Wie Kunstpriesterinnen in der Kutte ungebändigt losgelassener Kreativität

Immer wieder erstaunt, wie die Herbstsonne ihren Schabernack mit uns treibt, indem sie sich schräg stehend zwischen Pflanzen und Gebäudeteilen durchzwängt. Als bräche das Licht, eine Alltäglichkeit, durch die feinsten Ritzen der alten Scheune, durch kleine Löcher im Dach, sich bewegend wie der rote Punkt eines Gewehrs mit Langdistanzzielfunktion in einem Agententhriller; selbst der alte Nussbaum, Garant für ewigen Schatten, der weder Pflanzen noch Licht unter sich duldet, ist durchlässig für das Herbstsonnenlicht.

Auf dem Tisch liegt ein Stapel Papier. Zu fünft sitzen wir im Kreis. T., von mir aus gesehen auf 13 Uhr fängt an, greift sich eines der Blätter, beäugt es sorgsam, hebt die Augenbrauen, schmunzelt, schüttelt unmerklich den Kopf, gibt es an L. weiter, nimmt das nächste Blatt, ah ja, da war ich dabei, dreht es um, signiert. Im Uhrzeigersinn laufen die Blätter durch alle Hände. Kunstwerke. Collagen. Guter Stoff. Mit Witz, Charme, teils akribisch ausgearbeitet, manchmal ein bisschen salopp, aber hey, das gute alte Walpodenkollektiv war mal wieder am Werk.

Zwei Tage lang saßen wir beisammen, schnackten, aßen, tranken, scherzten, machten Lagerfeuer, grillten, sangen und gitarrierten, mundharmonizierten bis spät in die Nacht.

Einsamer Mond neben sehr hellem Stern, diagnostizierte ich vorgestern. Der Regen, der uns samstags hart traf, hatte aufgehört. Nur noch QQlka und ich am Feuer. Die alten bärbeißigen Kapitäne, mürrisch schalkig, irgendwas gibt es immer zu debattieren, zu erzählen, aufzufrischen, ‚ey, weißte noch‘, irgendwas gibt es immer in Jahrzehnten gemeinsamer Vergangenheit zu graben, hier ein Scherz, dort ein Schlückchen Wein, Funken stiepen. Es ist 4:27 Uhr, ab ins Bett.

Solche Abende, gefolgt von solchen Nächten gefolgt von solchen Tagen.

Die Cinema Noir Magazine, die H. jüngst bei mir vergessen hatte und die ich ihm per Post nach Frankreich schicken wollte, konnte ich leider nicht retten. Ich hatte – es war vorgestern, Sonntag – gerade Zwiebeln geschält, Essen vorbereitet, während sich die Walpodencrew mit Scheren und Kleber über alles aus Papier hermachte. Wie ein Schwarm Heuschrecken, schlimmer: wie glamourös bescherte Gottesanbeterinnen, noch schlimmer, Kunstpriester in der Kutte ungebändigt losgelassener Kreativität … zu spät. Adieu Crime-Noir-Film-Magazine.

Schon hatten sie die ersten weit aufgerissenen Augenpaare der abgebildeten Schauspielerinnen und Schauspieler gerissen, derb ohne Schere mit viel Weiß und Kante, das gibt Struktur, verleiht Dreidimensionalität, erzählt Brandstifter, schon klebten die Augen auf anderen Gesichtern oder auf Melonen aus einem Heft für veganes Leben, schon formten sich skurrile neue Szenen, meist im Format A4, schon entstanden Geschichten, endeten andere Geschichten, führte Eins zum Anderen. Wir hatten einen Lauf, einen herrlichen, guten, zweitägigen Lauf. Am Ende lagen an die hundert, vielleicht auch zweihundert Kunstwerke auf dem Tisch.

Wir müssen nur noch signieren.

Brillianter Tag. Die Sonne suchte sich ihren Weg durchs Dickicht.

Der ‚Output‘ wird die Grundlage für ein Booklet. Eine CD, eine DVD, eBook oder Buch, wir wissen es noch nicht so genau. Es gibt Tonaufnahmen und Filmmaterial, nun ja, und im enthemmten Quatsch dieser Septembernacht wurde auch ein Band- oder Gruppenname geboren, doch das ist eine andere Geschichte.

Wie Staub rotieren unsere Ideen um ein mysteriöses Zentrum, das allem einen Sinn verleiht, womöglich, womöglich nicht, das etwas Fixes entstehen lässt, am Ende kommst dann noch du ins Spiel, der dies liest, der die Kunst rezipiert.

Eine Abhängigkeitsmaschine

Im Shop gibt es neue, limitierte Kunst: https://shop.irgendlink.de

Sowie das Flussnoten-Poster und das Dukommsthiernichtrein-Poster zum Ausgabepreis. Nur für kurze Zeit.

Nachdem mit dem überkandidelten, von Javascripts und allmöglichem programmiertechnischem Zeug strotzenden Storefront-Theme zu viele Ausfälle diagnostiziert waren, habe ich ein bisschen gedowngradet und ein weniger schickes Theme installiert. Keine Lust, mich in die hochtechnischen Dinge zu denken und Probleme zu lösen … eigentlich verhält es sich mit Software ähnlich wie mit technischen Geräten: ein Werdegang, der in die Abhängigkeit führt.

Was waren das noch Zeiten, als etwa ein Fahrrad noch aus simpler Technik bestand, die man mit bezahlbaren Werkzeugen und einigem Mut selbst reparieren konnte. Selbst als die Technik komplizierter wurde, die Werkzeuge ‚torxiger‘, die Spezialschlüssel immer spezieller, die Verschleißteile sich mehr und mehr Richtung Unikat bewegten, konnte man das Radel meist noch gut selbst warten. Damit ist Schluss, seit die Ebikes auf den Markt kamen und mit ihnen die Software. Diagnosegeräte, Spezialstecker, Programmläufe, die dich per Zeit- oder Kilometerlimitierung in die Werkstatt knechten, wo dir der Händler deines Vertrauens einen horrenden Stundensatz abknöpft.

Was soll ich sagen zur Webseitengestaltung? Eigentlich bin ich darin recht fit, wäre theoretisch in der Lage jedwedes Problem zu lösen, wenn ich denn die Zeit dafür hätte, bzw. sie mir nähme. Ein bisschen CSS-Voodoo hier, eine kleine PHP-Beschwörungszeremonie da. Problem: Denken an Dinge, die einen vom eigentlichen Ziel ablenken.

Lösung Arbeitsteilung: Du, Künstler, machst nur die Kunst, jemand anderes vertreibt sie, noch jemand anderes kümmert sich um die Software und wieder jemand nimmt die rechtlichen Zügel in die Hand. Soweit so gut. Wenn die Arbeitsteilung gerecht wäre. Ist sie aber nicht. Ich hatte mal an gemeinsames Arbeiten geglaubt, an gemeinsames Wirtschaften, an eine gemeinsame Zeitkonvention und an eine gemeinsame Geldkonvention. Mittlerweile steckt in allen Kreisläufen Schmutz, Siechtum, Leid … wie kann ich wissen, wenn mir jemand ein Bild abkauft, ob er das Geld, das er mir gibt, rechtens erworben hat? Wie kann ich wissen, ob die Lebensmittel, die ich kaufe und verzehre, fair produziert wurden, wie sehr die Produktion auf dem Leid von Tier und Umwelt gebaut ist (in der Regel sehrer als man denkt) … ich ufere aus, möchte den letzten Abschnitt löschen. Ein Plugin wäre cool, mit dem man in spontan geschriebenen Blogeinträgen wie diesem hier, Schnipsel extegrieren könnte, die Passage einfach ausblenden, sie in einen Giftschrank sperren oder in eine ungare Ecke, so dass der Leser, die Leserin nicht vom Artikel abgelenkt wird, weil das Autorenhirn mal wieder auf einem düsteren Spaziergang durch eine dystopische Welt war.

Im Shop möchte ich doch einfach nur ein paar Kunstwerke anbieten, im Blog einfach nur ein paar Texte hacken. Der Irgendlink-Shop ist mir eine Abhängigkeitsmaschine geworden. Ich betreibe und pflege keinen anderen Blog, der mit so vielen Plugins bestückt ist wie der Shop. Hier ein Cookie-Plugin, dort was mit DSGVO und als Sahnehäubchen Backup-Plugin, Antispam, eingedeutsche Rechtssicherheit, Schriftartenverwaltung. Ständig kommen Updates (zum Glück gibt es ein Plugin, dass das automatisiert), ständig Änderungen, mal zerschießt es einem die Steuersätze, mal den Warenkorb-Checkout, kurzum, ich bin ein Softwarejunkie geworden und meine Dealerinnen und Dealer sind pfiffige, codende Menschen, die mir das Glück in Form von ‚ich kann dir helfen, Junge‘, lobpreisen. Gefangen in einer endlosen Schleife des Plugin-Installierens, um eine Lücke zu schließen, die ein Plugin gerissen hat, welches rechtlich mittels eines Plugins abgesichert werden muss und so weiter und so fort.

Die Welt verlazarusiert sich selbst. Die menschliche Gesellschaft eine Leiche in den Mullbinden binärer Heilsversprechen.

Und nun? Passagen raus? Im Quelltext verstecken? Löschen? Einen Doppelartikel schreiben (eine Version in ‚ganz‘ als privat markiert und eine abgespeckte Version des Artikels als öffentlich markiert)?

Ich lass das mal so.

Im Shop kam übrigens massiv mein ‚Privat-Hack‘ zum Einsatz. In der Rubrik Daily, die über tausend Kunstwerke enthält, habe ich gut 90 Prozent als privat markiert. Das macht sie unsichtbar, aber es gibt sie noch. Fast schon ein kleiner Werksverzeichnis-Hack, ganz ohne auch nur eine Zeile eigenen Code dafür geschrieben zu haben :-)

So. Genug geplaudert. Ich lass das jetzt wirklich so.

Oh seltene Perle des Mitdenkens und der Empathie

Galoppierende Zeit. Noch vor fünf Uhr hatte ich mich in ein knappes Dutzend Webseiten eingeloggt, um Wartungsarbeiten zu tätigen. Installation eines Plugins, das ein Loch stopft, das ein Plugin riss, welches ein Loch stopft, das wiederum von einem Plugin gerissen … doch halt, halt, halt, so ist es nicht und dies ist auch nur ein Bild dafür, wie man sich, insbesondere im Software-Bereich immer mehr in Abhängigkeiten verstrickt. Was nicht unbedingt übel wäre, es aber ist, denn die Mitmenschen haben nun einmal die Tendenz, vor allem auf ihr eigenes, kleines, privates Wohl bedacht zu sein, denn das Wohl der Masse, in der sie existieren im Auge zu halten und sich dafür stark zu machen. (Wo immer ein Mensch einem anderen Menschen etwas Gutes tun will auf dieser Welt, ist sein eigentliches Anliegen, sich selbst etwas Gutes zu tun und den anderen möglichst klein zu halten, ihn möglichst am Wachsen und der Entfaltung zu hindern. Wenn du irgendwie dich selbst voranbringen willst, programmierst du ein lückenhaftes Gratis-Plugin, dessen Schwachstelle mit einem Kauf-Plugin gepatcht wird und so weiter).

Ich setze das mal in Klammern, denn es ist überspitzt, zu pauschal, depressivpopulistisches Dystopiegeschwätz.

Letztens mit dem Radel auf der Autobahn. Das kommt nur alle zehn Jahre vor, sage ich lachend, denn ich erinnere mich, 2012 per Zufall auf ein brandneues Stück Autobahn in Südnorwegen geraten zu sein. Just am Tag der feierlichen Eröffnung eines Abschnitts nahe Larvik ging es durch Tunnel und über Brücken bis fast hinein in die Stadt. Auf einem Rastplatz gab es Bespaßung, Information, Softeis und Würstchen gratis.

Die jetzige Autobahnfahrt war eher politischer Natur. Etwa zehntausend Leute auf allen möglichen zweirädrigen Gefährten drifteten über die A66 von Frankfurt in Hessens Landeshauptstadt Wiesbaden, wo bei einer Abschlusskundgebung ein Gesetzesentwurf und die dafür nötigen Unterschriften Zehntausender dem Verkehrsminister überreicht wurden. Bis zuletzt hatte die Autobahngesellschaft versucht, per gerichtlicher Eingaben die Demo zu verhindern und es war erst Abends zuvor sicher, dass das Ereignis stattfinden würde. Hier ein Bericht.

Wir standen übrigens genauso im Stau wie Autofahrende. Das Gleiche Problem der Unbedachtheit Vieler vor einem Engpass. Ein deutliches Muster zieht sich durch jedwede Bereiche. Immer, wenn es eng wird, die Ressourcen knapp werden, eine überkritische Masse an Menschen in Unruhe gerät, das selbe Bild. Das Individuum geht in den Nichtzuständigkeitsmodus, verschließt die Sinne, schottet sich ab, kehrt die Ellenbogen nach außen, wetzt die Krallen, bleckt die Zähne.

Hoffnung machte ein Junge im Mehrzweckabteil der Bahn vorgestern, der freundlich fragte, ob es mir nützen würde, wenn er aufstünde, damit ich mein Fahrrad an die Wand lehnen kann. Ja, denke ich still in mich hinein, wenn der abgeschottete Kerl direkt neben dir auch aufstünde. Nein, sage ich stattdessen, ich komme schon klar. Deutsche Bahn Mehrzweckabteil-Limbo. Während der Fahrt stapele ich rein gedanklich alle Koffer übereinander und platziere sämliche Menschen im Mehrzweckabteil auf den freien Plätzen weiter hinten im Zug. Gewinne ein halbes Dutzend Fahrradplätze, ach du feine heile „alle denken mit und sind füreinander da Welt“. Ich Träumer, ich. Ach und der Junge, der mir den Platz anbot ist so alleine, so zurückgelassen zwischen denen, die wegschauen … oh seltene Perle des Mitdenkens, der Empathie.

Ich fing an, alte Freunde anzurufen, Schulfreund I. an seinem Geburtstag am 24. machte den Anfang. Ich musste mich zwingen zum Anruf. Eine Mischung aus Aufregung und Angst. Angst vor allem, schlechte Nachrichten zu erhalten. Dass er womöglich gar nicht mehr lebt und wenn ich nicht angerufen hätte, dann würde er in meiner Erinnerung am Leben sein, so lange, bis mich die schlimme Nachricht doch noch erreicht. Wir hatten zuletzt vor etwa zehn Jahren Kontakt. I. lebt.

Gutso, Herr Irgendlink, kontaktiere sie alle nach und nach, Freundinnen und Freunde, denn im Herzen sind sie ja ohnehin. Wenn man in ein gewisses Alter kommt, ist es nicht mehr so wichtig, ständig zu plaudern und sich zu treffen. Es kristallisiert sich dann ein Fern- und Langzeitfreundeskreis, der es gut verkraftet, Jahre keinen Kontakt zu haben. Es ist als ob die Jahre des sich Nichttreffens nie gewesen wären man sich am Tag zuvor zuletzt getroffen habe. Nicht bei allen, nicht gleich stark, I. ist eher ein Ferner, aber ein Lieber. Also rief ich Leb an, den ich zuletzt 2015 traf. Bei dem ist das Band ganz dick. Liebe pur. So erfahre ich, dass er 2017 beinahe gestorben wäre, 2018 Vater wurde, es ihm gut geht.

Ich sollte eine Freundestour machen durch die Welt, denke ich und schon fabuliere ich eine Zickzackstrecke, per Radel natürlich, aber ach, bloß wann, der Sommer ist vorbei und ich habe viel zu viel am Bein, Garten, bauen, helfen, Carearbeit, das Selbst pflegen … und wie ich vorgestern so durch Rheinhessen radele, und ab und zu Zug fahre, wird mir klar, dass die Freundestour sowieso nie enden würde, dass sie von Anbeginn an läuft, nie unterbrochen, nur eben sind die Abstände der Kontakte so groß, soviel luftleerer Raum dazwischen, dass ich sie nicht als Freundestour erkenne.

Immer unterwegs. Bei Freund QQlka hatte ich logiert zwei Nächte am Wochenende. Der Aufbruch macht mich nervös, sage ich. Ich weiß, sagt QQlka, es ist das Wesen des Aufbruchs. Man sollte nicht stehen bleiben. Und Reisende nicht aufhalten.

Wir lachen.

Abends zuvor standen wir auf Stühlen am überhohen, schrägen Dachfenster, das sich wie ein Maul gen Mainzer Dom aufsperrte, herrlicher Blick über die Stadt. Wie zwei alte Knaben à la Waldorf und Stattler, kommentierten die Welt, rauchten und machten Quatsch; vor zwanzig Jahren noch waren wir durch eine kleine Dachluke hinauf gestiegen, in der luftigen Höhe eines Mainzer Mietshauses balancierend, jaja, und dann kann man mal sehen, wie die Jahre mit einem umspringen, die sich zwischen uns Menschen schieben, wie sie Zipperlein um Zipperlein, Falte um Falte, unkluge Entscheidung um unkluge Entscheidung, Stück für Stück sich unsere Leben nehmen, nein, sie voran bringen …?

Ich muss aufbrechen nun. Mit dem Rad zur Liebsten. Ich weiß noch nicht, ob ich das volle Programm fahre und die 340 Kilometer von der Pfalz in den Aargau komplett radele. Ich könnte auch wen besuchen unterwegs. Freunde und Freundinnen gibt es überall. Die Wenigsten lernen wir je kennen.

 

 

 

Endstation Tweetsucht

Ringsum zieht man in die Schlacht. Es ist ein faszinierendes Phänomen. Ein Wirbel an Wut, Anklage, Widerrede, Gewalt mitunter. Jeder Mensch kennt seine eigene kleine Lösung und bläst sie in diversen sozialen Kanälen ungeniert hinaus in die Welt. Es kommt mir vor wie ein Schwarzes Loch an Streitthemen, in das man unweigerlich hinein gesaugt wird und zum Mitstreiten verurteilt wird, wenn man sich darauf einlässt.

Selbst friedlichste Zeitgenossinnen und Zeitgenossen (Typen wie ich eigentlich) geraten in den Strom, mischen sich in sinnlose Taubenschachdiskussionen ein und ziehen ihre Freundinnen und Freunde mit hinein.

Von Facebook hatte ich mich schon vor zwei Monaten zurückgezogen und das klappt auch recht gut. Instagram dito. Nur Twitter spült mir noch den alltäglichen Kleinkrieg ins Hirn. Endstation Tweetsucht.

Nachdem ich die letzten Tage dumme Leute und Bots (ich habe die seltene Gabe, Bots fast immer auf den ersten Blick zu erkennen und sie einzuordnen) blockend auf Twitter unterwegs war, habe ich die Reißleine gezogen und mich abgemeldet. Von der Radikalmaßnahme, den ganzen Account zu löschen, sah ich ab, da dies auch bedeutet hätte, dass einige wichtige Schlagworte, die ich selbst geprägt hatte, ihre Wurzeln verlieren würden. Niemand könnte mehr nachvollziehen, worum es ursprünglich unter ging, oder was es mit den auf sich hat, mit und was zum Teufel ist denn , und

Mal schauen, wie lange ich durchhalte. Blogtexte wie dieser werden automatisch zu Twitter gepostet. Tweet gewordene Sackgassen, in denen du nie eine Antwort erhalten wirst.

Im Grunde verwandele ich mich selbst in einen Bot.

 

Von Stechmücken, Tyrannen, von Viertaktgebrumm und Elend in zehntausender Potenz

Ich erschlug die einzige Stechmücke am Hof. Ich reparierte die Pumpe um einen übrig gebliebenen Kubikmeter Wasser aus einem Fass zu saugen und im Garten zu verbringen. Ich dachte über Permakultur nach. Über Wandel, Hoffnung, Zukunft, Perspektive jeder Art.  Über Despoten, und abgrundtief ungerechte Gerichtsurteile (dass es überhaupt eine Anklage geben kann, wenn jemand Kritik übt, ist am Abscheulichsten), die es mir per Nachrichten ins Hirn spülte. Der Weg vom autoritären Tyrannen zum Thema Geld mag einem schwer nachvollziehbar sein. Ein paar Balkenmäherrunden später sinniere ich jedenfalls über Geld und Wirtschaftskreisläufe und darüber, wie schmutzig die wirtschaftliche Interaktion ist. Das onkeldagoberteske Geldbad, das in den Lustigen Taschenbüchern so niedlich wirkte, hat eine schreckliche Fratze. Ein Bad im Elend Abgehängter.

Ich sollte Geld nicht mehr benutzen. Es ist wie Luft und Wasser, trägt den Schmutz korrupter Geschäfte in sich. Sobald du es nutzt, machst du dich mitschuldig. Nein, es ist schlimmer als schmutzige Luft und schmutziges Wasser. Es lässt sich nicht reinigen. Die Schuld, die darin steckt ist imateriell. Mit jedem Einkauf unterstützt du autoritäre Systeme, förderst Unterdrückung, Menschenhandel, Gewalt, Krieg, Sklaverei. Homöopathisch verdünntes Elend steckt in fast jedem Handel.

Ich mähte schweren Herzens den geschundenen – ja, was ist das überhaupt, dieses hellbraune Gewirr aus Halmen, teils einen halben Meter hoch, aus dem ein paar gerade noch grüne Brennnesseln ragen, durchsetzt von vertrocknetem Laub – Rasen? Ist es nicht! Seit Mai habe ich die Fläche unter den Obstbäumen nicht mehr gemäht, habe überhaupt nichts gemäht, was leidet unter der Trockenheit, dachte, das kommt schon gut, wenn du es verschonst, das Grün. Denkste. Nun musste es sein, denn die Äpfel werden reif und ich habe keine Lust, im hohen (ahahaha, er hat es hoch genannt) Gras unter den Bäumen nach ihnen zu suchen, also kurbelte ich den Balkenmäher an, sonor brummendes Benzinding, und zog meine Kreise unter allen zu erntenden Bäumen in der Südwiese. Es gibt Quetschen. Viele liegen schon unten. Voller Würmer. Aber es gibt heuer immerhin welche. Quitten hängen auch ein paar. Hmm? Bevor ich den Reinhard-Hamann-Baum mähe, sammele ich wohl besser die schon gefallenen Äpfel auf. Viele sind es nicht und klein sind sie. Zum Saft keltern taugen sie dennoch.

Einen ganzen Korb voll habe ich aufgelesen und als ich nach oben schaue, sehe ich, dass kaum noch welche am Baum hängen. Und dass die wenigen ganz winzig sind wie die gefallenen Äpfel, also brauche ich die Wiese unter diesem Baum gar nicht zu schinden.

Den Reinhard-Hamann-Baum habe ich nach meinem Künstlerkollegen benannt, der vor einigen Jahren sein Zelt unter dem Baum aufgeschlagen hatte. Es war schon Herbst. Zuvor hatte er die gefallenen Äpfel auf einen Haufen gelesen, fast eine Kunstaktion. Während eines Festivals blieb er neben anderen Zeltleuten ein paar Tage am Hof. Das muss vor zehn Jahren gewesen sein. Vor drei Jahren starb Reinhard. Seitdem heißt der Baum nach ihm. Ich sollte für jeden verstorbenen Freund, jede verstorbene Freundin einen Baum benennen.

Gedankenverloren schufte ich mich voran zur Nordwiese, wo weitere Apfelbäume stehen. Uraltes Gewächs, kaum beschnitten, aber der Golden Delicious Baum trägt jedes Jahr viele kleine wohlschmeckende Äpfelchen, die einen gar köstlichen Saft ergeben. So schiffe ich mit dem Balkenmäher Spiralen fahrend unter den Bäumen. Trage Helm. Wie oft habe ich mir schon den Kopf gestoßen an den quasimodoesk gewachsenen Krüppeln. Wie oft fluchte ich. Wie oft war ich froh um den Helm. Da geht der Schlag nur ein bisschen ins Genick und es gibt wenigstens keine Schürfwunde. Wie oft hörte ich, selbst durch die Ohrschützer, ein breites Apfelplumpsen auf den weichen Boden. Dieses Mal nicht. Ich schaue nach oben. Der Delicious ist fast leer. Ein einziges Äpfelchen baumelt irgendwo. Sonst keine Früchte. Und von den Jona Gold, den Goldparmenen und wie sie alle heißen, sind auch kaum Früchte zu erwarten. Zwetschgen große Etwase hängen an den Zweigen. Mehr noch. Bisher hat mich noch keine Wespe bedroht. Sie mögen es nicht, wenn man sie in den fauligen, schon am Boden liegenden Früchten mit dem Balkenmäher überfährt. Dann umschwirren sie den Grasmähenden Agressor bedrohlich. Was war das für ein Spurt, als ich unter einem Quittenbaum einmal ein ganzes Wespennest erwischte. Balkenmähermäher müssen lange Beine haben, eine gute Kondition, Reflexe; sie müssen die Eigenschaften von Fluchttieren und Räubern zugleich in sich tragen, um zu bestehen.

Ich bin ein Totengräber. Fast kommen mir die Tränen. Ich wandele wie ein Dead Man, die Kugel längst im Herzen, durch fleisch gewordene Dystopien. Der Balkenmäher ist mir Pferd genug, zwei glatzköpfige Umweltdetektive sind mir auf den Fersen …

Ich habe die einzige Stechmücke am Hof getötet.