Mein schöner, gemütlicher Vampirsarg | #zwand20

Ostwind pfeift durchs Schloss. Langsam dreht die Morgensonne. Die Schatten-Sonnenkante nähert sich meinem Schlafsack. Wie so ein Vampir, denke ich. Der Schlafsack mein Sarg. Gleich zerfalle ich zu Staub.
Blick auf die bröckelnde Wand, auf der sich deutlich die Karte Nordamerikas abzeichnet. Der abblätternde Putz sieht aus wie Kanada, USA, Mexiko, ganz Mittelamerika bis runter nach Kolumbien, ganz am Boden, wo ich die kalten Füße im Schlafsack aneinander rubbele. Es ist nicht sonderlich kalt, aber der Wind nagt an Allem, durchdringt jede Pore. Normalerweise hätte ich das Zelt aufbauen müssen, aber ich war, nach der gestrigen Hammer-Etappe zu müde, um noch irgendetwas zu machen außer Matte ausrollen und mich in den Schlafsack mummeln (okay, zum Abendessen gab es noch ein Viertel Wein aus einer etikettenlosen Flasche, die bei einem Hofverkauf in den Außenbezirken von Zaragossa ins Netz ging).

Eigentlich eine wunderbare Etappe gestern. 106 Kilometer verzeichnet der Tacho.
Frühmorgens das trostlose, neue Belchite durchquerend, trieb mich der Südoster, so nenne ich den Wind in dieser flachen, staubigen Gegend, stets nordwärts. Mit Fragen zur Wunde, zur Vergangenheit, zum neuen Ort Belchite und wie die Menschen, drei Generationen nach der Zerstörung der Stadt ticken, kurbele ich mantrisch … ich werde diese Menschen wohl nie verstehen. Die, die das heutige Belchite bewohnen nicht. Die, die im alten Belchite ihr Leben ließen nicht; die, die auch heute noch hassen und provozieren und kämpfen schon ganz und gar nicht. Nicht die eine Seite der Schützengräben, noch die andere, noch gar mich selbst, der ich zwischen den Schützengräben umher irre wie ein traumatisierter Junge, der sich ein apokalyptisches, mittelalterliches Gemälde anschaut. Ein Bosch im Kopf des apokalyptischen Radlers.

Herrjessas! Da hat wohl einer zu viel Krieg abbekommen in den letzten Tagen? Segre abwärts radelnd vom Dreißigjährigen Krieg über den Spanisch – Französischen Krieg bis zum Ebro, mitten rein in den spanischen Bürgerkrieg des zwanzigsten Jahrhunderts und nun nordwärts zu den Grenzen des ehemaligen maurischen Reiches … überall fand ich Grenzen und Spuren vergangener Konflikte.
Ab Puebla d‘ Alborton erreiche ich geteerte Straßen, kleine, sich schlängelnde Etwasse, von denen ich gar nicht so recht verstehe, warum sie sich schlängeln. Die Gegend ist flach, durchsetzt von sanften Hügeln, kein Wald und auch so kaum bewachsen. Karges Ödland, durchwirkt von ab und zuen unheimlichen Gemäuern: Viehställen? Lagern für Getreide? Und künstlich zum Leben erweckten Feldern. Dung und Wasser, Diesel und Dust. Mit Midnight Oil Songs im Ohr erreiche ich Zaragossa gegen Mittag. Moloch. Irgendwie gelingt es dennoch, mich auf Seitenstraßen in die Stadt zu schleichen, durchs innenstädtische Gewirre unbeschadet den streng bewachten maurischen Palast zu erreichen, in dem sich ein Museum und das Aragonische Regionalparlament befinden. Überall finster drein blickende Polizisten, wie abschreckend, aber als ich aufs Telefon zeige und eine Knipsi-knipsi Geste mache, nickt der dicke Polizist freundlich, seguro, seguro Tourist, mach Du nur. Ausruhen im Park hinter dem ehemals maurischen Palast. Die Aljaféria ist nicht besonders schön, finde ich. Einzig die Ornamente an dem nahezu quadratischen Bau, die haben etwas. Zum Besichtigen habe ich im Stadtgetümmel keine Lust. Ich bin unruhig wie der Ostwind, der auch vor der Stadt nicht Halt macht. Im angeschlossenen Park auf einer Wiese lungern tut der Seele ohnehin besser, als sich touristischer Zwangshandlungen zu unterwerfen. Und überhaupt. Der Palast hat tausend Jahre durchgehalten, da wird er wohl noch ein paar weitere Jahrzehnte schaffen, in denen ich die Chance habe, zum Beispiel als Rentner auf Städtereise einmal zurückzukehren.
Nach einer Stunde Großstadt-Inhalat, rolle ich runter zum Ebro, über die Puente de Santiago nordwärts, durch trostlose Außenbezirke. In einem kleinen Markt kaufe ich Lebensmittel und eine Zweiliter Wasserflasche. Ein bisschen erinnert mich die Passage an León. Unheimliche Bauruinen, Schutt und zertrümmerte Fenster flankieren den Weg … nein, nicht ganz so verwahrlost wie das León des Jahres 2010, als ich auf dem Jakobsweg westwärts wanderte. Vielleicht liegt es auch an der Geschwindigkeit? Mit dem Fahrrad hat man weniger Zeit, sich auf das Detail zu konzentrieren, ist ruck-zuck an einer Graffiti versprayten Mauer vorbei. Zu Fuß ist man andächtiger, aufmerksamer. In León, erinnere ich mich, tauchte ich tief ein in die Ruinen verlassener Autohandlungen, ihre einst so glänzenden Schaufenster.

Auch ist dies eine andere Zeit. Der Beginn der Pandemie, die Weltrezession befindet im Anfangsstadium, im Gegensatz zum León des Jahres 2010, in dem der Prozess des Niedergangs nach der Finanzkrise schon weitgehend abgeschlossen war.

Weites, freies Land ab Villanueva de Galego. Ich folge der A 102 (A steht für Aragón, also äquivaltent einer deutschen Landesstraße) in die Abenddämmerung. Passiere militärisches Sperrgebiet. Hier wildzelten? Ich bin doch nicht verrückt. Man könnte mich für einen Spion halten. Ein James Bond in Lumpen. Nicht geschüttelt, noch gerührt. Der Wind flaut ab, dreht sich, bläst mich nordwärts. Auf der Karte habe ich das Castillo de Sora (Wikilink) ausgemacht. Noch gut 25 Kilometer. Stunde Fahrt. Ich brauche Schutz. Ich will eine Burg. Mit flachen Landen kommt mein Gemüt nicht so gut zu recht. Wenn ich in all den Jahren nicht Flachland geübt hätte, würde ich hier verzweifelt im Straßengraben liegen bleiben. In Gedanken tapeziere ich mein Zimmerchen, das ich heute Nacht im Castillo (Videolink) beziehen werde. Wikipedia gibt nicht allzuviel her über das Schloss. Außer, dass es eine Ruine ist und auf einem Berg liegt.

Soras Burg ist eine mittelalterliche Festung, die zu einem Ort von kulturellem Interesse erklärt wurde und sich in der Region Cinco Villas in der Provinz Saragossa befindet. Die Burg, etwa 4 km von der Stadt Castejón de Valdejasa entfernt, wurde auf dem sogenannten Guarizo-Berg erbaut, einem Punkt von großem strategischem Wert, da Sie von seiner Höhe aus eine große Ausdehnung des Landes sehen können, das sich von den Vorpyrenäen aus erstreckt im Ebro-Tal, einschließlich der fruchtbaren Ebene des Flusses Arba und des aragonesischen Abhangs der Bardenas Reales im Westen. Früher wurde diese enorme Sichtbarkeit durch die Verwendung einiger Wachtürme oder optischer Türme, die günstig in Monlora (im Norden) gelegen sind, erheblich erweitert ), die Plana del Castellar (im Osten), Tauste (im Süden) und das Heiligtum von Sancho Abarca oder der Pico del Fraile (im Westen). Dieser erstaunliche Ort gab ihm außergewöhnliche Kontrolle über die Truppenbewegungen und Gefechte in der Nähe (automatische Übersetzung des spanischen Wikis).

Magisch angezogen radele ich in die Dunkelheit und keuche die letzten Meter über einen würdigen Mountainbike-Pfad aufwärts. Der Plan geht auf. Kein Mensch zu sehen, keine Autos, keine Motorräder, keine Mountainbiker, Wanderer oder sonstige Menschen. Ich bin alleine, schaue in die Weite, sehe die Lichter Zaragossas im Zweikampf mit den Sternen. In einem Gemäuer rolle ich meinen Schlafsack aus. Mein schöner, gemütlicher Vampirsarg.

Zweibrücken, 14. Mai 2000. Ich bin zurück. Zweibrücken-Andorra ist Geschichte. Die Reise, die ursprünglich bis nach Gibraltar hätte führen sollen, endet nach 29 Tagen auf dem Rad. Gut 3000 Kilometer stehen auf dem Tacho. Dank des Missgeschicks, die Bankkarte zu Hause vergessen zu haben, geriet die Tour zur Low Budget-Reise (ich meine, mich zu erinnern, dass ich insgesamt 600 DM ausgegeben hatte; müsste es nachprüfen. Durch spätere Betrachtungen und Euro-Umrechnungs-Verwirrung könnte es auch eine andere Summe gewesen sein).

Cadaques, 19. Mai 2010. Frau SoSo und ich erwachen auf dem von Katzen beherrschten Campingplatz in Cadaques. Sogar im Cola-Automat lebt ein Wurf junger Katzen. Die Stadt trieft vor bettelnden Streunern, die teils in erbärmlichem gesundheitlichen Zustand sind. Der sandige Campingplatz erweist sich als gigantisches Katzenklo. Zelten nicht zu empfehlen. Noch monatelang liegt der Geruch von Katzenpisse im Europenner-Zeltchen. Was soll ich sagen: Man gewöhnt sich daran. Und: Der Geruch vergeht nach sehr langer Zeit des Lüftens.

15. April 2020. Gras gemäht. Garten gegossen. Sechs Eier der jungen Hühner, die ich zu Beginn der Pandemie ‚gehamstert‘ habe. Zum Schreiben muss ich mich momentan zwingen. Am meisten Freude bereitet die Wikipedia- und Streetview-Recherche der mutmaßlich bereisten Strecke. Es ist erstaunlich, wie gut man sich ein Bild machen kann vom großen Waswärewenn.

Wenn ich am Computer sitze und mich in der Recherche festbeiße, geht es zum Glück recht leicht von der Hand mit dem Schreiben. Ich sollte wieder nachts um vier Uhr aufstehen. Die Erfahrung zeigt, dass es, in die Morgendämmerung hinein schreibend, am Besten läuft.
Ich bin angespannt, verspannt, war seit letzten Mittwoch nicht außer Haus. Ich könnte Urlaub brauchen. Einen langen, skandinavischen Autotour-Hochsommer-Urlaub mit Frau SoSo.

Die übrigens im Rückspiegel des Jahres 2010 Folgendes zu berichten hat.

Freund Journalist F. ist noch immer im Krankenhaus, mittlerweile wurde er in ein Vierbettzimmer verlegt mit ‚äußerst seltsamen Mitbewohnern‘ sagte er. Heute werde ich Wäschewaschassistenz leisten und ein bisschen einkaufen für mich.

Die Punkte auf der Projektkarte folgen mittlerweile der neuen Reise. Die Route ist in der Ebene Supplement 2020 zu finden.

Langsam trenne ich die Nabelschnur zur Vergangenheit der beiden Zweibrücken-Andorras. Es fühlt sich gut an. Fast wie ‚echt‘ reisen. Etwas Neues hat begonnen.

Ich hoffe, dass ich das Castillo de Sora einmal sehen werde.

 

 

8 Antworten auf „Mein schöner, gemütlicher Vampirsarg | #zwand20“

  1. Ach Jürgen. Wie schön.

    (Und es erinnert mich an meine eigene Reise zu diesem Treffen mit Galerieeröffnung, die ich auch nur mit Wikipedia und anderen Webseiten machte. Weißt Du noch?)

    1. An Mannheim nee, Karlsruhe, dachte ich oft. Die Haushundhirsch-Ausstellungseröffnung. Verblüffend war das. Und das ist bald zehn Jahre her!

    1. An Karl May muss ich auch oft denken. Ich liebte seine Bücher als Kind. Er wird überigens in dem noch zu schreibenden, komplizierten Artikel von Mequinenza nach Escatron vorkommen.

  2. Ja, dem kann ich auch nur zustimmen: weiterschreiben. Irgendwann musst Du uns mal gestehen, was anstrengender ist: das Reisen per Kopf oder das Reisen per Rad. Wahrscheinlich kann man das gar nicht vergleichen. Was aber vielleicht bei den Kopfreisen eher ausbleibt, ist das Überraschende, das Unvorher-gesehene, was uns am Ereignisgeschehen der äußeren Welt ja so fasziniert. Oder?
    Gruß Uwe

    1. Das fehlende Überraschende, stimmt, das ist sicher ein Manko. Aber die Karten- und Wiki-Reiserei überrascht mich auch manchmal. So beim heutigen Artikel. Ein Pluspunkt ist obendrein, dass man am heimischen Computer fundierter recherchieren kann als auf dem Smartphonebildschirm. Ich habe momentan jede Menge Browserfenster geöffnet. Etwa die Karte und die Streetview. Ein Segen, muss ich sagen. Physisch reisen ist anstrengender aber weniger verspannend. Außerdem kämpft man tagein tagaus mit Ungewissheiten, über die man auf dem Bürostuhl volle Kontrolle hat. Noch kein einziger Plattfuß zum Beispiel :-). Das holen wir doch nach. Oder lieber ein Felgenbruch?

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