Phantomreisemüde | #zwand20 #radlantix

Immer wieder mittwochs: Assistenztag. Raus ins Gemetzel. Dem Freund, Journalist F., geht es zum Glück viel besser! Trotzdem braucht er Unterstützung.

In den letzten beiden Wochen habe ich mich drüben im Radlantix-Blog bis nach Nantes vorangeschrieben. Radele auf der Vélodyssée in umgekehrter Richtung als ursprünglich geplant, drei Jahre zu spät und vollkommen virtuell … wo hätte ich gedacht, dass sich das Reiseprojekt, das ich 2016 erdachte und das 2017 hätte stattfinden sollen, einmal so entwickelt?

Die Vélodyssée ist der französische Abschnitt des Atlantikradwegs. 1200 Kilometer meist auf Fahrradrouten oder ruhigen Landstraßen von Roscoff in der Bretagne bis zur spanischen Grenze im Baskenland nach Hendaye.

Ich hatte eigens für das Projekt ein Blog aufgesetzt, das ich jedoch niemals bespielte. Logos und Blogheader entwickelt. Die Vorfreude war groß, aber irgendwie klappte es nie, zumal Radlantix, meine Vélodyssée, mit einer tausend Kilometer langen Anreise von der Pfalz über Paris geplant war und das Projekt mit zwei- bis dreitausend Radelkilometern somit über fünf Wochen gedauert hätte.

Nachdem Zweibrücken-Andorra 2020 als virtuelles Projekt stattfand und ich auch sonst nicht so viel zu tun hatte im Alltag und mir auch die Einreise in die Schweiz, zur Liebsten, verwehrt war, bot es sich an, eine lang gedachte Idee in die Tat umzusetzen: Wikifiktion. Ist es möglich, eine Radreise zu erfinden, nur auf Basis von Internet-Informationen? Die Antwort lautet: ja. Und es fühlt sich, selbst für mich als Schreibenden, ziemlich echt an.

In den vorigen Beiträgen des Irgendlink-Blogs setzt sich die Reise Zweibrücken-Andorra, die ich auf Basis meiner eigenen Tagebuchnotizen der Jahre 2000 und 2010 als virtuelle Reise schrieb, fort in Richtung Süden, durch Katalonien, Aragon und Navarra bis ins Baskenland. Einige Blogbeiträge sind noch im Privatmodus, so dass man nicht ganz ‚durchreisen‘ kann bis San Sebastian. Das Schreibexperiment lässt die verschiedenen Schichten (Alltag daheim und Reise virtuell, sowie die Zeitebenen von 2000 und 2010) zu und nimmt die Lesenden immer wieder mit in den realen Alltag auf dem Bürostuhl in der Pfalz, auf dem die Beiträge erdacht und geschrieben werden (komm, setzt Dich neben mich, Kumpel. Jetzt).

Mit Radlantix kommt ein Wechsel. Nichts deutet mehr darauf hin, dass die Reise nicht tatsächlich stattfindet. Hier hilft den Lesenden nur noch die Logik, dass es nicht sein kann. Denn bei genauer Betrachtung der Zeitstempel der Blogeinträge  reist der bloggende Künstler durch ein Frankreich des vollkommenen Lockdowns. Ein Land mit massiven Ausgangsbeschränkungen und vermutlich auch strengen Kontrollen und Bußen für Nichtbeachtung der Verbote. Alle Campings sind geschlossen. Keine Hotels, keine Restaurants, und vermutlich wäre ein vollbepackter Radler in den Supermärkten und Bäckereien nicht gerade gerne gesehen …

Doch wer weiß? Hier vom Bürostuhl kann ich über das Frankreich im Jetzt und im Lockdown eigentlich gar nichts sagen. Austausch mit Freunden, die im Land leben, zwar in Paris und Lothringen bestätigen jedenfalls das, was man so hört: Man konnte und kann in Frankreich das Haus ohne triftigen Grund nicht verlassen.

Meine erfundene Reise auf dem Atlantikradweg hat mir dennoch viel Freude bereitet. Vorgestern habe ich in Nantes auf dem Campingplatz eingecheckt und nun sollte ich eigentlich einen Blogartikel über meine gestrige Tour durch die Stadt schreiben. Um mechanische Riesentiere ginge es, Steampunk at it’s Best, Parks und Museen, vielleicht auch eine Begegnung mit Bettlern im Kontrast zu den geleckten Touristen auf den Quais der Loire? Ich weiß es nicht. Man hat als nichtreisender Reiseerfinder ja so viele Möglichkeiten. Ein Wikiforschungsreisender mit googlemapischem Hintergrund, das bin ich.

Der Weg zur völligen Fiktion ist nun gar nicht mehr so unvorstellbar. Vielleicht schreibe ich nach dieser ‚Reise‘ doch einmal etwas völlig anderes. Ich habe es nämlich langsam satt, ich zu sein. Das Problem mit dem Ich im Blog, das sowohl ich ist, als auch ein Protagonist, der die Blogbeiträge schreibt und den daraus resultierenden nie beendbaren Konflikt, hatte ich in verschiedenen Blogartikeln angeschnitten.

Das Reiseprojekt wird sich nun bald dem Ende neigen, schätze ich. Noch etwa acht bis zehn Tage würde ich benötigen, um am Kanal von Nantes nach Brest durch die Bretagne zu radeln. Wenn ich tatsächlich auf dem Fahrrad säße. Ich habe die Etappen und die Übernachtungsplätze in Radlantix so gewählt, wie ich sie vermutlich auch tatsächlich gewählt hätte. Mit dem Hintergedanken, dass ich die Reise irgendwann doch einmal in ‚echt‘ mache.

Vielleicht würde ich in Nantes aufhören, wenn ich die Reise tatsächlich gemacht hätte? So mein Gefühl. Ich fühle mich etwas matt und reisemüde, ganz ohne zu reisen. Faszinierend eigentlich. Fast wie Phantomschmerz. Aber eben: phantomreisemüde.

Gestern war der fünfzigste Reisetag. Nur um die Nordsee und ans Nordkap war ich länger unterwegs.

Im Radlantix-Blog kann man die Reise in chronologischer Reihenfolge lesen, wenn man auf eBook klickt.

In dieser Karte sind alle Blogeinträge und die ‚bereisten‘ Wege eingezeichnet.

Hier findest Du den ursprünglichen Streckenplan meiner Vélodyssée als Google-Map.

Nun aber auf, Herr Künstler, auf auf ins Gemetzel zwischen Apotheke und Supermarkt.

 

 

Tagesmärsche von zu Hause entfernt

Wenn man uns hinterher fährt auf der schmalen Talstraße den Auerbach aufwärts, könnte man uns glatt für Sonntagsfahrer halten, für Männer mit Hut und Prinzipien, Frau SoSo und mich, wie wir so mit unserem unheimlich verbeulten, uralten Auto durch die Lande cruisen, stets ein paar Kilometer langsamer als erlaubt, viel Platz lassend zu Fußgängerinnen und Fußgängern, Radlern, zum Straßenrand und allmöglichen Hindernissen. Der imaginäre Dackel flätzt auf dem Rücksitz, auf der Hutablage eine Klopapierrolle, aufs Feinste umhäkelt, und die alte Rostmühle ist eigentlich ein Mercedes Benz, oh Gott, willst Du nicht …

… Sonntag, 3. Mai. Erstmals seit Ewigkeiten wieder draußen in der ‚echten‘ Welt. Da war diese Eingebung morgens im Erwachen: Pottschütthöhe. Lass uns rausfahren zu dem kleinen Freizeitflugplatz irgendwo im Nichts am Rande der Sickinger Höhe und ein bisschen spazieren gehen. Dort ist gut parken und es gibt ein paar Wege und die Gegend hat mit ihren spärlichen, knorrigen Kieferninseln ein gewisses südländisches Flair. Da können wir uns vorstellen, wir sind auf der Halbinsel bei Cadaques oder irgendwo in der Provence, fremde Wesen in touristischer Mission.

Wir ziehen die Wanderschuhe an und vorsichtshalber nehmen wir noch einen Regenschirm mit, denn das Wetter ist instabil hier in der Südwestpfalz, hier in unserer Provence des kleinen Mannes, hier an unserer Costa Brava der verzweifelten Fernsüchtigenphantasie.

Kaum neun Kilometer Luftlinie von daheim liegt der Ort. Eigentlich könnte man zu Fuß dahin. Auf dem Smartphone habe ich eine Reihe Punkte markiert, die die Wegeverzweigungen markieren, an denen wir aufpassen müssen und abbiegen, denn das Ziel unseres Sonntagsspaziergangs habe ich auch schon eingetragen: Eine eingezeichnete Schutzhütte neben gestrichelten Wegelchen, die, glaube ich, Wanderpfade oder Monutainbikewege markieren.

Die Sickinger Höhe ist ein ebenso garstiges, wie weites Wandergebiet. Sie hält so einiges an Überraschungen bereit, dürfen wir feststellen. Meine blindlings nach Karte gesteckte Route erweist sich als touristischer Volltreffer, macht der Costa Brava alle Ehre. Über einen breiten Feldweg, der auch als Radroute nach Maßweiler beschildert ist, wandern wir auf ein Kiefernwäldchen zu, das auf einer Anhöhe thront. Viele Radler, Jogger, Hundescheiße alle paar Meter. Scheint ein beliebter Gassigeh-Ort. Doch nach wenigen hundert Metern blinkt schon mein erster, instinktiver Marker auf dem GPS. Hier links ab von der Hauptroute, bis zum Waldrand, rechts, links, wieder rechts, aber Moment mal, da ist gar kein Weg mehr wie eingezeichnet, egal, querfeldein nur fünfzig Meter und wir finden uns in einer Art Schlucht wieder. Bächlein murmelt. Wir fühlen uns fremd und fern, erinnern uns beide an den gleichen Spaziergang im letzten Winter in der Nähe von La Roque-sur-Cèze, wo wir über den Jahreswechsel gastierten. Plötzlich sind wir wieder auf dem etwas verwachsenen Pfad in der Garrigue. Ein Spiel von belebter und unbelebter Gegend. Flieger brausen über unseren Köpfen.

Das ist anders, gebe ich zu. Ein fetter brummender Doppeldecker. Dann das schneidende Zischen eines Segelfliegers. Dann wieder Stille, Vögel, Bach, knackende Äste. Und plötzlich, ein Kneippbecken mitten im Wald. Irgendwo da oben ist Reifenberg eingezeichnet und Schmittshausen und Maßweiler. Die Orte kennen wir alle, aber hier in dem Tälchen waren wir noch nie. Wir folgen den Schildern eines Kapellenwegs in eine Fichtenschonung hinein. Singletrail. Mountainbikespuren. Ich beäuge die angezählten, vom Käfer bedrohten Bäume. Sie leben. Noch. Schlimme Vision, dass in wenigen Jahren hier alles abgeholzt ist. Im Wald liegen unzählige weiße Schneckenhäuser. Es gibt Hochsitze. Eine Pferdekoppel. Spaziergängergruppen kommen entgegen. Familien, ein Mann mit Wasserkanistern, der zur Kneippquelle radelt. Aber meist herrscht Stille.

Als wir das Tal verlassen über einen unheimlich steilen Pfad und wieder oben bei den Feldern sind, finden wir uns jenseits des Kiefernwäldchens wieder, das wir vom Parkplatz aus sahen. Da jetzt zelten. Wir wären mit den Rucksäcken unterwegs, stellen wir uns vor, hätten unten in der Schlucht Wasser gefasst und nun wäre es bald Abend und wir wären müde, Tagesmärsche von zu Hause entfernt, und würden in dem lichten Wäldchen ein gut riechendes Plätzchen suchen und unser Zelt aufbauen …

Ende | #zwand20

Drei Tage nicht geschrieben. Die Tour ist beendet. Es hat keinen Sinn, zu versuchen, den Motor neu zu starten.

Faszinierend, welch eigenartige Worte sich in den Notizen zur Ruine des Castillos de Sora finden.

Hier will ich für immer bleiben. Ich bin eine Ruine von Mensch.

Vom Schreiben, Gärtnern, Hühnern, Schnittlauchquarken | #zwand20

Prächtiger Birnbaum in voller Blüte vor leicht bewölktem Himmel

Rein in den Künstlerstollen. Spät bin ich wach am heutigen Morgen. Zweibrücken, 16. April 2020. Am gestrigen Tag legte sich die unheimliche Anspannung die sich in den vergangenen Tagen in Form von Rückenschmerzen bemerkbar gemacht hatte auf wundersame Weise. Man ist ja in dieser Zeit stets froh, wenn die Wehwehchen schnell und ohne Verschlimmerung von selbst wieder verschwinden. Nicht auszudenken, man müsste zum Arzt, zur Physiotherapie, wäre sonstwie auf mitmenschliche Hilfe angewiesen, die ohne Nähe nicht auskommt.

Ich habe es tatsächlich geschafft, eine ganze Woche nicht aus dem Haus zu gehen. Keine Menschen zu sehen. Aerolsofreie, klare Frühlingsluft, Vogelzwitschern und jede Menge Arbeit rund ums Haus. Der Garten ist unendlich trocken. Trotzdem wächst was wachsen will. Die Obstbäume blühen prächtig. Weiß über Grün unter meist blauem, klarem Himmel. Wie sage ich scherzend: Das einsame Gehöft ist das Paradies, im Sommer. Und im Winter ist es die Hölle! Die zugige Künstlerbude entspricht wahrlich nicht den Standards, die der moderne Mensch für Wohlfühlwohnen annimmt. Es gibt keine Zentralheizung. Die Fenster sind uralte Dinger vom Sperrmüll, die irgendwer aus der Verwandtschaft einmal in der Scheune lagerte unter dem Motto, könnte man ja nochmal brauchen. Ich musste nur die imrovisierten Dachlattenrahmen mit festgenagelten Düngermitteltüten, die im Rohbau der niemals ganz fertig gewordenen Stallung die Fenster ersetzten, rausnehmen und die alten, zugigen Fenster einbauen. Die beiden Dachfenster sind durchsichtige Polyesterplatten. Im Winter gibt es nur einen etwa 16 Quadratmeter großen, beheizbaren Raum. Bei Frost kommt das Wasser aus einer Tonne neben dem WC. Immerhin.

Zwischen Europennerzelt, das schon an jensten Orten kreuz und quer in Europa stand und der heimischen Künstlerbude ist nur ein geringes Komfortgefälle. Vielleicht fühle ich mich deshalb auf der Straße wie zu Hause. Ich habe die große Traversée (Zweibrücken-Andorra) durch Frankreich in den Jahren 2000 und 2010 einmal als mein riesiges, längliches Wohnzimmer bezeichnet.

Die Sache mit dem länglichen Ort, der das eigene Wohnzimmer ist, beschäftigt mich schon Jahrzehnte. Hier ein halb fiktiver Artikel aus dem Jahr 2006.

Ich unterbreche mein Schreiben, spaziere im Garten. Bin konfus. Dieser Artikel läuft mir ziemlich schräg. Ich zeige mich selbst in echt und in Farbe im Hier und jetzt der Pandemie, die mich in den heimischen Bürostuhl zwingt. Mich dies alles schreiben lässt, mich in eine Rechercheposition nötigt. Mich zum Karten- und Erinnerungsreisenden macht.
Der längliche Ort, den ich schon im Jahr 2000 skizzierte ist vielleicht einer der Schlüssel für mein Leben. Ich lebte nie ’stationär‘, wie man normalerweise lebt als Mensch. Verortet. Ab und zu ein Umzug, bedingt durch die Arbeit, die Liebe oder weil man flieht vor unbequemer Lebenssituation.
Der Künstler lebt und arbeitet in Berlin, London und Bad Schießmichtot. Es ist zum Gähnen, dass in den klassischen Künstlervitae fast immer ein Berlin, London, Mailand oder New York, gepaart mit einem bedeutungslosen Ort im Niemandsland dieser großen Welt vorkommt. Als ob man die Vita dadurch aufwerten würde, dass man mal in London in der Jugendherberge ein Aquarell in sein Skizzenbuch gekritzelt hat und dadurch dort lebte. Naja, der längliche Ort ist auch nichts anderes. Die meiste Zeit verbringe ich wie jeder Mensch zu Hause. Kleine Nonamestadt neben dem Saarland, zugige Bude, Garten … während ich vorhin den Text unterbrach, habe ich die jungen Pflanzen gegossen, ein bisschen Schnittlauch und Petersilie geerntet für einen Kräuterquark, den es gleich zum Frühstück gibt. Nun wieder an den Tasten. Ich weiß nicht, ob dieser schräge Ausflug in den stinknormalen Alltag etwas in diesen Blogtexten zu suchen hat. Immerhin radeln wir doch zusammen durch Spanien!

Vielleicht muss ich mir auch ab und zu die Blöße geben als Autor? Die Ratlosigkeit wie es weitergehen könnte, obwohl doch der Weg vorgezeichnet ist?

In der Karte zeichnet sich der Kurs nordwärts deutlich ab. Auf halbem Weg zwischen Zaragossa und Pamplona ist die Marke des letztnächtlichen Lagerplatzes, Reisetag 30, eingezeichnet. Beim Eingang zu einem Tunnel eines Kanals, dem ich den ganzen gestrigen Tag folgte.

Seit Jahrzehnten des Reisens sinniere ich manchmal, wann ich wohl die trostloseste Tagesetappe absolvieren werde, bzw. absolviert habe und ob es Trostlosigkeitssteigerungen bis ins Unendliche geben kann. Im Jahr 2010 gab es auf dem Jakobsweg eine Etappe, die der maximalen Trostlosigkeit ziemlich nahe kam. Siebzehn Kilometer schnurgerade bei dichtem Nebel mit Sichtweite um 50 Meter. Eiskalt. In der Mitte der Strecke ein einsamer Baum. Trostlos war auch die Champagne (der nördliche Cerealienteil der Champagne) des Jahres 1996, den wir weitestgehend bekifft und umso intensiver tristessierend durchradelten. Und die Gegenwindpassage im Süden Islands auf einen einsamen Berg hinzu, der nicht und nicht näher rücken wollte … am gestrigen Tag zeichnet sich zwischen Eijea de los Cablleros und Sádaba ein knapp zwanzig Kilometer langes schnurgerades Stück Landstraße ab. Die A-127 führt durch absolut flaches Landwirtsland nordwestwärts. Ein Gemütskiller par Excellence. Die gestrenge Flache der Frau Natur, die gestrenge Hand der Frau Mama. Muss ich da durch? Zwanzig Kilometer, bei Ostwind, gut machbar für den Körper, aber der hungrige Geist, der sich nach züngelnden Kürvlein sehnt? Nördlich zeichnet sich eine Hügelkette ab. Die Karte hält ab Eijea eine schmale, etwas kurvigere Nebenstraße bereit. Die probiere ich aus. Wenn es mir zu anstrengend wird, ich nehme den Wind quer, statt auf der A-127 von hinten rechts, kann ich immer noch angekrochen kommen und mich über einen Feldweg zurücktreiben lassen zur Hauptstraße. Es ist im Grunde wie Segeln, ein kluges Spiel mit dem Wind, das ich hier treibe. Also nordwärts über die kaum vier Meter breite A-1204. Ich peile den Stausee von San Bartolomé an, der sich als eine Art Rückhaltebehälter in flachem Land entpuppt. Gute Wahl. Ein bisschen Kurventrost und kaum befahrene, geteerte Landstraße.

Eine geradezu perfekte Wahl, um die Gegend zu verstehen, um zu erkennen, wie es funktioniert. Es handelt sich nämlich bei dem Stausee um ein  Wasserreservoir, von dem aus sich diverse Bedarfskanäle durch das weite Areal aus Feldern zieht. Kanäle, die geflutet werden können. Vermutlich steckt dahinter ein ausgeklügeltes System der Wasserverwaltung. Jeden dieser Kanäle – sie heißen Acequia – begleitet ein zwar nicht geteerter, aber durchaus gut radelbarer Weg. Es ist wie ich es vor Tagen einmal geschrieben habe, wie durch eine ewig lange, geschotterte, nordschwedische Baustelle radeln. Staubige Angelegenheit hin und wieder.

Eine Acequia (spanisch: [aˈθekja]) oder Séquia (valencianisch: [ˈsɛkia]) ist ein von der Gemeinde betriebener Wasserlauf, der in Spanien und ehemaligen spanischen Kolonien in Amerika zur Bewässerung verwendet wird. Insbesondere in Spanien, den Anden, Nordmexiko und dem heutigen amerikanischen Südwesten sind Acequias normalerweise historisch angelegte Kanäle, die Schneeabflüsse oder Flusswasser zu entfernten Feldern befördern. Es kann sich auch auf den langen zentralen Pool in einem maurischen Garten beziehen, wie dem Generalife in der Alhambra in Süd-Iberien. (Übersetzung aus einem englischsprachigen Wiki)

Der Begleitweg des Acequia de San Bartolomé fährt sich gut. Der Kanalist an diesem Tag leer. Kein Wasserbedarf für die umliegenden Felder? Beim Abzweig am Canal de Bárdenas biege ich links ab, habe wieder Teer unter den Reifen. Der Kanal, Mutter der Acequias, der aus den Pyrenäen im Yesa-Stausee hierher führt, speist auch das Reservoir von San Bartolomé. Ich habe es mit einem ausgeklügelten Bewässerungsnetzwerk zu tun, fahrbare, ruhige Radlerstrecken inklusive. Das lehrt mich einmal mehr, dass es nicht immer der gerade, schnelle Weg sein muss, der einen auf Reisen voranbringt. Die arme, durstige, nach Input sehnende Künstlerseele lebt nicht vom Vorankommen alleine, ja, und vielleicht sind es auch gerade die Katarakte, die das Leben einem mirnichts dirnichts bereit stellt, die einen nähren. Es ist jedenfalls eine geradezue Lust, an dem grünlich bis türkis schimmernden Gewässer entlang zu radeln. Meist ruhig dahintreibend, muckt das künstliche Flüsschen ordentlich auf, wenn es in kataraktischer Manier in eine der geöffneten Acequias geleitet wird. Der Ostwind tut sein Übriges.

Mann, Mann, Mann, wie einfach kann das Leben sein, im Krummen die Direkte zu finden. Höchst entzückt von meiner Wahl und dem frisch entdeckten Weg folge ich dem Kanal bis Sádaba. Welch Kleinod! Das Dörfchen mit kaum 1500 Einwohnern breitet sich zu Füßen einer wuchtigen, fast quadratischen, sehr gut erhaltenen Burg aus. Sieben Türme, im Stile der Ritterorden gebaut, wurde sie nach der Rückeroberung von den Mauren errichtet.

Am gestrigen Tag finde ich im Kargen das Besondere. Ich glaube, es handelt sich um das Serendipitätsprinzip. Vielleicht ein Grundpfeiler dieser Reise? Finden ohne Suchen.
Hatte ich morgens nicht viel – ach was, eigentlich gar nichts – erwartet außer Staub und geradeaus, lege ich mich abends mit einem reich gefüllten Korb an Bildern ins Europenner-Zelt. Das habe ich übrigens ganz stilvoll direkt neben dem Canal de Bárdenas aufgestellt. Vorm Schlund des Tunnels namens La Loma unweit des Örtchens San Isidro del Pinar.

Die beiden Zweibrücken-Andorras? 2000 Tag 30. Die postreiserische Depression, sich wieder in den heimischen Alltag zurück finden, ergreift mich.

2010 haben Frau SoSo und ich die Pyrenäen überquert (per Auto, natürlich) und uns in Argeles-sur-Mer auf dem Campingplatz einquartiert. Sie berichtet hier im Rückspiegel. Bemerkenswert an diesem Tag, ab Cadaques nordwärts tourend, war das Denkmal für Walter Benjamin in Portbou.

Und hier auf dem Bürostuhl? Schreiben, Gärtnern, Hühnern, Schnittlauchquarken.

Mein schöner, gemütlicher Vampirsarg | #zwand20

Schnurgerade ungeteerte Straße durch kahles, flaches Land unter dunkelblauem, leicht bewölktem Himmel. Darauf ein Hund.

Ostwind pfeift durchs Schloss. Langsam dreht die Morgensonne. Die Schatten-Sonnenkante nähert sich meinem Schlafsack. Wie so ein Vampir, denke ich. Der Schlafsack mein Sarg. Gleich zerfalle ich zu Staub.
Blick auf die bröckelnde Wand, auf der sich deutlich die Karte Nordamerikas abzeichnet. Der abblätternde Putz sieht aus wie Kanada, USA, Mexiko, ganz Mittelamerika bis runter nach Kolumbien, ganz am Boden, wo ich die kalten Füße im Schlafsack aneinander rubbele. Es ist nicht sonderlich kalt, aber der Wind nagt an Allem, durchdringt jede Pore. Normalerweise hätte ich das Zelt aufbauen müssen, aber ich war, nach der gestrigen Hammer-Etappe zu müde, um noch irgendetwas zu machen außer Matte ausrollen und mich in den Schlafsack mummeln (okay, zum Abendessen gab es noch ein Viertel Wein aus einer etikettenlosen Flasche, die bei einem Hofverkauf in den Außenbezirken von Zaragossa ins Netz ging).

Eigentlich eine wunderbare Etappe gestern. 106 Kilometer verzeichnet der Tacho.
Frühmorgens das trostlose, neue Belchite durchquerend, trieb mich der Südoster, so nenne ich den Wind in dieser flachen, staubigen Gegend, stets nordwärts. Mit Fragen zur Wunde, zur Vergangenheit, zum neuen Ort Belchite und wie die Menschen, drei Generationen nach der Zerstörung der Stadt ticken, kurbele ich mantrisch … ich werde diese Menschen wohl nie verstehen. Die, die das heutige Belchite bewohnen nicht. Die, die im alten Belchite ihr Leben ließen nicht; die, die auch heute noch hassen und provozieren und kämpfen schon ganz und gar nicht. Nicht die eine Seite der Schützengräben, noch die andere, noch gar mich selbst, der ich zwischen den Schützengräben umher irre wie ein traumatisierter Junge, der sich ein apokalyptisches, mittelalterliches Gemälde anschaut. Ein Bosch im Kopf des apokalyptischen Radlers.

Herrjessas! Da hat wohl einer zu viel Krieg abbekommen in den letzten Tagen? Segre abwärts radelnd vom Dreißigjährigen Krieg über den Spanisch – Französischen Krieg bis zum Ebro, mitten rein in den spanischen Bürgerkrieg des zwanzigsten Jahrhunderts und nun nordwärts zu den Grenzen des ehemaligen maurischen Reiches … überall fand ich Grenzen und Spuren vergangener Konflikte.
Ab Puebla d‘ Alborton erreiche ich geteerte Straßen, kleine, sich schlängelnde Etwasse, von denen ich gar nicht so recht verstehe, warum sie sich schlängeln. Die Gegend ist flach, durchsetzt von sanften Hügeln, kein Wald und auch so kaum bewachsen. Karges Ödland, durchwirkt von ab und zuen unheimlichen Gemäuern: Viehställen? Lagern für Getreide? Und künstlich zum Leben erweckten Feldern. Dung und Wasser, Diesel und Dust. Mit Midnight Oil Songs im Ohr erreiche ich Zaragossa gegen Mittag. Moloch. Irgendwie gelingt es dennoch, mich auf Seitenstraßen in die Stadt zu schleichen, durchs innenstädtische Gewirre unbeschadet den streng bewachten maurischen Palast zu erreichen, in dem sich ein Museum und das Aragonische Regionalparlament befinden. Überall finster drein blickende Polizisten, wie abschreckend, aber als ich aufs Telefon zeige und eine Knipsi-knipsi Geste mache, nickt der dicke Polizist freundlich, seguro, seguro Tourist, mach Du nur. Ausruhen im Park hinter dem ehemals maurischen Palast. Die Aljaféria ist nicht besonders schön, finde ich. Einzig die Ornamente an dem nahezu quadratischen Bau, die haben etwas. Zum Besichtigen habe ich im Stadtgetümmel keine Lust. Ich bin unruhig wie der Ostwind, der auch vor der Stadt nicht Halt macht. Im angeschlossenen Park auf einer Wiese lungern tut der Seele ohnehin besser, als sich touristischer Zwangshandlungen zu unterwerfen. Und überhaupt. Der Palast hat tausend Jahre durchgehalten, da wird er wohl noch ein paar weitere Jahrzehnte schaffen, in denen ich die Chance habe, zum Beispiel als Rentner auf Städtereise einmal zurückzukehren.
Nach einer Stunde Großstadt-Inhalat, rolle ich runter zum Ebro, über die Puente de Santiago nordwärts, durch trostlose Außenbezirke. In einem kleinen Markt kaufe ich Lebensmittel und eine Zweiliter Wasserflasche. Ein bisschen erinnert mich die Passage an León. Unheimliche Bauruinen, Schutt und zertrümmerte Fenster flankieren den Weg … nein, nicht ganz so verwahrlost wie das León des Jahres 2010, als ich auf dem Jakobsweg westwärts wanderte. Vielleicht liegt es auch an der Geschwindigkeit? Mit dem Fahrrad hat man weniger Zeit, sich auf das Detail zu konzentrieren, ist ruck-zuck an einer Graffiti versprayten Mauer vorbei. Zu Fuß ist man andächtiger, aufmerksamer. In León, erinnere ich mich, tauchte ich tief ein in die Ruinen verlassener Autohandlungen, ihre einst so glänzenden Schaufenster.

Auch ist dies eine andere Zeit. Der Beginn der Pandemie, die Weltrezession befindet im Anfangsstadium, im Gegensatz zum León des Jahres 2010, in dem der Prozess des Niedergangs nach der Finanzkrise schon weitgehend abgeschlossen war.

Weites, freies Land ab Villanueva de Galego. Ich folge der A 102 (A steht für Aragón, also äquivaltent einer deutschen Landesstraße) in die Abenddämmerung. Passiere militärisches Sperrgebiet. Hier wildzelten? Ich bin doch nicht verrückt. Man könnte mich für einen Spion halten. Ein James Bond in Lumpen. Nicht geschüttelt, noch gerührt. Der Wind flaut ab, dreht sich, bläst mich nordwärts. Auf der Karte habe ich das Castillo de Sora (Wikilink) ausgemacht. Noch gut 25 Kilometer. Stunde Fahrt. Ich brauche Schutz. Ich will eine Burg. Mit flachen Landen kommt mein Gemüt nicht so gut zu recht. Wenn ich in all den Jahren nicht Flachland geübt hätte, würde ich hier verzweifelt im Straßengraben liegen bleiben. In Gedanken tapeziere ich mein Zimmerchen, das ich heute Nacht im Castillo (Videolink) beziehen werde. Wikipedia gibt nicht allzuviel her über das Schloss. Außer, dass es eine Ruine ist und auf einem Berg liegt.

Soras Burg ist eine mittelalterliche Festung, die zu einem Ort von kulturellem Interesse erklärt wurde und sich in der Region Cinco Villas in der Provinz Saragossa befindet. Die Burg, etwa 4 km von der Stadt Castejón de Valdejasa entfernt, wurde auf dem sogenannten Guarizo-Berg erbaut, einem Punkt von großem strategischem Wert, da Sie von seiner Höhe aus eine große Ausdehnung des Landes sehen können, das sich von den Vorpyrenäen aus erstreckt im Ebro-Tal, einschließlich der fruchtbaren Ebene des Flusses Arba und des aragonesischen Abhangs der Bardenas Reales im Westen. Früher wurde diese enorme Sichtbarkeit durch die Verwendung einiger Wachtürme oder optischer Türme, die günstig in Monlora (im Norden) gelegen sind, erheblich erweitert ), die Plana del Castellar (im Osten), Tauste (im Süden) und das Heiligtum von Sancho Abarca oder der Pico del Fraile (im Westen). Dieser erstaunliche Ort gab ihm außergewöhnliche Kontrolle über die Truppenbewegungen und Gefechte in der Nähe (automatische Übersetzung des spanischen Wikis).

Magisch angezogen radele ich in die Dunkelheit und keuche die letzten Meter über einen würdigen Mountainbike-Pfad aufwärts. Der Plan geht auf. Kein Mensch zu sehen, keine Autos, keine Motorräder, keine Mountainbiker, Wanderer oder sonstige Menschen. Ich bin alleine, schaue in die Weite, sehe die Lichter Zaragossas im Zweikampf mit den Sternen. In einem Gemäuer rolle ich meinen Schlafsack aus. Mein schöner, gemütlicher Vampirsarg.

Zweibrücken, 14. Mai 2000. Ich bin zurück. Zweibrücken-Andorra ist Geschichte. Die Reise, die ursprünglich bis nach Gibraltar hätte führen sollen, endet nach 29 Tagen auf dem Rad. Gut 3000 Kilometer stehen auf dem Tacho. Dank des Missgeschicks, die Bankkarte zu Hause vergessen zu haben, geriet die Tour zur Low Budget-Reise (ich meine, mich zu erinnern, dass ich insgesamt 600 DM ausgegeben hatte; müsste es nachprüfen. Durch spätere Betrachtungen und Euro-Umrechnungs-Verwirrung könnte es auch eine andere Summe gewesen sein).

Cadaques, 19. Mai 2010. Frau SoSo und ich erwachen auf dem von Katzen beherrschten Campingplatz in Cadaques. Sogar im Cola-Automat lebt ein Wurf junger Katzen. Die Stadt trieft vor bettelnden Streunern, die teils in erbärmlichem gesundheitlichen Zustand sind. Der sandige Campingplatz erweist sich als gigantisches Katzenklo. Zelten nicht zu empfehlen. Noch monatelang liegt der Geruch von Katzenpisse im Europenner-Zeltchen. Was soll ich sagen: Man gewöhnt sich daran. Und: Der Geruch vergeht nach sehr langer Zeit des Lüftens.

15. April 2020. Gras gemäht. Garten gegossen. Sechs Eier der jungen Hühner, die ich zu Beginn der Pandemie ‚gehamstert‘ habe. Zum Schreiben muss ich mich momentan zwingen. Am meisten Freude bereitet die Wikipedia- und Streetview-Recherche der mutmaßlich bereisten Strecke. Es ist erstaunlich, wie gut man sich ein Bild machen kann vom großen Waswärewenn.

Wenn ich am Computer sitze und mich in der Recherche festbeiße, geht es zum Glück recht leicht von der Hand mit dem Schreiben. Ich sollte wieder nachts um vier Uhr aufstehen. Die Erfahrung zeigt, dass es, in die Morgendämmerung hinein schreibend, am Besten läuft.
Ich bin angespannt, verspannt, war seit letzten Mittwoch nicht außer Haus. Ich könnte Urlaub brauchen. Einen langen, skandinavischen Autotour-Hochsommer-Urlaub mit Frau SoSo.

Die übrigens im Rückspiegel des Jahres 2010 Folgendes zu berichten hat.

Freund Journalist F. ist noch immer im Krankenhaus, mittlerweile wurde er in ein Vierbettzimmer verlegt mit ‚äußerst seltsamen Mitbewohnern‘ sagte er. Heute werde ich Wäschewaschassistenz leisten und ein bisschen einkaufen für mich.

Die Punkte auf der Projektkarte folgen mittlerweile der neuen Reise. Die Route ist in der Ebene Supplement 2020 zu finden.

Langsam trenne ich die Nabelschnur zur Vergangenheit der beiden Zweibrücken-Andorras. Es fühlt sich gut an. Fast wie ‚echt‘ reisen. Etwas Neues hat begonnen.

Ich hoffe, dass ich das Castillo de Sora einmal sehen werde.