Gut möglich, dass ich es auch dieses Mal nicht schaffe, die Runde um Bayern zu beenden. Ich bin total erschöpft. Nun müsste nur noch ein technisches Problem auftauchen oder eine massive Wetterverschlechterung und ich könnte mir vorstellen, beim nächsten Bahnhof abzubrechen. Es gibt zwei Arten des Scheiterns, wird mir heute Morgen klar. Das produktive Scheitern, wenn man sich danach wieder aufrappelt, den Staub aus den Klamotten klopft und weiter arbeitet an der Sache, bei der das Leben ins Ruckeln kam. Sowie das endgültige Scheitern, dann, wenn man alles hinschmeisst, den Rücken kehrt, abschließt.
Ich ahne, dass ich Bayern nie zu Ende umrunden werde, wenn ich es dieses Mal, vier Jahre nach der Reise auf dem ersten Abschnitt, nicht schaffe. Ich würde vermutlich nicht noch einmal hier herauf in den nördlichsten Zipfel ackern per Zug und Fahrrad. Zu fern die Sache, zu abgehackt, totgewürgt, so denke ich gestern Abend leichtfertig achja, wieder einmal scheitern, warum nicht, machste halt andermal weiter. Blauäugig das bis dahin noch nicht bestimmte endgültige Scheitern vor Augen.
Wieder habe ich mehr als 2000 Höhenmeter in den Beinen. Achtzig Kilometer geradelt seit Jorditz an der Saale. Bleiben Sie doch hier, sagte die Campingplatzbesitzerin, wir haben ein Fest am Vatertag, Geselligkeit, Jubel, Musik. Vierzig Jahre Holzhütte gibt es zu feiern und eben Vatertag. Zweifellos, ich sehe aus wie ein Tourist, bin es ja auch irgendwie, aber irgendwie auch nicht. Ich verkneife mir, zu sagen, ich arbeite hier, alles, was Sie ab jetzt sagen wird verbloggt.
Der Zeltplatz, rings um einen kleinen Weiher gebaut ist, einer der wenigen Plätze direkt an meiner Route. Zunächst hatte ich überlegt, noch weiter zu fahren, etwa 15 Kilometer Saale abwärts bis nach Blankenstein, wo es auch einen neuen Zeltplatz gäbe, verrieten mir meine beiden Radelkolleginnen, mit denen ich eine Weile gemeinsam radelte.
Was für ein Glück, dass ich das nicht tat. Der Saaleradweg ist alles andere als ein typischer Flussradweg. Bei einem Aussichtspunkt nahe Potiga bringt es ein wettergegerbter Tourenradler ironisch auf den Punkt: Flussradwege sind einfach deshalb so beliebt, weil es immer schööön flach verläuft. NICHT!
Ein elendes Auf und Ab, aber tolle Strecke, gute Beschilderung, liebliches Ländchen. Bei der Aussichtsplattform, die wie eine Kanzel weit übers Saaletal ragt, ruhe ich ein wenig. Ein radelndes Paar aus der Schweiz trudelt ein, eine Truppe aus etwa 15 jungen Menschen auf einer Art Schulausflug, vermute ich, die beiden Tourenradler, von denen der eine so ironisch übers Flussradwegen tönte. Sie wollen das Grüne Dach erradeln und in Tschechien ein wenig durch die Sumava, kennen die Strecke offenbar schon – ich verstehe in diesem lädierten, von bissigen Anstiegen seit Tagen geplagten Zustand nicht, wieso man das ein zweites mal macht! Wie masochistisch kann man denn sein.
Okay, Grünes Dach, Stille, kaum Menschen, das hat was. Wenn ich einmal alt und müde geworden bin, könnte ich mir vorstellen, beim Aussichtspunkt nahe Potiga zu sitzen, Radelnden aufzulauern, und ihre Geschichten aufzuschreiben. Velostationäres Radfahren sozusagen. Unterhalb des Aussichtspunkts sollte übrigens einmal ein Staudamm entstehen, was aber wegen Krieges scheiterte.
Bis Blankenstein radele ich an der Saale. NICHT! In einem Supermarkt namens Discord kaufe ich ein für die nächsten zwei Tage und schon stehe ich vor den großen Rs, die mal ins Pflaster eingelassen, meist aber auf Holztafeln den Rennsteig Wanderweg kennzeichnen. Und auch den Radweg, der sich in Teilen mit dem Wanderweg verwindet. Gleich zu Beginn ein Hinweisschild, sechs Prozent Steigung auf 3,2 Kilometern. Geht noch, denke ich und hoffe, oben verläufts dann flach.
Trugschluss. Es sind dieses Aufs und Abs, die einen als Radler so zermürben, gar nicht so steil, aber alle zehn Minuten wieder einen kleinen Vierprozenter hochächzen, vermiest das Radelerlebnis. Zudem garstig kalter Gegenwind. Vierzig Kilometer weit über Waldwege und Landstraßen auf etwa sechs, siebenhundert Metern Höhe. Auch nicht besonders spektakulär. Ich verstehe die zig Wanderer und Wanderinnen nicht, die mir entgegen kommen. Ist der Wanderweg hoffentlich jenseits der mit dem Radweg gebündelten Abschnitte schön? Die Strecke auf dem Rennsteig verläuft meist außerbayerisch in Thüringen.
Bei einem Dorf, dessen Name ich nicht recherchieren kann, weil ich zwischendurch versehentlich den Thüringenteil in meiner App gelöscht habe, gibt es ein Moosdorf mitten im Wald. Viele kleine Wichtelhäuschen auf ein paarhundert Quadratmetern verstreut. Eine alte Tradition, die irgendwann vor vielen Jahren die Schulkinder begonnen haben, erzählt mir ein alter Mann mit trägem Hund. Mittlerweile kommen die Menschen sogar mit Bussen her, um das Moosdorf zu sehen. Und das Rennsteighaus, das im Ort als Museum errichtet wurde.
Rüber nach Lehesten vorbei an einem Aussichtsturm, zu dem ich zum Glück nicht hochächzen muss, weil er laut Hinweistafel geschlossen ist. Alles Schiefer in dieser Gegend. Die Mauern, die Hausfassaden, die Dächer. Glänzendes Schwarz wo auch immer Menschen sich ansiedelten. Gleich hinter Lehesten eine hohe Abraumhalde auf dem Weg zum Freilichtmuseum des ehemaligen Schieferbergbaus. Dort: Hotel, Gästehaus, viele Maschinen, Spalthalle, in der das Endprodukt behauen wurde. Ein Musterdörfchen aus winzigen Modellhäuschen, erbaut durch die Lehenster Dachdecker, und ein gigantisches Loch, das durch den Abbau entstand und in dem sich nun ein idyllischer See gebildet hat.
Vierzig Kilometer Thüringen auf dem Weg rund um Bayern neigen sich bei Klein Tettau dem Ende. Kuriose Grenzgeschichte gibt es zu dem Ort. Viele Infotafeln, ich werds später genauer recherchieren. Der Tettauer Zipfel war bis in die 1970er Jahre ein Kuriosum der Grenzgebung. Drei Häuser standen in der Todeszone des Eisernen Vorhangs, gehörten offiziell zur DDR, waren aber bewohnt und dem Westen zugehörig, bis sie nach einem Gebietskauf oder Tausch offiziell zur BRD kamen.
Solche Grenzabsurditäten erlebte ich auch bei der Umrundung von Rheinland-Pfalz. Jene Gaststätte, durch die angeblich mitten im Gastraum die Grenze verlief zwischen Deutschland und Belgien.
Ich verstehe es manchmal nicht, wie sich Menschen so kleinkariert an Grenzen abarbeiten, nein, ich verstehe es doch, schließlich bin ich Mensch, ticke wie ein Mensch und habe Grenzziehungen mit der Muttermilch aufgesaugt, wie jeder Mensch. Aburd finde ich es? Trifft es das?
Der Tettauer Zipfel ist auf den Radwegen mittels Pflastersteinlinien markiert. Endlich abwärts rollend, den Rennsteig hinter mir lassend, überquere ich die Grenze zwischen Thüringen und Bayern mehrfach. Fast wie beim Blinde Kuh-Spiel weiß ich am Ende nicht, wo ich bin.
Nun schon wieder im Tal nahe Heinersdorf schreibe ich diese Zeilen. Tropenhaus gabs unterwegs zu sehen, nach 18 Uhr schon zu. Die Wärme hätte ich gestern gut brauchen können. In Heinersdorf erfrage ich Wasser bei einer jungen Frau in ihrem Vorgarten. Darfs sonst noch was sein? Kasten Bier, denke ich, nein, nichts, sage ich. Jenseits des Dorfs eine Wiese am Radweg neben einem Gehöft, ich fragte die Besitzerin um Erlaubnis, was es mit dem Wildzelten etwas entspannter macht. Obschon hier wohl niemand etwas sagen würde.
Und nun? Gescheitert oder nicht, Herr Irgendlink? Schaun wir mal. Weiter gehts. Der Tag ist jung. Es regnet nicht. Radel und Köprer sind fit und gebloggt wäre hiermit auch schon. Tag zehn der Reise kann kommen. Bitte keine Anstiege! (Featuring träum weiter, du naiver Trottel).