Normalerweise treffe ich Entscheidungen, was den Weg betrifft, oft erst direkt an der Kreuzung oder Abzweigung. Das hat fast schon etwas quantenphysisches, wenn der Verlauf meiner zukünftigen Wegstrecke bis zum Zeitpunkt des Abzweigens zwei gleichwertig wahre Zustände annimmt. Wie ein Elektron, das sich in einer Wolke bewegt … okay, das ist natürlich ein bisschen pseudowissenschaftliches Gelaber.
Am gestrigen Morgen nahe Ingelheim auf meinem Wildzeltplatz war mir fast zu hundert Prozent klar, dass ich streng der Rheinland-Pfalz-Radroute folgen werde und nicht, wie in meiner Projektkarte skizziert, einen Abstecher zum Mittelpunkt von Rheinland-Pfalz mache. Zu unüberwindlich schien mir der Hunsrück, zu nah der Westerwald und warum sollte ich mir auf der Reise zwei solcher ottonormal-alpiner Herausforderungen antun? Kurzum, fröhlich trallala in den Morgen radelnd ging es erst einmal Richtung Bingen entlang des Rheindeichs, vorbei an den Überresten der alten Rheinbrücke – hieß die nicht Hindenburgbrücke – ein fast schwarzes Monster von Brückenkopf, der nach dem Weltkrieg noch übrig geblieben ist.
In Bingen ein kleiner Mann mit Rollkoffer, weit außerhalb, fern jeglichen Hotels oder Bahn oder Busstation, ratternd über holprige Strecke und ich wundere mich ein wenig, was ein Businessmensch mit Köfferchen hier so tut, bis ich näher komme, der Kerl ganz zerlumpt mit schmuddeliger Cordkose. Beklemmendes Gefühl, dass all sein Hab und Gut sich in dem winzigen Köfferchen befinden mag, mit dem unsereiner noch nicht einmal wagen würde, nach Mallorca zu fliegen.
Wieder gaukelt meine utopische App-Idee im Kopf, die Pflichtapp zum materiellen Ausgleich in der Welt, die so ähnlich funktioniert wie die Virus-App. Immer wenn man einander begegnet, werden die Kontostände abgeglichen und beide sich begegnenden erhalten die gleiche Summe auf ihr offenes Lebensgeldkonto, so dass der Reiche und der Arme nach der Begegnung gleich viel Geld auf dem Konto haben. Im weltweiten Einander-Begegnen wäre somit eine automatische Balance von Reichtum möglich; okay, die Sache ist hanebüchen und auch mehr so eine Gedankenspielerei. Zudem kaum jemand bereit wäre, sich auf das Experiment einzulassen.
Im vorliegenden Cordhosenmann-Fall wäre ich nicht allzuviel ärmer, was das Bargeld angeht, aus der Geschichte hervorgegangen. Und ein Verrechnen von Europennerfahrrad mit Cordhose und Rollköfferchen wäre ja nicht machbar.
Seisdrum, ich passiere das Binger Loch, die Nahemündung in den Rhein, den Mäuseturm, rein ins Mittelrheintal und wie schon erwähnt, beginnt dort für mich mehr oder weniger Neuland und auch die Alltagsgedanken, die mich haben rennen machen rheinabärts, fallen plötzlich ab und ich denke wieder über den Mittelpunkt von Rheinland-Pfalz nach und einen Abstecher dorthin. Noch etwa 30 Kilometer Luftlinie. Weiß nicht, was mich geritten hat. Der Punkt ist doch nur eine fiktive, geografische Spielerei von Tourimusexperten im Bund mit Geografinnen. Laut Webrecherche ohnehin nur ein bräunlicher Hunstrückfelsbrocken mit Landkarte und umfriedet von Büschen.
Wenn es ein Hinweisschild nach Emmelshausen gibt, gebe ich einem Gottesurteil freien Lauf, dann kurbele ich zum Mittelpunkt von Rheinland-Pfalz. Wenn nicht, dann gehts ab Sankt Goar auf die andere Rheinseite und hinauf in den Westerwald. Ohnehin steil genug.
Plötzlich ein Radwegschild nach Rheinböllen. Irgendwie meine Richtung Mittelpunkt, oder? Blick in die Karte, jawohl. Die Route führt von Niederheimbach über Rheinböllen und Kirchberg bis fast nach Bärenbach, unweit des Hunsrück-Flughafens und des Mittelpunkts.
Schon schwitze ich an einer Steigung bis 7 Prozent, so die Warnschilder auf den Hinweisen. Acht Kilometer im ersten Gang und ab Rheinböllen weiter aufwärts, mal auch abwärts in langen Wellen und in einer Art Böser Cop, noch böserer Cop wechseln sich Gegenwind und Steigung ab und manchmal dreschen sie gemeinsam auf mich ein.
Bemerkenswert ist das, schon von weitem sichtbare, Städtchen Kichberg mit seinen zwei markanten Türmen, einer Kirche und einem gelben, einem Leuchtturm ähnelnden alten Wasserturm. Das Monument des Hunsrücks. Kirchberg sieht man praktisch von allen Seiten, von denen man sich der Stadt nähert. Einkaufen. Rumtrödeln, liebäugeln, beim Mittelpunkt von Rheinland-Pfalz zu übernachten, der nur noch knapp zehn Kilometer entfernt ist.
Der Weg dorthin wieder eine bergauf-bergab-Prügeltour, die letzten fünf Kilometer auf schotterigen Waldwegen. Fast bin ich an die spanischen Vias Verde erinnert, speziell an die noch nicht ausgebaute VV, die von Gandia ins Landesinnere führt. Ein Holpern durch nichts. Und im Spalier vieler unzähliger, höcht kreativ gestalteter Hochsitze.
Der Mittelpunkt? Tatsächlich eher unspektakulär, aber ein feiner, angenehmer Ort mit Sitzbänken und ich lungere eine Weile herum, bald 18 Uhr, was tun? Hier zelten? Wind pfeift. Grillhütte nebenan, da könnte ich auch pennen.
Noch zwei Stunden hell. Nicht müde, noch hungrig, was sollte ich hier tun? Zwanzigtausend Meilen unter dem Hunsrück, scherzt mein innerer Julesvernisator, Reise zum Mittelpunkt des Landes …
Ich schwinge mich wieder aufs Radel und schufte mich auf fast identischer Strecke zurück nach Simmern, knapp zwanzig Kilometer, aber hey, nun gehts viel leichter. Da merkt man im Ab erst einmal, wie anstrengend das Auf gewesen wäre, wenn man den Schmerz und die Mühsal zugelassen hätte.
Gegen Dunkelheit treffe ich auf den Schinderhannes-Radweg, 39 Kilometer Bahntrasse von Simmern nach Emmelshausen. Auch er stand auf meinem Tourplan als Option und da er parallel zum Rhein führt und ich später Richtung Sankt Goar absteigen kann, schlage ich die Route ein.
Garniert mit einer Panne. Die Kette rattert, das Rad fühlt sich schwammig an und ich bemerke, dass ich zwei der vier Befestigungsschrauben verloren habe, mit denen das kleinste Kettenblatt verschraubt ist. Das ist noch nicht dramatisch, da die Bahntrasse keine nennenswerte Steigung hat, aber spätestens auf der anderen Rheinseite erwartet mich ein barbarischer Zahnradbahnradweg … Hoffen also, dass ich in Kastellaun einen Radladen finde, wo man mir solche Schrauben verkaufen kann.
Just vor Niedergang eines Regenschauers steht das Zelt auf einer Wiese am Bächlein Külz.