„Mama sagt, das Leben ist wie eine Schachtel Kunststraßen. Man weiß nie was man bekommt.“

Die Zeiten ohne Dach überm Kopf kommen mir beinahe natürlich vor. Was ist die richtige Welt, was die falsche? Während ich vom Hafen Boulogne sur Mer zur Säule der Großen Armee hinaufkurbele, diagnostiziere ich eine Art Post-Voyageale Depression. Jener gefährliche Zustand der Tristesse und der Selbstaufgabe, der einen nach einem mehrmonatigen (meermonatigen) Abenteuer, wie diesem befallen kann. Um so froher bin ich, dass ich mich entschieden habe, die 643 Kilometer bis Zweibrücken auch noch zu radeln. Karten der Strecke steckten noch in meinem Rucksack, den ich im April in der Stadtverwaltung deponiert hatte.

Die ersten zehn Kilometer gehts raus aus der Stadt auf der Nordseeroute. Über der zwanzig-dreißig Meter hohen Säule, auf der eine Napoleonskulptur Richtung Paris starrt (den Engländern stolz den Rücken zugekehrt), habe ich einen letzten Blick aufs Meer, das in den letzten dreieinhalb Monaten mein Lebensmittelpunkt war. Eine schnell geweinte Träne schafft es bei der Affenhitze heute wohl kaum bis dahin. Ja, ich bin sentimental. Aber auch voller neuem Tatendrang.

Im Hafen habe ich kurzerhand beschlossen, den Weg nach Zweibrücken in Zehn-Kilometer-Abständen zurück zu fotografieren. Ich will eine neue Idee umsetzen. Mit meiner Lieblingsapp Hipstamatic, einer Retro-Kamera-Simulation, die quadratische Bilder mit verschiedenen Filtereffekten und Fehlfarben und Rahmen errechnet, mache ich je zwei Bilder. Eins Richtung Zweibrücken, das andere Richtung Boulogne. Für den Rückblick nutze ich konstant die gleiche Filterkombination. Für den Vorblick kommt der App-eigene Zufallsmodus zum Einsatz. Die Software hat eine Einstellung, die die Filterkombinationen wahllos verändert, wenn man das iPhone bewegt. Das passt. Die Zukunft ist ungewiss.
Habe ich morgens noch auf der Karte geplant, über Le Wast dem Nordseeradweg zu folgen und dann nach Südwesten abzubiegen, ändert sich diese mutmaßliche Zukunft schon in La Chapelle.

Gegen halb zwei im Schatten einer Kirche in Desvres. Ein lauter Junge nimmt allen Mädchen, die ihn umringen, die Sonnenbrillen ab, setzt sie sich auf, torkelt, die Schultern aufplusternd, kreuz und quer über die mittagsstille Straße, pöbelt die Menschen an, stoppt Autos – ein seltsamer Gockel, der nicht so recht gefällt. Ich sehe ihn schon vor mir, wie er ein paar Jahre später auf dem Hinterrad seiner Suzuki durch die Kleinstadt fährt. Das französische Männlein.

Weitgehend folge ich der Route, die ich Anfang April auf dem Hinweg genommen habe, auch wenn ich mich nicht so recht erinnern kann. Erst nach und nach rematerialisiert sich das Frankreich von damals. War nicht Fruges auch auf der Strecke? Ein Blick ins Kamaeraalbum zeigt die Bilder, die ich damals aufgenommen habe, quasi die Brotkrümelspur der Moderne. Ich bin das Hänsel und Gretel des digitalen Zeitalters. Boulogne, Desvres, Fruges, Saint Pol. Die D343 zwischen Fruges und Saint Pol ist mir noch unangenehm in Erinnerung. Sie ist zwar nicht stark befahren, aber der Verkehr ist auf der meist kerzengeraden Strecke so schnell, dass sich die asphaltschneidenden Reifen und die sirrenden Motoren anfühlen, wie eine Explosion im Kopf.

Kindisch jammernd formuliere ich einen Brief an den imaginären europäischen Verkehrsminister Stavros K., dass ein Gesetz her muss, dass Fahrradfahrer nur noch mit einer Maximalgeschwindigkeit von 50 km/h überholt werden dürfen. Und mehr Radwege. Ich vagabundierender Knauser, ich. Die neue Kunststraße entwickelt sich prächtig. Da ich nie weiß, mit welchem Filter die Bilder Richtung Zweibrücken berechnet werden, bin ich stets gespannt.

Nun bin ich, wie SoSo schon berichtet hat, nur etwa hundert Meter von meinem damaligen Frühstücksplatz entfernt irgendwo zwischen Tincques und Roëllecourt. Auf einem Weg, der in einem Maisfeld endet. Die Zelttüre offen. Grün ist die Zukunft voller abgehalfterten Grases. Der Boden zeigt Risse. Morgendunst vernebelt den Blick.

Die LA-Geschichte bleibt weiterhin spannend. Die technische Umsetzung ist mittlerweile klar. Muss noch eine zeitliche und finanzielle Lösung her. Wie erstaunlich unsichtbar doch Kunst sein kann. Mit dem fertigen Produkt im Hirn laufen die Leute durch die Welt und nur die wenigsten haben die Chance, ihre Idee auch wahr werden zu lassen. Froh, dass es mit dem Liveblog immerhin geklappt hat. So. Und nu raus da durch diese schmutzige Zelttür, raus da auf die Straße, die an jeder Kreuzung neue Möglichkeiten bietet.

Das Leben ist wie eine Schachtel Kunststraßen. Man weiß nie, was man bekommt.

Euer Irrest Link, der mit zum X geformten Beinen auf einer imaginären Parkbank sitzt, die Tastatur auf dem Schoß, und seine Geschichte erzählt.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

3 Antworten auf „„Mama sagt, das Leben ist wie eine Schachtel Kunststraßen. Man weiß nie was man bekommt.““

  1. Na, dann wünschen wir dir feines Nach-Hause-Radeln.
    Der Beginn deines Beitrags heute erinnerte mich an meine langen Reisen, die stets mit einer depressiven Heimkehrstimmung abgeschlossen wurden. Auch nach nach meinen Tourneen muss ich mich tagelang ans sesshafte Leben wieder gewöhnen. Auf der anderen Seite habe ich aber auch öfters während der Reisen gedacht „zu Hause ist es doch am schönsten. Warum tust dir das an?“
    Aber, lieber Jürgen Irgendlink, du wirst es sehen, diese Umstellung von on the road zu sesshaft vollzieht sich in ein paar Tagen. Ich find`s ja schon manchmal komisch, wenn ich meinem Boot weit rausfahre, dorthin, wo es nur noch Seehunde, Seeschwalben und mich gibt, und ich dann wieder in meinen Hafen zurückkehre.
    But you will see „All Shall Be Well“ (Mother Julian of Norwich, die erste Frau, die England ein Buch veröffentlichte, das war ihr Leitspruch).
    Liebe Grüße und mit staunender Anerkennung Klausbernd und seine beiden Buchfeen Siri & Selma :-) :-)

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