Kunstmaschine

In dem „Knie“, das der Rhein-Rhone-Kanal mit dem nördlichen Colmar-Stichkanal bildet befindet sich ein frisch geeggtes Feld, gewiss mehrere Hektar groß, so viel ist in der Abenddämmerung zu erkennen. Es reicht von den die Kanäle säumenden Heckengebieten bis zu anderen Heckengebieten, durchzogen von kleinen Inseln aus Hecken, aber im Grunde ist es ein gut bearbeitbarer Acker, den man getrost mit einem GPS gesteuerten Gefährt bearbeiten könnte. Auf den Zentimeter präzise ließe sich die Saat ausbringen; vermutlich könnte man die kleinen wilden Inseln aus unwüstigen Hecken per App einprogrammieren, seine Hängematte zwischen zwei Robinien aufzäumen und gemütlich darin baumeln, während der Traktor stur seine Arbeit verrichtet.

Von Süden steht ein strammer Wind aus Basel, der den Radreisenden unweigerlich Kanal nordwärts drückt. Ein Lüftchen, das ihn umschmeichelt und ein Gefühl von Aufgehobenheit und des immer so weiter Machens aufkommen lässt. In der Tat könnte ich mir gut vorstellen mich weiter treiben zu lassen, zwar schmerzen die Oberschenkel. Eben an Kunheim vorbei radelnd hatte ich ein bisschen Mühe, das linke Bein während der Fahrt am Krampfen zu hindern. Die Banane, die ich mir bei einer Pause gegönnt hatte, zeigte schon Wirkung, sowie ein Pülverchen Magnesium, das man mir in einer Apotheke vor einigen Wochen als Dreingabe zum Kauf schenkte und das ich in die Trinkflasche gemischt hatte.

Ja, doch, ich würde es mir zutrauen, in die Nacht zu radeln, stets dem fein geebneten Kanalradweg zu folgen. Bis Straßburg sind es noch etwa sechzig Kilometer. Der Wind solle sogar noch aufstarken und er solle den ganzen nächsten Tag vorhalten aus südlicher Richtung und erst am Donnerstag sich gen Osten wenden, gegen mich, doch dann wäre ich längst daheim. Ich Mensch ohne Ruhewillen, ich kleiner, verrückter Hobby-Transcontinental-Radler. Nur noch radeln und denken und radeln und nichts tun, sich nicht auf die Wehwehchen im Körper konzentrieren nach Möglichkeit, denn, es geht doch, trotz Muskel und Po und Müdigkeit, das Radel nebst Gepäck voranzutreiben. Das einzige Limit ist der Kopf und was er aus der Reise macht. Ja ja, in diesem Moment am „Knie“ des Rhein-Rhone-Kanals, nordwärts vom Wind umspült, könnte ich mir durchaus vorstellen, die Nacht zu durchradeln bis zur tiefsten Schwärze und wieder heraus. Der Kanalradweg führt schnurgerade und topfeben und in nördlicher Richtung sogar tendenziell abfallend nach Straßburg und auch durch Straßburg hindurch, das sind etwa fünf Kilometer Stadtradeln, etwa 15 Kilometer in der Agglomeration, kann man den Radwegen entlang der Gewässer folgen, ohne auch nur einem Auto zu begegnen.

Ich bin müde. Auch. Vorankommenswillig. Auch. Schlafwillig. Auch. Aufgekratzt ein bisschen. Das stete Vorantreiben im Wind aus Süden macht die Aufgekratztheit nicht besser, aber auch Schlaf, weiß ich, ist nicht so leicht zu finden, wenn man aus dem laufenden Betrieb des Radreisens abrupt stoppt, das Zelt aufbaut, versucht, sich außer Betrieb zu nehmen.

Der Lagerplatz am Kanalknie ist verlockend. Neben dem frisch geeggten Acker liegt ein Stück Brache mit einem Fleckchen Wiese, nicht zu hohem Gras. Vom Kanalweg führt eine Art Zufahrt ein paar Meter hinunter aufs Plan. Gerade genug Platz zum Zelt aufbauen. Ich stoppe, stelle das Fahrrad ab, muss ohnehin die Blase leeren, was dem stoischen Radfahren stets einen seltsamen abgehackten Takt alle paar zig Minuten verleiht, man aus dem Takt gerät. Auch das Hirn schaltet ab. Oder um. Oder an. Die Sorgen der zu durchradelnden Nacht liegen plötzlich vor mir. In Straßburg neige ich dazu, mich zu verirren. Es läuft selten rund, wenn ich die Stadt durchquere, selbst dann nicht, wenn ich mich an die eiserne Radreisendenstraßburgdurchquerungsregel halte: „Bleib immer am Wasser, dann kommste durch.“ Kurzum, mir graut ein bisschen davor, um elf Uhr abends nach Straßburg reinzuradeln. Es gibt im Süden der Stadt einen Ort am Radweg bei einem kleinen Platz in der Nähe der Vaubanbarriere, die das Gewässer der Ill reguliert, an dem ein paar Bänke stehen, auf denen immer seltsame Typen herumlungern. Meist Jungs oder Männer, die die Vorbeifahrenden beäugen, Musik hören, plaudern. Zumindest kommt es den Vorbeiradelnden und Flanierenden so vor, als werden sie von diesen Gestalten beäugt. Zumindest kommt mir das so vor. Mit der Vorstellung, nachts an der Stelle, sie ist nur etwa zweihundert Meter lang, ein Engpass ein bisschen, beäugt zu werden, womöglich als potentielles Überfallopfer identifiziert zu werden, fällt mir die Entscheidung, nicht in die Nacht zu radeln leicht.

Die Krämpfe in den Beinen werden auch nicht besser, da kann ich noch so viele Bananen essen und Pulver in Wasser auflösen.

Ich baue das Zelt auf. Esse Brot, Käse, Wurst, trinke Saft, später ein Bier. Mühsam nur kann ich in den Schlafsack kriechen. Muss sehr vorsichtig sein in den Bewegungen wegen der Krämpfe. Dämmere. Schlafe vermutlich. Löchrig. Unruhig. Einen Kilometer südlich ackert jemand mit dem Traktor. Das Brummen lässt sich auch durch Ohrenschutz nicht wegdimmen. Die Kirchturmuhren ringsum schlagen. Elf und Zwölf erlebe ich noch, später muss ich wohl geschlafen haben.

Der Reisetag war … nunja … anders als erwartet. Ich mache die Tour „Mit dem Rad zur Liebsten“ ja nicht zum ersten Mal und kenne somit die Strecke fast in- und auswendig. Seit 2016 absolviere ich die Strecke von der Pfalz durch Lothringen, das Elsass in den Aargau nun schon mindestens ein Mal pro Jahr mit dem Fahrrad. Es ist mein Tribut, den ich zum Klimaschutz leiste und auch mein Tribut, den ich meinem Körper zolle. Ich hatte es einmal als den „jährlichen Herz- und Nieren-Check“ bezeichnet, also eine Art waghalsiger Selbsttest, bei dem der Körper und die Organe zwangsläufig auf Alltagstüchtigkeit geprüft werden. Durch schlichten Gebrauch bei mäßiger Belastung.

Die heurige Herz- und Nieren-Tour ist mit Mitte März schon verdammt früh. Normalerweise hatte ich die 350 Kilometer „Mit dem Rad zur Liebsten“ im August absolviert.

Umso erstaunter bin ich, wie fit ich doch bin. Direkt nach dem Winter, noch kaum im Alltag geradelt, lege ich eine rasante Tourleistung hin mit allen Wettern und allen Unbilden, die das Radreisen mit sich bringt. An dem Tag ins Knie des Stichkanals stehen sogar 140 Kilometer auf dem Tacho. Es ist der erste Tag der Rückreise aus dem Aargau. Ich hatte mich morgens verirrt. Nahe Rheinfelden geriet ich versehentlich auf den Radweg Richtung Lörrach. Er führt durch die Berge hinüber ins Wiesental und dann abwärts nach Basel. Den wollte ich schon immer einmal ausprobieren. Und so bleibe ich, obwohl es nur ein zwei Kilometer wären zurück zur „richtigen“ Strecke im Rheintal, auf dem Radweg nach Lörrach. Stoisch nicht allzu steil berghoch. Sehr schöne Strecke, muss ich sagen, verirre mich schließlich im Wald, gerate auf Forstwegen entlang der A96 ins Niemandsland. Eine Schar von vier Frauen mit vier Hunden, hysterisch kreischend, daran erinnere ich mich, das war lustig, denn einer der Hunde hatte ein Wasserloch entdeckt, gerade so groß wie er selbst und die Frauchen versuchten ihn kreischend davon abzuhalten, hinein zu springen. Ein schöner, langhaariger Zottel. Zu spät, schon wälzt er sich und die anderen Hunde tun es ihm nach und als ich näher an die Szene rücke, entpuppt sich die Pfütze als kleine Schlammsuhle. Alleine diese lustige Szene sich suhlender Hundchen war doch den Umweg und die Schufterei durch die Berge wert, Herr Irgendlink, oder?

Ein bisschen fluche ich trotzdem. Wegen des Umherirrens. Immer wieder das Handy auspacken und schauen, ob ich noch in der Nähe des auf der Open Street Map ausgezeichneten Radwegs bin. Teils radele ich auf dem Drei Länder Radweg. Von dem kenne ich ein paar Eckdaten, denn er kreuzt meine schnurgerade Pflichtroute entlang der Kanäle und des Rheins hin und wieder. Theoretisch könnte ich also dem Dreilandradweg folgen und käme irgendwann in Haut Hombourg oder Ottmarsheim wieder auf den Kanalradweg. Tue ich natürlich nicht. Wer weiß, welch alpinistische Extravaganzen die Tourismusroute bereit hält.

Nahe Lörrach über die A 96. Der Anblick der im Talkessel gelegenen Stadt, nunja, nicht einladend. Hässlich gar aus dieser Perspektive. Ich durchquere den recht großen Ort im nachmittäglichen Getümmel auf Hauptstraßen bis ich an dem Flüsschen Wiese endlich wieder eitel Flußradwegeln vorfinde. Basel ahead. Gerade mal neun Kilometer länger ist meine Odyssee durch den Südscharzwald zu meiner normalen Strecke. Und viele Höhenmeter. Und gefühlt ein zwei Stunden. Schon rechnet mein auf Betriebswirtschaft und Effizienz gedrilltes Hirn, wie weit ich wäre, wenn ich den Schlenker nicht gemacht hätte. Die Dreiländerbrücke bei Weil ist eine Fußgänger- und Radlerbrücke. Hier Weil, direkt daneben Basel und drüben in Frankreich Hunigue, Hüningen. Der Kanal. In Ottmarsheim könnte ich jetzt schon sein. Nein, ich bin nicht traurig. Ich reue nicht.

Vielmehr erkenne ich sogar etwas. Den Fehler in meinem Experiment, mit dieser Radtour einen Test unter Originalbedingungen durchzuführen für mein geplantes Projekt ans Kap.

Es ist so vieles falsch an diesem Experiment. Ich radele mit dem Ziel, die 350 Kilometer in drei Tagen zu schaffen, vielleicht sogar in zwei (jaja, ist machbar). Richtig wäre, sagen wir mal 70 Kilometer im Durchschnitt und überhaupt, das Experiment nicht an der zeitlichen Distanz von „Tagen“ festzumachen. Richtig wäre auch, den Wetterbericht zu ignorieren. Richtig wäre, öfter mal anzuhalten, öfter mal ein Foto zu machen. Öfter die Gegenwart sacken zu lassen, anstatt sie im Rund der Pedale kontinuierlich zu vernichten. Richtig wäre, die gute alte „Kunstmaschine“ zu reaktivieren.

Hier wirds etwas kompliziert und ich muss etwas weiter ausholen, ein paar Jahre zurückblicken in die Hochzeiten des kunstschaffenden Radreisens und Schreibens. Jaja, liebe Akten, es sei notiert, dass die Jahre 2012 bis 2016 die Blütejahre der Kunstmaschine waren und auch die Blütejahre des Appspressionismus.

Man nehme eine menschliche Einheit, sagen wir einen Künstler oder Blogger, reichere die Einheit an mit einem Reiserad und entsprechender Outdoor-Ausstattung, gebe  ein Smartphone hinzu, Apps, Internetanschluss permanent, ein Blog als Schaltzentrale, etliche Gepäckträgerreisende und eine alles sorgsam koordinierende Homebase, die am heimischen Rechner Hintergrundinformationen beisteuert. Sowie ein fernes Ziel (zum Beispiel das Nordkap oder Gibraltar), den dergestalt ausgestatteten Reisenden lasse man einfach machen. Et Voila. Kunstmaschine.

Rede ich wirr? Egal. Ich möchte es an dieser Stelle nur einmal beschrieben haben, um anzudeuten, was einst war, was nun nicht mehr ist und was womöglich nie wieder kehren wird, was aber nicht bedeutet, dass es nie gewesen sein wird.

Die Kunstmaschine – grob gesagt ich – unterwegs darüber schreibend und live aus dem Sattel bloggen war einmal und sie war trotz aller Unzulänglichkeiten ziemlich gut. Ich trauere ihr, der Maschine, ihm, dem Zustand, in dem ich mich ein paar Wochen meines Lebens befand, hinterher … so läuft das Gefühl des erlittenen Verlusts mit in meiner unter „Realbedingungen“ stattfindenden Tour entlang der elsässischen Kanäle … nein nein, traurig bin ich nicht. Das ist das falsche Wort. Wehmütig?

Jetzt ist jetzt und bald ist bald und wenn ich es denn tatsächlich wahr mache, noch einmal ans Kap zu radeln, dann wird es etwas eigenes und die Kunstmaschine kehrt zurück, formt sich von neuem, wird etwas Anderes oder das Gleiche oder in sich selbst renoviert. Steuern kann ich es jedenfalls nicht und jaja, so bin ich die Kilometer durch die kleine elsässische Camargue nördlich von Hunigue doch auch ein wenig gefasst und zufrieden. Ich muss mich nicht zwingen, in den recht harten Kunstmaschinentrott zu verfallen und auf Teufel komm raus einen Blogartikel rausjagen und Kunstfotos auf dem Handy zu prozessieren, sie womöglich noch als radelnder Marketender direkt übers Netz zu verkaufen.

Nichts muss ich.

Der Südwind zaust am Zelt in meinem kleinen grünen „Knie“ am Canal-de-la-Rhone-au-Rhin. Ich liege wach und lausche dem Traktor. Wenn er wendet, herrscht für ein Moment Stille, bis er wieder Vollgas gibt. Die Kirchturmuhr mag eins oder zwei geschlagen haben. Ich könnte die Tastatur auspacken und einen Blogartikel schreiben und alles wäre beim Alten.

Egal was kommt, Kap oder Nichtkap, UmsLand Hessen oder Baden-Württemberg, Du bist herzlich eingeladen, auf meinem virtuellen Gepäckträger Platz zu nehmen.

 

6 Antworten auf „Kunstmaschine“

  1. Ich glaube, diese Erkenntnis des nichts-müssens ist der einzig richtige Schritt in die Freiheit, die dann wiederum eine unendliche Vielzahl an Möglichkeiten bietet.

    1. Das stimmt. Aber das Gefühl hinkt dem Nichtmüssen leider allzu oft hinterher. Ich arbeite daran. Obwohl ich das ja nicht müssen sollte :-)

  2. Was Ulrike sagt. Und ja, es ist mir auch ein wenig wehmütig zumute. Was war, lässt sich nicht mehr so wiederholen. Zu viel hat sich im eigenen Leben und in der Weltgeschichte verändert. Aber es kann etwas Neues werden, das sich an Altem befruchtet. Es wird gut, hoffe ich. Wissen tun wir es nicht, aber ich hoffe es sehr. Und ich wünsche dir noch viele kleine und große kunstmaschinelle Abenteuer.

    1. Getreu den soundsoviel (fünf oder sieben) Phasen des Irgendwas (Trauer, Veränderung …) nähere ich mich der ultimativen Phase der Akzeptanz im bald zu Ende gekurbelten Radlerleben,

  3. „Nichts muss ich.“ Ist nicht gerade dies die grosse Verheissung des Reiseradelns? Ob ans Kap oder ganz woandershin: Jeder Tag, jede Weggabelung, jede Begegnung macht eine neue Route, ein neues Ziel möglich. Wenn die Kunstmaschine bloggen oder fotografieren will, macht sie das. Sonst radelt sie einfach. Wir Mitlesende reisen sowieso in Gedanken mit und freuen uns über deine Erlebnisse.

    1. Das stimmt. Ich erinnere mich. Die „kurze“ Tour in die Schweiz und zurück hat mich verändert, merke ich, bzw., ich merkte, wie mich der Alltag verändert hatte. Es war nicht einfach, den Weg, rein vom Gefühl her zurück ins Reisen zu finden. Das dauert einige Tage, bis man wieder „weichgeklopft“ im Sattel sitzend in den Nichtsmuss-Zustand kommt.

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