplatz vorm Outletcenter, das direkt neben dem Flugplatz liegt. Tore vergittert. Adidas vergeht hinter einer Baustelle. Reichenkarren, Verzweiflung und Nichts, unendlich viel Nichts. Ein Anflug von Zerfall. Auf dem zentralen Verkehrskreisel, der die Zufahrt zum Parkplatz regelt stehen überlebensgroße, schematische Figuren im Stile eines Keith Harings, schwarze Silhouetten mit kantigen Gliedmaßen und bunten Schoppingtüten. Fast fühlt es sich an wie der Einritt nach Yecla (#Gibrantiago 2016). Willkommen in der ‚Sierra del Räumungsverkauf‚. Ein beklemmendes Gefühl war das, kilometerweit flankiert von leerstehenden Hallen, Möbellagern und Schuhfabriken durch eine von Menschen verwaiste Gegend auf die einstmals blühende Industriestadt zuzuradeln. Flankiert von verhärmten Männern hie und da, die den Straßengraben nach Schnecken (für die Tapasbars) durchsuchten.

So ähnlich fühlte sich das an, hier und jetzt in der Südwestpfalz, dachte ich. Es bleibt nichts. Der Hochglanz der Shops wird verblassen. Staub wird sich übers Land legen. Niemand wird mehr den Parkplatz pflegen. Schon in ein zwei Jahren kämpft sich das Grün zurück durch den Teer. Birkenwälder werden erspriesen, Scheiben zerschlagen. Wo bis vor kurzem die Regale voller Schnickschnack ein konsumgieriges Publikum auf der Jagd nach Schnäppchen attraktierte, wird der Wind durch die Leere pfeifen und niemandem wird mehr etwas gehören, weil alle tot sind. Vielleicht hat man sich noch ein paar Monate lang aufgeregt, dass Adidas und Konsorten keine Miete mehr zahlen, aber auch das wird vergangen sein.

Adidas? Wer zum Teufel ist Adidas, was schreibt der Kerl da? Aus der Distanz von vierhundert Jahren ist es wirklich verdammt schwer, die Realität zu rekonstruieren. Die Datenbank der Moonbase gibt über den Namen Adidas überhaupt nichts her. Ich finde es unendlich schade, dass wir nur das Allernötigste retten konnten. Der Plan, eine kontinuierliche Funkverbindung mit dem Museum für Digitale Vermächtnisse (MuDiV) auf der Erde aufrecht zu halten scheiterte leider. Abgeschnitten von unseren geschichtlichen Wurzeln sitzen wir isoliert auf dem Mond, keine Chance, zurückzukehren zur Erde; nur einen geringen Prozentsatz Daten konnten die wenigen Menschen, die auf den Mond umsiedelten in ihren privaten Datenbanken mitnehmen. Chroniken von ganz normalen Menschen oft. Das macht es gerade so spannend. So kostbar. Unsere Familie nahm Irgendlink mit.

Ihm verdanke ich meinen Namen.

Der gute alte Lind Kernig! Einfach nicht tot zu kriegen. Beinahe hätte ich geweint mitten in meiner Erinnerung an den Einritt nach Yecla, welche die dystopische Assoziation zum Outletcenter auslöste, geweint vor Glück, weil ich an die fiktive Figur Lind Kernig denken musste und mit ihr Punkt vier in meiner obigen Liste konkretisieren konnte: Ideen, die hinter der Grenze liegen, die man bisher nicht überschritten hat. Aus Einfallslosigkeit, Faulheit oder weil andere Ideen, lukrativer scheinend, den Blick verstellten.

4. Den realen Reisebericht fiktiv fortführen.

Lind Kernig ist ein alter Bekannter. Schon im Jahr 2012 taucht er im Reisebericht Ums Meer in einzelnen Berichten auf, die in einer fiktiven Zukunft angesiedelt sind und die die, in Echtzeit im Blog protokollierte, Reise flankierten. Ich müsste nachschauen, wie es dazu kam, dass ich vom eigentlichen Reisebericht abwich und wie es zur ‚Erfindung‘ des Lind Kernig kam. Ich meine, es geschah in Schottland. Gesichert ist, wer den Namen erfand. Lind Kernig ist (wer hätte es gedacht) ein Anagramm zu Irgendlink. Der Emil kommentierte es.

Ihm verdanke ich diesen Namen.

Ein verwirrender Blogeintrag, dieser hier? Ich hatte ursprünglich vor, ihn abzuspecken und aufs Nötigste zu reduzieren. Doch wozu? Ich habe ihn ein kleines Bisschen abgespeckt.
Wir sind doch hier ganz privat. Ich nehme Euch mit auf eine Radtour nach Andorra, auf einen Spaziergang durch mein Leben, durch mein Wohnzimmer, meinen Alltag und mein Hirn. Macht das beste daraus.

Der Artikel wird auf der Projektkarte im andalusischen Yecla als orangener Marker erscheinen.

Außenwand mit abblätternder grüner Farbe. Eine Türöffnung ist mit weißen Steinen vermauert.
Im Zweibrücker Ortsteil Rimschweiler ein Symbolbild aus der Serie Du kommst hier nicht rein. (Raus kommst du auch nicht!)

* Vielleicht steht in jener SMS von 2010 ein Hinweis darauf, wie es mit diesem Blogbuch weitergeht. Dann, wenn ich den Faden/die GPS-Linie verliere, hilft mir eine Landkarte. Im übertragenen Sinne.

 

Man sagt, Wasser habe ein Gedächtnis. Schlechtwetter hat auch ein Gedächtnis | #zwand20

Campingplatz am Skogarfoss, Island 1992

Roquecourbe, Le Pont-de-Montvert, Zweibrücken – Tag 15 der Reise. Seit zwei Wochen im Sattel, bzw. auf dem Bürostuhl.

Der Camping Municipal von Roquecourbe ist in dieser frühen Jahreszeit noch geschlossen. Doch ein verschmitzter, alter Mann verriet mir, dass die kleine Tür neben der Telefonzelle immer offen ist. Problem: es gibt kein Wasser und die Toilettenhäuser sind mit Wellblech verbarrikadiert. Beim Schlachter auf der anderen Seite des Flusses kriege ich zwei Flaschen Wasser. Die gestrige Strecke: kein Verkehr! Aber ein Pass nach St. Sernin (29./30. 4. 2000).

In Lincou verlasse ich das Tal des Tarn und schwitze über die D 33 hinauf zu einem kleinen Pass und wieder hinab ins Tal des Flusses Le Rance, dem ich ab Plaisance/Curvalle folge. Über einen weiteren Pass, immerhin 15 Kilometer weit bergauf hinter Saint Sernin, ‚hüpfe‘ ich hinüber ins Tal des Gijou.

Grün. Frühlinghaft. Die Felsen strotzen vor Wasser, scheinen zu schwitzen. Die Vielfalt der Vegetation. Ein Sentier Botanique, ein botanischer Rundweg, ist ausgeschildert. Das Felsenland von Sidobre reicht bis ins Tal. Alle Felsen haben Namen und sind beschildert. Die sonst so kahlen Straßeneinschnitte, die der Mensch durch die Felsen gehauen hat, sind bewachsen mit hängendem Grün. Fast tropisch wirkt die Szene.

Derweil gut 200 Kilometer weit zurück, erreiche ich im Jahr 2010 über die ‚Königsetappe‚ Le Pont-de-Montvert in der Tarnschlucht. Das Wetter könnte nicht gruseliger sein. Hier auf etwa 850 Metern über dem Meeresspiegel hat es in der Nacht begonnen, schneezuregnen. Gerade noch so habe ich es geschafft, den über 1500 Meter hohen Col de Finiels im Massiv des Mont Lozère zu überqueren. Eiskalte Bergpassage, an dessen Gipfel ich mir einerseits wünschte, es würde immer so weiter gehen, höher, höher, höher hinauf, denn dann bliebe der Körper auf Temperatur. Gleichzeitig sehnte ich mich nach einem warmen Nachtlager.

Ein alter Grenzstein, unten weiß mit schwarzen aufgemalten Ortshinweisen, oben ein halbkreisförmiger Bereich, gelb mit der Höhenangabe 907 M
Grenzstein zwischen Departement Lozère und Aveyron

4. Mai 2010, im Zelt auf dem Campingplatz. Gestrige Königsetappe relativ gut überstanden. Statt wie angenommen drei Pässe, musste ich vier überqueren. Insgesamt etwa 1600 Höhenmeter. Bewegte mich in Höhen zwischen 1000 und 1541 m. Zunächst sanft steigend durchs Chappeauroux-Tal auf 1200 Meter in der Nähe von Rocles; ab Sange Rousse, wo ich einige Stevenson-Pilger traf abwärts nach Cheylard (1100 m), hinauf auf 1350 Meter, runter nach Bleymard (1050 m) und wieder aufwärts zum Col de Finiels. Im Skihotel unterhalb des Passes traf ich einen anderen Radler, der sich dort eingemietet hatte. Ich überlegte, mich auch dort einzumieten. Da aus Nordwesten dunkle Wolken aufzogen, entschied ich mich, die letzten hundert Höhenmeter bis zum Pass auch noch zu überwinden.

Nicht, dass wir über Nacht einschneien. Das Spiel mit den Bergen ist immer unkalkulierbar. Im Wettlauf gegen die Schlechtwetterfront lag der Pass umhüllt von unheimlichen, dunklen Wolkenschwaden, die die folgende Mondlandschaft düsterlich akzentuierten. Im Tagebuch lasse ich mich, im Zelt sitzend im Schneidersitzbüro auf dem Campingplatz am oberen Tarn-Lauf über das Unwetter zu Beginn des 15. Reisetags aus.

Ein Blick ins grün schimmernde Zelt auf Lebensmittelvorräte, die ausgebreitet auf dem Zeltboden liegen
Der chaotische Europenner-Kühlschrank liegt ausgebreitet im Zelt.

Seit über 12 Stunden Sturm und Regen, nun Schneeregen. Ich zelte auf etwa 850-900 Metern Höhe, habe mir den Schlafsack um die Nieren gewickelt, trage fast alle meine Kleider. Das Zelt ist gut trocken, trotz der sporadisch aufkommenden Schluchtenböen, die ordentlich an den Heringen zerren. Ich habe genug zu essen für zwei Tage und ein Stieg Larsson-Buch zur Unterhaltung, das iPhone für den Kontakt zur Außenwelt und eine Telefonzelle direkt vor der Tür. Dennoch überlege ich, eine Gîte zu suchen, um mich einmal richtig aufzuwärmen. […] auf der langjährigen Skala für miese Wetterbedingungen outdoor, kommt dieser Tag den Extremen der Öxi-Route in Island 1992 und jener stürmischen Nacht in Teneriffa 1990 ziemlich nahe. Wie sich plötzlich die Erinnerungen bündeln, ich gedanklich mal in Lappland 1995 bin, mal in Spanien des Jahres 1991 mit Freund Leb in einer Bauruine einen dreitägigen Sturm aussitzend, mal im Causse Mejan winterwandernd mit Freund I. Alle Schlechtwettererlebnisse im Zelt bündeln sich auf engstem Raum, wenn du wieder einmal bei Schlechtwetter im Zelt hockst.

Man sagt, Wasser habe ein Gedächtnis. Schlechtwetter hat auch ein Gedächtnis.

Wetter? Was ist das? Die Enge der Mondsiedlung sieht keinerlei Abwechslung vor. Noch nicht einmal beim künstlich erzeugten ‚idealen‘ Klima. Seit dreihundert Jahren leben wir permanent in einem Hochdruckgebiet. Keine Wolken, keine Stürme, kein Regen, kein Schnee. Willkommen im adiabatischen Zeitalter! (Lind Kernig, 31. März 2420)

Mann, Mann, Mann, was wäre dieses Zweibrücken-Andorra 2020 für ein herrlicher Durchmarsch geworden! Soweit ich die Wetterkarte beobachtete, hätte diese meine Fahrradtour vor zwei Wochen bei strahlendem Sonnenschein begonnen. Bei angenehmen Radeltemperaturen zwischen fünf und fünfzehn Grad. Im Vorfeld hatte ich zwei Wetterstationen markanter Punkte auf der Wetterapp geladen: Dijon (vier Tage vom Start entfernt), Roanne (acht Tage). Ab Tag acht wäre mir sowieso alles egal, weil ich dann mitten in der Radtour selbst bei miesestem Wetter nicht Halt machen würde. Ein kleiner Virus hat das geschafft, was tausend Winde nicht konnten. Hose Hose Wetterprognose. Ein Ritt durch klimatisch bereinigte Lande wäre das geworden. Millau am Tarn zeigt jusque-au-moment sieben Grad, leicht bewölkt. Das Wetter soll stabil bleiben. Der deutsche Name des Hochs beim Start der Tour ist übrigens Jürgen. Als wollte man mich verhöhnen.

Der gestrige Tag war schreiberisch recht anstrengend. Den ganzen morgen hatte ich am Blogartikel gearbeitet, bin immer noch hin und her gerissen von der Idee, Lind Kernig mit ins Boot zu holen und dieses eigentlich recht reale Blogbuch mit seinen täglichen Berichten über das ganz normale Dasein in Zeiten der Corona, bald in eine fiktive Geschichte überzuführen. Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Literarisches Neuland. Abwendung vom Ich.

Nachmittags das Haus voller Verwandtschaft. Der Neffe hatte Geburtstag. Ein trauriges, einsames Fest für den 17-Jährigen. Es muss verdammt hart sein. Ich hielt mich fern. Zu stark ist die Erinnerung an den schrecklichen Lungendefekt vor bald fünfzehn Jahren. Ich möchte solch eine Enge nie wieder erleben müssen. Selbst der lecker Sahnetorte konnte ich widerstehen.

Dem Neffen schenkte ich nach langem Überlegen ein Kunstwerk. Wahrscheinlich kann er nichts damit anfangen. Aber irgendwie wollte ich ihm ein kleines Geschenk machen. Ich habe doch nichts, außer Kunst.

Abends ein kleiner Ausritt mit dem Ebike. Runter in die gespenstisch leere Stadt. Es wird fast zur Gewohnheit, die sonst so stark befahrene Landstraße zu benutzen – ein Tag mehr ‚radeln wie in den Achtzigern‘.

Den Marker auf der Karte lege ich für den heutigen Blogartikel auf den Öxipass in Island, für mich das Urbild allen schlechten Wetters. Fast bin ich versucht, mich in die kleine Hütte auf dem etwa 600 Meter hohen Pass im Südosten Islands zu sehnen, fast dreißig Jahre rückwärts im eigenen Leben. Wie der Sturm an dem Bretterverhau zerrte, der mit vier armdicken Stahlketten am Boden verspannt war. Ich meine, ich hatte Tee gekocht, um mich aufzuwärmen. Ob ich ein Buch dabei hatte, in dem ich las? Mein 26-jähriges Ich? Wie sah es die Welt, was erhoffte es sich? Gibt es Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit? Ich muss mal suchen.