Von Munros und Corbetts

Alpines Flachland möchte ich die Gegend hier gerne nennen. Objektiv gesehen bewege ich mich, seit ich Schottland betreten habe, auf einer Meereshöhe zwischen 0 und 450 Metern. Kaum zu glauben, dass es sich dennoch um eine Bergregion handelt mit aller Rauheit, Schönheit und den Gefahren, die Bergregionen mit sich bringen: Einsamkeit, plötzliche Wetterumschwünge, unwegsame Gebiete, Natur pur. Meine Meinung über den Radweg Nummer 7 muss ich alleine schon wegen des Städtchens Newtonmore und des Newtonmore Hostels ändern. Mein Aufenthalt dort und der „Wandertag“, waren den Weg durch die Berge schon wert. Neil und Sue, die neuen Besitzer des Hostels haben einen wunderbaren Stil, eine ganz besondere Einstellung zur Gastfreundschaft, was automatisch Wohlfühlstimmung erzeugt. Neil hilft mir bei Wartungsarbeiten an meinem Fahrrad und gibt mir Ratschläge für die dünn gesäten Unterkünfte Richtung Norden. Auch hat er selbst schon beide Nordstrecken nach John O Groats, dem nordöstlichsten Zipfel der Insel erkundet.

Ich habe ein Fünferzimmer für mich alleine. Ein einziger weiterer Gast wohnt in einem Zweierzimmer. Robin aus Amsterdam. Ein drahtiger Kerl, der vermutlich jünger aussieht, als er ist. Ein Abenteurer. Ein Bergwanderer. Ein „Munroser“. Robin klärt mich auf über die geheimnisvolle Welt der schottischen Berge und über die Welt der winzigen Gemeinde Fanatiker weltweit, die es sich zur Aufgabe gesetzt haben, sie alle zu erklimmen. In Schottland sind die Berge nämlich eingeteilt in Höhenklassen: Munros sind die ganz hohen, über 3000 Fuß messenden Berge. Die zweite Liga sind die Corbetts, zwischen 2500 und 2999 Fuß. In Meter umgerechnet, käme man nicht in den vierstelligen Bereich. Aber wir sind im Norden, und je weiter nördlich man sich befindet, desto alpiner und garstiger wird das Land auch bei geringerer Höhe. Robin ist einer von weltweit etwa fünftausend Munro-Besteigern und er gehört zuhause in Holland zu den Erfolgreichsten. Nur zehn Holländer haben bisher alle 283 Munros bestiegen. Robin hat 250 im Seckel. Wollte eigentlich dieser Tage einige hinzufügen, aber wegen des hohen Schnees ab etwa 700 Metern sind die Munros unbesteigbar, gefährlich gar. In der Herberge hängt ein warnender Zettel an der Wand: „Don’t be the third!“ Sei nicht der dritte Gast in dieser Herberge, der in den Bergen umkommt. In den letzten Jahren sind offenbar alleine aus diesem Haus zwei Menschen nicht aus den Bergen zurück gekehrt. In den zwei gemeinsamen Tagen freunden wir uns an. Robin gibt mir seine Adresse in Amsterdam, falls ich es bis Holland schaffe …

Ab Newtonmore nordostwärts wird die Radstrecke unglaublich schön. Ich radele auf fast unbefahrenen Countryroads durch Fichten-, Tannen-, Lerchenwälder, vorbei an Castles, Cottages und kleinen Seen. Im Hintergrund vermitteln die schneebedeckten Munros einen Anschein von Hochalpen.

Die Kälte stört mich weniger, als der Regen, der immer wieder schauerweise nieder geht. Gegen Nachmittag behalte ich die Regenklamotten einfach an. Gegen Abend unternehme ich den Versuch, in der Tomatin Destillerie im Besucherzentrum so viel Whisky zu trinken, dass das Wetter wieder schön wird. Scheitere. Das Ding ist schon zu. Ein ausgeschildertes B&B finde ich nicht, ackere weiter bis zu einem Dorf, das als Moy auf der Karte eingezeichnet ist, in Wirklichkeit aber nur eine Ansammlung einsamer Gehöfte zu sein scheint, die sich über Quadratkilometer in der Gegend verteilt. Verdammt erinnert mich das an Schweden, als SoSo und ich, mit dem Auto unterwegs, einmal stundenlang nach dem Zentrum einer Stadt gesucht haben. Wir, mit unserem mitteleuropäischen Verständnis von Stadt: dicht an dicht gedrängte Häuschen, im Kern eine Fußgängerzone, trallala, und eine Kneipe, ein Laden, Frisör … Am Loch Moy habe es auch einen Campingplatz, sagt ein Schild an der Landstraße.

Alle Wege verlieren sich. Ich beschließe, wild zu zelten: unter Tannen auf topfebenem, weichem Waldboden, direkt an einem Bach, mit Blick zum Sonnenaufgang. Finde einen vielversprechenden Waldweg, der in einer Müllkippe endet. Inklusive Matratze! Die Innereien zahlreicher Tiere, die verstreut am Boden liegen, überzeugen mich, dass dies nicht mein Lagerplatz wird. Zudem fehlt der Bach.

Paar Kilometer weiter folge ich einem Schild „Moy Moss“ und lande direkt an meinem Bachlagerplatz. Glück.

Ich inspiziere das Areal. Zur Auswahl stehen zahlreiche Plätze entweder unter Bäumen, auf Sand, auf Wiese usw. Es ist nicht leicht, eine Entscheidung zu treffen. Vorradler Michael hat nicht unrecht, wenn er letztes Jahr schreibt, dass die Wälder hier weitgehend „unzeltbar“ sind. Oft reichen die Äste bis zum Boden. Und der Boden ist holprig. In den Wäldern, die von außen so topfeben und idyllisch aussehen, herrscht ein Heidenchaos. Zwecks Drainage sind im Abstand von etwa einem Meter Gräben angelegt zwischen die man unmöglich ein Zelt stellen kann. Die Vernunft lässt mich die Zeltnägel schließlich in das ebenste Stück Land schlagen ganz nah beim Bach mit der Chance auf Morgensonne. Bei Neuleserin Inch lese ich zur Gutennacht einen Blogeintrag zum Thema Milchstraße und dass nur wenige Menschen unter dreißig sie je gesehen haben. Wegen Lichtverschmutzung. Ironie des Schicksals: hier hätte ich gute Karten, direkt in die Unendlichkeit zu starren, Meilenweit kein größerer Ort, aber die beharrlichen Wolken versperren mir die Sicht.

Nun, da ich dies niederschreibe, wird der unbefestigte Weg, an dem mein Lager liegt, betriebsam. Schon fünf Autos sind an mir vorbei gefahren und ein 40-Tonner. Aus einem der Wagen ruft doch tatsächlich jemand mit Jan-Delay-Stimme „Morgen“. Ob Moy Moss ein Firmengelände ist? Whisky :-)

4 Antworten auf „Von Munros und Corbetts“

  1. SO… habe ich mir immer Schottland vorgestellt und tue es noch. Vielleicht mit etwas weniger Regen ;o)
    Weil ich mir auch gerne die Welt schön male… mal schön trinke, mal schön rauche. Dabei ist sie doch einfach. Schön. Unter anderem… (lach und wech)

    Herzensgrüße für dich und heute zur Abwechslung mal Sonnenschein!

  2. Es scheint mir, als ob die Frage: wo übernachte ich? eine ziemlich dominante, bestimmende und alles überlagernde ist. Aber das ist es wohl bei jeder Reise so. Dass man allerdings in freier Natur und Wildbahn auch noch Schwierigkeiten hat, das wundert eigentlich. Mich jedenfalls. Wie das wohl hier wäre?

  3. Haha! Das finde ich wunderbar, dass Du die Milchstraße erwähnst,. Auf den Nachtsatelittenbilder war in Schottland wirklich einer der wenigen dunklen Flecken über Europa zu erkennen. Ganz oben im Norden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

%d Bloggern gefällt das: