Die Fluchtgeschwwindigkeit des Radreisenden #mdrzl

Das Handy ist aufgewärmt. Ich auch. Ich hatte es bei Sonnenaufgang aus der Seitentasche des Zelts genommen und in den Schlafsack gelegt. Was gäbe ich jetzt um einen Kaffee. Sooo müde. Der Körper will nicht auf Touren kommen. Aber nein, der Herr musste ja das „Besteck“ daheim lassen, sprich den Trangiakocher und die zwar schäbige, aber gutmütige Brühe, die ein löslicher Kaffee im Zelt abgibt.
Das Zelt steht in unmittelbarer Nähe der Gedenkstätte für ein Zugunglück vor vielen Jahren nahe Straßburg, genauer gesagt bei Vendenheim neben einer Art Gleisdreieck. Durchwirkt von Straßen und Gleisen. Abends donnern noch einige Züge vorbei. Nachts zum Glük nicht. Unheimlich sind die nicht beleuchteten Güterzüge, die man zwar hört, aber kaum sieht. Zwischen zwei spitz aufeinander zu laufenden Schienensträngen ist ein kleiner Park, Gedenktafel, schön angelegt mit Wegen und ein paar Skulpturen und unaufdringlichen Monumenten. Ich weiß nicht, wieviele Menschen bei dem Unglück umkamen. Mein Zelt steht natürlich außerhalb des Parks auf einer Wiese. Nur etwa hundert Meter westlich führt der Rhein-Marne-Kanal mit seinem grandiosen Kanalradweg.
Mit dem Rad zu Liebsten, Hashtag mdrzl heißt mein Auftakt-Radelprojekt 2023. Von der Pfalz, wo ich wohne bis in den Aargau, wo die Liebste wohnt, sind es etwa 350 Radelkilometer. Eine Kurzstrecke, sage ich immer gerne kühn.
Aber ich habe Respekt davor. Die Strecke ist nicht nuuur flach und sie führt nicht nuuur auf feinen Etepetete-Radwegen. Drei bis vier Tage muss ich dafür rechnen, 18 bis 20 Mannsattelstunden. Im letzten Jahr hatte ich die Route einemal in zwei Tagen geschafft. Nun rechne ich mit vier, so kurz nach dem Winter, das Radeln nicht mehr gewöhnt. Die Kurztouren zu Journalist F. und nach Mainz per Fahrrad und Zug letzte Woche stecken mir noch in den Knochen. Bin ich denn überhaupt noch fit genug, überhaupt noch in der Lage, ein solches Großprojekt wie AnsKap anzugehen? Der Zweifel radelt immer mit und der Körper zwickt. Ich finde, der Hashtag Geriarctix, ein Wortspiel aus „geriartrisch“ und „arktisch“ (englische Schreibweise), hat durchaus etwas.
Gegen kurz nach zwölf komme ich am gestrigen Tag endlich los. Noch fertig gepackt am Morgen und einen Artikel für die ADFC-Seite geschrieben. Ich traue mir nicht zu, unterwegs auf der Handyoberfläche mit dem Typo3-System Artikel zu bearbeiten, will es gar nicht erst ausprobieren, obschon, sollte ich, muss ich ja irgendwann doch das Büro ganz ins Zelt verlegen.
Pünktlich beim Losradeln begann es zu regnen. nur leichter Niesel, ein guter Radfahrregen, also eigentlich nicht schlimm, aber der graue Schwerlasthimmel drückt das Gemüt.
Runter in die Stadt. Frau W. getroffen, kurz geschwätzt. Sie lud mich ein in die Druckerei, ein bisschen plaudern, vielleicht etwas drucken, aber nein nein, sonst komme ich ja nie weg. Am Anfang ist die Gravitation der Heimat noch immens. Man könnte es analog zur Fluchtgeschwindigkeit lesen, die von Nöten ist, einen Planeten zu verlassen oder ein Sonnensystem oder ein ganzes Unversum. Je näher du noch am Kern, an deiner Heimat bist, desto schwerer fällt es.
Winde mich durch Zweibrücken auf den Bahntrassenradweg am Hornbach und bin schon bald in Frankreich. Über Volmunster und Schorbach nach Bitche, wo ich im Intermarche einkaufe. Scheint es nur so, oder ist es hier billiger? Zwei Käse, eine Wurst, Baguette und ein Trinkjoghurt für unter 15 Euro. Dem entgegen setze ich zwei widerliche Sandwiches und zwei labbrige Käsebretzeln im Mainzer Hauptbahnhof jüngst.
Nun nieselt es ein bisschen stärker. Ich erklimme das Plateau Grunholtz, welches zum Glück nicht so steil und schwierig ist wie ich es in Erinnerung habe. Überhaupt fällt mir das Radeln unerwartet leicht. Bei der Quelle von Mouterhouse habe ich schon etwa 50 Kilometer in den Beinen. Der kräftige Brunnen ist bis in aller Ferne berühmt und man sagt, die Menschen kommen sogar aus Straßburg hierher, um Wasser zu zapfen. Zwei Männer mit Autos voller Plastikflaschen parken neben der Quelle direkt am Straßenrand. Das sind gut zweihundert Kilo, sagt ein älterer Mann, der zweite der beiden, der, der warten muss, bis er endlich füllen kann, weißt mit dem Kinn zum Auto. Offene Kofferraumklappe, Räder hängen tief in den Radkästen. Da darf keiner mehr sonst zusteigen. Wir schwätzen ein bisschen, gut gelaunt und geduldig. Der Mann kommt aus Sarreguemines, gut 30 Kilometer entfernt. Er spricht lothringisch. Wir verstehen uns. Ich kann irgendwann zwischen den Flaschen mein Trinkwsser auffüllen. Auf auf weiter abwärts der Zinsel via Bärenthal und Zinswiller. In Bärenthal schmerzt die Wunde mitten im Dorf, die ein einst schillerndes, gut besuchtes Restaurant hinterlassen hat. Von dem märchenhaft von Efeu und Pflanzen umrankten bunt bemalten Gebäude, in dem ich leider nie eingekehrt bin, ist nur noch eine Art Bauruine geblieben. Ein schäbiger, hand gemalter Schriftzug Hotel blättert ab.
Das fördert nicht mein Reisegemüt. Bremst mich, lähmt mich, macht mir Angst. Aber es ist besser als am Morgen, als ich mich mit aller Kraft diesen lähmenden Kräften entgegen stellen musste, um überhaupt loszuradeln. Im Kopf natürlich die Gedanken an die große Reise. Das schaffste nie. Du bist zu alt. Du kannst das nicht. Das ergibt keinen Sinn. Ich brauche mehr Fluchtgeschwindigkeit.
Und die kommt, als ich mich hinter Zinswiller „verirre“, zu weit westlich in die sogenannten Fünfhüpfberge radele, irgendwann im Feierabendverkehr durch Pfaffenhoffen. Mist. Oder auch nicht. Ich nehme den Radweg durchs Moderthal bis Haguenau. Schön flach. Er führt durch dichten Wald mit hohen Bäumen und Warntafeln, dass es ein Technologisches Risikogebiet ist und man nicht anhalten soll. Atomwaffenlager? Irgendwas mit Militär. Radele schnell durch mit zugekniffenen Augen, denn das was ich atme ist nur etwa zur Hälfte Luft. Der Rest sind winzige Mücken. Denke an Skandinavien, das werd ich niemals schaffen.
Es dunkelt. In der Dämmerung raus aus Haguenau. Radweg entlang der Straße. Später ab Kriegsheim nur noch „Schutzstreifen“. Beruhigt trotzdem ein wenig, die fette, gestrichelte Linie, die mich vom Autoverkehr „schützt“. Nach Brumath und somit zum Rhein-Marne-Kanal sind es nur 11 Kilometer. Wo hätte ich gedacht, dass ich so weit komme und so unerschöpft. Später Einkauf gegen halb acht in einem Carrefour Express. Bier und Schokolade und ein unheimlich freundliches Bonne Soiree vom Verkäufer. So muss Reisen sein.
Fast bin ich versucht, einfach weiter zu radeln. Die Kraft hätte ich. Bis Straßburg auf dem Kanalradweg noch 20 Kilometer und vielleicht noch einmal 15 raus aus der Stadt.
Die Vernunft siegt.
Das Zelt baut sich ganz gut auf im Dunkeln. Ich schlafe löchrig. Nachts umschwirrt von wohl Förstern, die im Wald rumpeln. Einmal fährt ein Auto am Zelt vorbei, blendet auf, fährt weiter. Gutso.

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Mit dem Rad zur Liebsten 2023/1 #mdrzl

Ab heute bin ich im Radel- und Techniktraining fürs Projekt . Den Steadyaccount habe ich umgebaut und das Javascript, das Popups auslöst, und auf Steady hinweist wieder aus dem Blog entfernt.

Ich betreibe digitale Bildhauerei. Erfahre mehr darüber in meinem Steady-Blog

Die elliptische Zirkulation unserer feinen Künstlertraumsonnen in Vibration versetzen

Die letzte fette Wolke des Winters schiebt sich langsam von vorne nach hinten. Szenerie ist das kosmodämonische Pflegeheim, in dem Freund Journalist F. seit nunmehr zwei Jahren wohnt (besser gesagt: ist). Die Luft ist recht kühl. Frau Soso und ich hantieren mit Handys, wechseln Sim-Karten, was F. selbst zu schwer fällt, als dass er eben mal die Karte vom einen ins andere Handy wechseln könnte. Beides alte Gurken, die sich im Zweikampf der Macken tagein tagaus miteinander messen. Mal hat das alte iPhone die Nase vorn und die Karte muss da raus und ins Android hinein, mal ist es umgekehrt. Nun ist es wohl definitiv, dass das iPhone den Kampf der Macken gewinnt, denn am Android ist die Ladebuchse dermaßen verwirkt, dass es nur noch mit wackelnden Kontakten und viel Glück aufzuladen geht. Eine Übertragung von Daten via USB-Stick funktioniert jedenfalls nicht mehr.

Immer öfter denke ich in den letzten paar Wintern, ob dies wohl der letzte Winter ist, den ich erlebe. Umso hoffnungsfroher macht mich die fette dunkelgraue Wolke über der Pflegeheimszene letztes Wochenende, wie sie sich unendlich langsam gen Horizont verzieht und am Rand ein goldener Sonnenschimmer aufleuchtet, Mal zu Mal größer wird, bezeugt von uns wackeren vor dem Pflegeheim Sitzenden, die es kaum erwarten können, dass die ersten Strahlen endlich über den Rand der Wolke schwappen. Sofort fühlen sich die durch die feuchte, kaum bewegte Luftmasse gekühlten eiskalten Knochen besser an. Ich weiß gar nicht, wie Journalist F. das aushält im Rollstuhl mit teils bloßen Körperteilen, sei es der Hals oder die Knöchel des Fußes, ich jedenfalls bin heilfroh, dass ich die Wollknieschoner und den Nierenschützer angezogen habe, zwei paar Socken. Den  kuscheligen Schal, den mir Freundin Lakritze einst strickte hab ich vergessen, aber nun kommt ja die Sonne.

Ob dies der letzte Winter ist denke ich – wie erwähnt – in den letzten Jahren immer öfter. Die Künstlerbude mit ihrer nur Holzofenheizung und der offen liegenden, Frost gefährdeten Wasserleitung bietet den charmanten Minimalkomfort wie seit bald zwei Jahrzehnten, kaum etwas hat sich verändert seit jeher. Nur ich. Ich werde empfindlicher, spüre den Frost schmerzhafter als auch schon. In den Zehen beginnt der Tod (fasst der Tod Fuß), kriecht sich über die Jahre heran an den Kern des Körpers, beinaufwärts in den Bauch, die Brust, zum Hals, zum Hirn und dann nimmt er dich mit in die Hölle oder in den Himmel oder nirgendwohin und du hörst in einem kalten Monat in naher Zukunft einfach auf, zu existieren. Punkt aus. Der Kalte Tod ist wie die fette Wolke über dem Pflegeheim unheimlich langsam und wenn man es sich zur Aufgabe gemacht hat, ihm, dem kalten Tod oder ihr, der fetten Wolke dabei zuzuschauen wie sich etwas bewegt in der Hoffnung auf eine Erwartung für irgendwas, Wärme oder Erlösung, dann kann man sich dadurch das Leben zu Hölle machen. Das Gegenwärtigsein.

Warum schreibe ich das? Weil ich es mir zum Ziel gesetzt habe, öfter zu bloggen in diesem Jahr. Eine meiner feinen, brotlosen Kernarbeiten wieder aufzunehmen. Ich meine, mein Ziel Anfang Jahr wäre gewesen, einmal pro Woche einen Blogartikel auf irgendlink.de zu schreiben, einmal pro Monat in den Knotenpunkten und in allen anderen Blogs, die ich führe oder an denen ich beteiligt bin, mich wenigstens zu bemühen. Allen voran das Erdversteck.

Bloggen braucht Disziplin, was umso schwerer ist, wenn man dafür nicht materiell entlohnt wird, jaja, Geld, gute alte Droge des materiellen Austauschs hat schon eine magische, beschleunigende Wirkung. Menschen dazu zu bringen, etwas zu tun, was sie eigentlich nicht tun würden oder Menschen dazu zu bringen, Dinge zu tun, die sie zwar gerne tun würden, sich aber nicht trauen oder zu träge dafür sind, oder sonst welche Gründe. Wie auch immer, würde ich bezahlt fürs Bloggen, nur mal angenommen, würde das dann etwas nützen? Vermutlich ja. Vermutlich wäre es aber auch vergleichbar mit den Gravitationsphänomenen, die man bei simplen Massenbegegnungen im Weltraum beobachten kann und mit denen es etwa möglich ist, die eigentlich unsichtbaren Exoplaneten, die es zu Hauf gibt da draußen, nachzuweisen. Geld als dunkle nicht sichtbare Masse, die die elliptische Zirkulation unserer feinen Künstlertraumsonnen in Vibration bringt. Ein komischer Vergleich. Mir war danach. Ich schaue zu viele Exoplanetenfilme.

Klammen Fingers gelingt uns die Operation an Journalist F.s beiden Handys und als wir fertig sind, zünden wir uns eine Zigarette an. Die Sonne ist da. Nebenan vor dem automatisch sich auf und zu schiebenden Eingang sitzt der Kettenraucher auf seinem Rollator und raucht Kette. Der Kettenraucher heißt so, weil er ständig hier draußen vor der Pforte sitzt. Derweil eine Frau am Rollator gehend durch die Schiebetür kommt, uns alle freundlich grüßt, eine Schleife von etwa fünf Metern dreht und eine halbe Minute später beim Wiederbetreten des Pflegeheims noch einmal freundlich grüßt, so als sähe sie uns zum ersten Mal.

Die Alltage im unendlich grauen, potentiell letzten Januar waren geprägt von Projektvorbereitungen. Ich skizzierte neben der Nordkap-Tour drei weitere Herzensprojekte, die ich möglicherweise in diesem Jahr durchführen könnte. Nicht alle, nur eins von den vieren. Also entweder oder Hessen, Baden-Württemberg oder die Schweiz. Mal schauen. Klar erkennbar, ist das Hessenprojekt am besten skizziert und das wohl wahrscheinlichste. Es hängt von zwei Gesundheitschecks Ende Monat ab wie sich das Jahr entwickelt. Über allem Jahresplan gaukelt immer noch die Raumforderung in der Niere, die ja auch eine einschneidende Lebensveränderung bedeuten könnte, wenn es sich dabei um einen bösartigen Tumor handelt. Die letzten Wochen konnte ich mich zum Glück durch Ignorieren und Verdrängen vor Hysterie bewahren. Was insbesondere in ruhigen Momenten, dann, wenn sich das Hirn mit aller Macht auf mögliches Leid und Sorge stürzt, viel Kraft kostete. Nur noch zwei Wochen bis zum MRT. Dann darf ich wieder echte Pläne machen, oder eben nicht.

Hier ein paar Karten.

Jenseits des Freestyles der Liveblogprojekte arbeitete ich an meinem Seedshirt-Shop. Ein Projekt, das ich zu Beginn des Winters intensivierte. Falls die geneigten Leserinnen und Leser dieses Blogs also Hemden oder Pullover oder Tassen kaufen möchten, schaut doch gerne mal vorbei. Es ist ein noch nicht so aufgeräumter Allesladen der feinen Künste. Aber das macht den Charme eines in Entstehung befindlichen Universums ja aus.

Hier ein paar Motiv-Schmankerl.

Last but not least die Zahlschranke des Artikels, wie immer ganz am Ende – aber es wäre fein, wenn Du mich auf meinem Steady HQ Profil unterstützen würdest. Alternativ verrate ich Dir meine Kontonummer.

Ans Kap oder UmsLand Hessen?

Was ist es eigentlich, was mich so fasziniert am Nordkap als Reiseziel? Man riet mir ab. Die ganzen 3600 Kilometer durch Deutschland und Schweden auf dem Weg dahin im Jahr 2015 riet man mir ab. Fahre da nicht hin. Das ist langweilig. Ein Fels im Nebel mit einer von Menschen für Menschen gemachten Kugel darauf. Überlaufen. Touristen. Es gibt Schöneres, zum Beispiel Vardø.

Vardø bei Vadsø bei Kirkenes stelle ich mir auch nicht anders vor. Fels, Fels, Fels und drunten brandet die Barentssee. Bis zum Kap sind es von Vardø nur gut 250 Kilometer. Die russische Grenze ist nah. Bei schönem Wetter kann man die Kriegsschiffe in internationalen Wassern aus den Wellen ragen sehen, stelle ich mir vor. Unheimlich. Ich schweife ab.

Seit 2021 plane ich ein Remake meiner AnsKap-Radtour 2015. Aus pandemischen Gründen scheiterte das Vorhaben. Ich feiere sozusagen zwei Jahre nicht ans Kap radeln. Aber stimmt das? War die Pandemie tatsächlich der Grund, die Reise nicht anzutreten? Oder bin ich einfach nur alt geworden und drücke mich um meine Lebensträume herum, versuche ich unbewusst das Unbequeme, was das lange Reisen mit dem Fahrrad mit sich bringt zu vermeiden und schiebe äußere Einflüsse wie die Pandemie vor als Grund fürs Scheitern eines Vorhabens, das ich in Wahrheit gar nicht vorhabe?

Der echte Irgendlink auf dem Prüfstein. Komm, Junge, erzähl dir endlich die Wahrheit. Du willst es nicht. Du willst es. Du willst es, aber. Du willst es nicht, es sei denn … all die Zweifel. All das Weltgeschehen.

Wenn mein Leben ein Roman wäre und ich nur ein erfundener Protagonist, dann stünden dieser Jahre die äußeren und die inneren Konflikte blank und ganz klar. In einem alternden, vom Zerfall bedrohten Körper (ich erinnere an die unklare Raumforderung, siehe Beitrag zuvor), denkt und agiert einer, knallhart konfrontiert mit malmenden äußeren Mechanismen der Pandemie und des Kriegs.

Was denkst du wie das abgeht in der Kapregion, wenn die Sache in der Ukraine sich ausweitet! Die russische Grenze ist gerade mal 200 Kilometer entfernt. Lass die Finger davon, fahr meinetwegen nach Portugal.

Langanhaltendes Rumoren in der Gegend um Lakselv, ein tiefes Brummen wie Nachbrenner, Düsenantrieb, Tausendgestank und abscheuliche Gewalt liegt in der Luft. Ich bin fast alleine auf der E6. Der letzte schöne Sommertag. Weites sumpfiges Land oder Waldland oder ein See. Karger Bewuchs, ab und zu ein paar Rentiere, Holzlaster, spätsommerliche Wohnmobile. Zum Gruß und als Beifall für den Kapradler ein Hupen hie und da. Wenige zig Kilometer bis Lakselv, ein kleines Städtchen an der Barentssee. Natürlich gibt es einen Flughafen, Supermarkt, Tankstelle. Das Donnern in der Luft scheint mir nicht von zivilen Maschinen  zu rühren. Die würden starten, wegfliegen, leiser werden. Bald schon wird sich die Straße hinabstürzen zum Fjord. Links und rechts Schilder mit Warnungen. Militärisches Gebiet. Aha. Wie daheim zu Füßen von Ramstein also. Kampfjets, die nachhaltig nachbrennend und unsichtbar in der Luft liegen. Den akustischen Raum rings um den Fjord minuten-, ach was, viertelstundenlang beherrschen, nichts anderes zulassend als Lärm.

Muss ich mir das noch einmal antun?

Screenshot einer Postkarte zeigt eine Felswand mit zwei unheimlichen schwarzen Augen, die sich offenbar als Magmaströme in den Gesteinsschichten ausprägten.
iDogmakarte 128 2015

Wenns möglich ist, warum nicht! In meiner Erinnerung kratze ich allmögliche Orte zusammen, die ich während der Reise 2015 durchquerte. Einige, seltsamerweise nicht einmal die schönsten, sind immer da. Harte Gesteine die aus erodierten Erinnerungen ragen. Unheimlich geschundene Nutzwälder in Schweden etwa; jener verregnete Tag in Batskärsnäs im nördlichsten Bootshafen Schwedens; die starrenden Magmaaugen in einer Felswand an der E69; Steinmännchenstrand am Porsangerfjord und schließlich die drei Kilometer lange neun prozentige Sturzfahrt hinunter in den Nordkaptunnel …

Nichts ersetzt die Gegenwart. Früh morgens, einsames Gehöft. Mein Geburtstag 2023. Kann nicht mehr schlafen, also stehe ich auf, schüre den Holzofen ein, beginne bei 16 Grad, stelle das Nordkap in Frage. Wie so oft dieser Tage. Eigentlich musst du doch gar nicht mehr reisen, Herr Irgendlink. 2016 mit der letzten großen Tour nach Gibraltar hattest du all deine Ziele erreicht.

Mit dieser Reise geht eine Trilogie zu Ende. Ums Meer 2012, Ans Kap 2015 und Gibrantiago sind die Rohdaten für eine Europenner-Trilogie. Ich kann endlich beruhigt heimkehren und auch da bleiben und mich auf ein Leben als Schriftsteller freuen. In Gedanken fabuliere ich, dass mit diesen drei Reisen und den Kunstfotos daraus auch fast schon ein kleines Lebenswerk fertig geworden ist.

Ich bin sehr zufrieden. (Europenner-Blog 2016)

Das Ziel ist nicht das Ziel. Der Weg ist auch nicht das Ziel. Es gibt keine Ziele. Alles läuft auf Orientierungslosigkeit hinaus und mit ihr kommt das Vertrauen. Vertrauen darin, dass es immer irgendwie weiter geht. Auch im Stillstand geht es weiter. Nur eben so langsam, dass man es nicht bemerkt. Auf diese Weise wirst du ein Ziel erreichen, ohne ein Ziel zu haben, vertrau dir. Postuliere ich altklug.

Das Jahr ist offen. Das Nordkap im Visier wie jedes Jahr. Na klar. Was soll ich denn sonst ins Visier nehmen … achje, da gibt es Vieles. Das Viele ist mein Fallback, falls das mit der Raumforderung schief geht. Dann mache ich die kleinen feinen Dinge. Durchs Elsass zur Liebsten radeln. Ha, die Tour, nur 350 Kilometer, wiederholste doch auch immer wieder und es ist immer anders, immer neu, immer abwechslungsreich, obwohl du oft die gleiche Strecke radelst. Wenn man sich von der viel beschrienen Bucketliste der Zutuns in dieser Welt verabschiedet, findet man seinen Frieden. Dann weicht jeder Druck. Darf wieder und wieder, darf anders. Man kann alles immer wieder tun und es wird Freude bereiten. Es wird trotzdem etwas Neues. Im Alteingelatschten können wir immer Neues entdecken, sagt die Hoffnung, sagt die Ahnung. Wir dürfen uns nur nicht blenden lassen von den Verlockungen vermeintlichen Neuens.

Im mürbenden Nachdenken über den Sinn der bevorstehenden Reise gebiert sich die Erkenntnis, dass das Einzige was ich an Langstreckenabenteuern noch tun könnte und was wirklich neu wäre, eine Umradelung der Erde wäre. Möglich wärs. Tun werde ich es nicht. Warum? Weil ich an einer früheren Stelle des Lebens eine andere Abzweigung genommen habe. Mich ein zwei Jahre rauszunehmen, die Liebsten und Nächsten zurück zu lassen, wäre eine Gewalttat gegen die Liebsten und auch gegen mich.

Künstlerbude, fast sechs Uhr früh. Der Artikel nimmt einen komplizierten Lauf, so dass ich ihn wohl erst einmal in den Privatmodus setze. Ist es den Lesenden zuzumuten, hin- und her- und abzuschweifen? Dieses katzengleiche, sich mit einem Wollknäuel balgende Künstler- und Schreibendenhirn. Putzig.

Kap oder nicht? Alles ist offen. Im Mai könnte ich starten. Ich habe ein Winterzelt gekauft, das ich mir selbst zum Geburtstag schenke. Ich habe aber auch Radrouten Hessens herunter geladen, denn ein Hessen wäre natürlich auch ein feines Projekt. Beständigkeit, Beharrlichkeit. Abwarten. Vorankommen im Verharren. Zusehen wie sich die offenen Fäden der Zukunft zu Gegenwart verwinden, für den Moment klar und stark und unzerreißbar und schon Momente später spleisen die Fasern, löst sich alles auf, verschwindet in einer mal zu mal verschwimmenden Unschärfe der Erinnerung bis zur Unkenntlichkeit des Nichts.

Ich spraye ein Graffito auf die Paywall am Ende des Artikels.