Mann, der sich nicht frei kaufen kann

Elende Tristesse. Obschon die Gegend wunderschön ist. Die Strecke friedlich. Die Wenigen, die mir begegnen nett. „Es ist fünf Grad kälter, als normal“, klingen mir Neils tröstlich gemeinte Worte im Ohr. „In England hatten wir den regenreichsten April seit 75 Jahren“, klingt Klausbernds Kommentar vor ein paar Einträgen nach. „Rain keeps fallin, rain keeps fallin – down down down“, schallt David Bowie aus dem Radio des Waterfront Restaurants in Inverness. „Laa lallala laaa lalla la lalla lallaaa …“

Draußen steht das Rad. Gedankenflut. Jene Szene in Edinburgh, die ich noch gar nicht erwähnt habe, kommt mir in den Sinn: der Mann, der sich nicht frei kaufen kann. Wie ich in der Sonne sitze in der Nähe der Railwaystation, dürfte vor einer Woche gewesen sein, und die Touristen beobachte, die den Sackpfeifer auf seinem Denkmal im Minutentakt knipsen, schiebt sich der Mann, der sich nicht frei kaufen kann durchs Bild. Langsam von links nach rechts, von unten nach oben, vom Edinburgher Bahngraben in die Altstadt mit einem abgewetzten Rucksack auf den Schultern, grün und nicht wasserdicht und einer Plastiktüte in der Hand und weil es so kalt ist, trägt er alle Kleider, die er hat, auch die billige Kunststoffregenhose. Wie eine bunte Wurst sieht er darin aus und die Beine wetzen laut „ffpp ffpp ffpp“ und ich schon überlege, ihm ein Pfund zu schenken und er dennoch seines Weges geht, wie gerade ich meines Weges „sitze“ in dem bisschen Sonne, das wir kriegen können. Beide weit weg von Daheim, habe ich das Glück des monetären Fundaments. Wir leben in „ähnlichen Verhältnissen“, einer von uns beiden jedoch ohne Anker. Ffpp ffpp ffpp.

So schleppe ich das Bild mit mir herum, wie so viele Bilder, die ich noch nicht erzählt habe. Es gibt schlimme Dinge da draußen. Schlimme Menschen. Arme Menschen. So tell me Mr. Irgendlink, nennt dich die Bedienung im Waterfront nicht permanent Sir, tell me Mr. Irgendwer Sir da draußen, why are you so blessed?

Nahezu bayrisch folklorisch klingt die Musik im Waterfront zu Inverness. Versteh einer, wie sie von Bowie zu Quetschkommode im Dreivierteltakt wechseln kann, um sodann einen mystischen Art Of Noise-Schwenk zu machen. Die letzten kalten Kilometer seit meinem Wildzeltlager stecken mir in den Knochen. Ein Lied von Rio Reiser liegt mir im Ohr, in dem es heißt: „Die längst verlor’n geglaubten werden von den Toten auferstehen“ oder so ähnlich und ich kurbele vorbei an einem Grabhügel aus der Bronzezeit – 6000 Jahre alt – und frage mich, ob man damals schon weinte, mache einen gedanklichen Schlenker zu Rios Tod auf dem obersten Parkdeck der Frankfurter Messe.

War es 1996? Ich arbeitete für einen Juwelenhändler und sollte die neue Kollektion auf der Etepetete-Messe Ambiente aufbauen und just, als ich den Laster voller Silberschmuck auf dem Parkdeck ausladen wollte, fiel der Strom aus, so dass ich warten musste, bis der Lastenaufzug wieder Saft kriegt. Im Autoradio meldeten sie, Rio sei tot. Viel zu jung. Sie spielten König von Deutschland in einer 90er Jahre-Version und als ich den Sender wechselte, dudelte die Urversion mit Franz Josef Strauß. Und so kam es, dass für mich Rio auf dem geleckt sauberen Parkdeck der Frankfurter Ambiente-Messe sterben musste. Bei permanentem Nieselregen ist schwer zu entscheiden, warum die Augen feucht sind.

Kurz vor Inverness führt die Radstrecke 1 zusammen mit der 7 auf einem Trafficfree-Stück durch einen Park. Tolle Holzskulpturen zeigen Drachenfiguren und andere phantastische Skulpturen. Ich beschließe, die Sache gaaanz ruhig anzugehen, mich intuitiv durch die Stadt zu bewegen, aufs Herz zu hören, den Yachthafen anzupeilen, mich in einem Restaurant für eine Weile freizukaufen von der Garstigkeit der Natur. In der Touristeninfo lasse ich mir den Hafen erklären und checke, wie ich auch per Flug weiter komme. Ich habe tausend Möglichkeiten, kann von Inverness oder Sumburgh auf den Shetlands 2 Mal pro Woche nach Bergen fliegen. Der erste Flug ist am 16. Mai. Von Aberdeen und Edinburgh komme ich nach überall.

Freier Mann, was nun? Die aktuelle Wettervorhersage meldet Starkregenschauer für morgen, übermorgen wird es so wie jetzt und ab nächste Woche bissel besser. So drifte ich weiter durch die kalte, schöne Stadt bis ich auf der Nordseite des Ness-Flusses die Waterfront entdecke, in der ich, Geld sei Dank, einkehre, esse, mich aufwärme, diese Zeilen schreibe, und nebenbei das Fon auf 100% bringe.

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5 Antworten auf „Mann, der sich nicht frei kaufen kann“

  1. Das Wetter ist wirklich nicht so, dass man sich auf weitere Tage in Schottland freut. Tatsächlich ein Cliffhanger, und es ist wohl auch für dich selbst spannend, wie es weitergehen wird.
    Zufälligerweise las ich gestern etwas über den Unterschied zwischen Urlaub und Reisen: Wer reist, der sucht im Ortswechsel letzten Endes die innere Veränderung. … Weiterhin gute Reise, wohin dich deine Wege auch führen mögen, April

  2. so viele geschichten, die du noch nicht erzählt hast… das macht zusätzlich neugierig- diese geschichte heute klingt nach der traurigkeit inmitten des bunten, wenn auch immer noch regenschweren lebens…

    was übertönen und übertünchen wir wann, womit und wieso eigentlich? (das gilt allgemein, als resonaz auf deins, aber nicht auf dich persönlich…)

  3. Wer würde sich nicht mal gerne freikaufen von seinem Leben oder wenigstens von einzelnen Phasen darin? Wir müssen aber durch, ohne wenn und aber. Um wie vieles leichter ist es aber mit einem Anker und dem wissen wir gehen nicht allein. Regenschwere Grauhimmeltaggedanken.

    Wir haben grade ein Gewitter mit Starkregen und Hagel hinter uns, möge es dich verschonen und dich die Sonne ein wenig verwöhnen.

    Liebe Grüße, Szintilla

    ps.
    … den Drachenbaum mag ich sehr. Ich sammle Drachen, den Baum hätte ich gern im Garten. :-))

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