Zeitungsausschnitt von vorgestern, zur Verfügung gestellt vom Pfälzischen Merkur.
Herzlichen Dank an die Journalistin Susanne Lilischkis für den tollen Artikel.
Artist in Motion
Zeitungsausschnitt von vorgestern, zur Verfügung gestellt vom Pfälzischen Merkur.
Herzlichen Dank an die Journalistin Susanne Lilischkis für den tollen Artikel.
Phantastische Kulisse. Schwarz wie ein Scherenschnitt beendet ein Streifen Nadelwald in der gestrigen Abenddämmerung den festen Teil des Planeten, steht gezackt vor verschiedenen gelblich grauen Tupfern aus Dunst und Schichtwolken. Ich selbst befinde mich als kleiner Fleck mit knallroter Packtasche inmitten eines welligen, gelblich beigen Hochlands. Der Abend saugt alle Farben auf und das Grün der Wiesen ist schon ergraut. Ich bin im Hochwald, wenn ich mich nicht irre, ich muss das noch recherchieren, auf jeden Fall aber kratze ich am südwestlichen Fuß des Hunsrücks. Konnte nicht widerstehen, ab dem Saartal bei Saarburg über das Dörfchen Irsch noch hier heraufzukurbeln, ähm, besser gesagt, die letzten zwei Kilometer schob ich, so steil stürzt sich die Rheinland-Pfalz-Radroute zwischen Oberzerf und Irsch hinunter ins Saartal.
Nun habe ich die Eifel doch tatsächlich in zweieinhalb Tagen durchradelt, ohne großes Leid und Muskelschmerz. Gedankt sei es der geschickten Führung der Radroute meist über Bahntrassen oder Flussradwege, etwa 250 Kilometer, von denen gefühlt mindestens 70% auf alten Bahntrassen verläuft.
Frühmorgens via Arzfeld und Neuerburg teils durch Tunnel, teils über Brücken bis ins Enztal. Dort ging es ein bisschen zur Sache und beim Wechsel ins Prümtal muss man sogar ein Stück Landstraße bewältigen. Ab dort quasi Durchmarsch bis zur Sauer, auf Bahntrassenweg bis nach Wasserbillig an der Mosel, Konz, Saar – et voilà.
Nach zehn Tagen auf der Rheinland-Pfalz-Radroute kann ich sagen, das Ding lässt sich mit ein wenig Aufmerksamkeit prima nur nach Radwegebeschilderung fahren. Nur selten sind die Schider an schlechten Positionen angebracht oder verdreht oder fehlen. Meist sind es Unaufmerksamkeit und Baustellen, die zu Verirrungen führen, manchmal verirrt man sich, weil ein LKW vor dem Schild steht. Etwa fünfzig Prozent der Menschen, die ich unterwegs traf, wissen, dass es die Rheinland-Pfalz-Radroute gibt und was sie ist und dass sie direkt vor ihrer Haustür vorbeiführt. Man sollte dieses Ding von Radweg groß bejubeln und lobpreisen, auf dass es im ganzen Land Bekanntheit erlangt (sagt einer, der sich heute den Hunsrück hinaufquälen muss :-))
Doch genug technisches Zeug. Die Reise geht für mich ziemlich tief. Rein gefühlsmäßig. Vor drei Jahren, als ich sie schon einmal in die andere Richtung machte, lag mein Vater im Sterben und ich erinnere mich noch genau, wie er mir kraftlos vor der Haustür zuwinkte und lächelte und ich mit dem Gedanken losfuhr, ob ich ihn lebend wiedersehen würde. Mein Gott, sind doch nur vierzehn Tage, ha, aber gegen Lebensende hat nunmal jeder Tag eine besondere Bedeutung. Mathematisch lässt sich das in einer queren, nicht wissenschaftlichen Formel sogar berechnen, indem man die Restlebenszeit als absolutes Maß setzt und sie durch die Anzahl der Tage teilt und diese wiederum ins Verhältnis setzt zu früheren Restlebenszeiten, die man einmal zu erwarten hatte. Es wird immer weniger, immer schneller, immer enger und irgendwann, zack.
Solche Gedanken, während man dahinfliegt auf drei Meter breitem Teer über Brücken durch Tunnel und durch Wälder, hier einem griesgrämigen Kerl entgegenlächelt und dieses Glück, ach, wenn sich plötzlich sein trüber, vielleicht von Sorgen umspülter Blick aufhellt und er zurücklächelt und blieben beiden stehen, würden sie vielleicht wie Irre in ein hysterisches, grundloses Gelächter ausbrechen. Das ist die Magie des Menschseins. Und der Hund des geläuterten Griesgrams wedelt freudig mit dem Schwanz. Alle sind glücklich und driften dahin auf ihren Lebenswegen.
Oder die morgenmüde, nicht sehr gut gelaunte Verkäuferin in einer Bäckerei, der man mit Kontra-Schlechte-Laune begegnen könnte und beider Tag würde langsam Richtung Hölle driften, oder aber man schlägt die andere Richtung ein, gutwortend lächelnd, milde und ein kleines Trinkgeld. Zack.
Funktioniert natürlich nicht immer, aber wer wäre ich, würde ich es nicht immer wieder versuchen und wer wären die anderen, würden sie es nicht auch manchmal bei mir versuchen und mich aus meiner warum auch immeren schlechten Laune herausholen.
Vorbei an Luxemburg. Immer wieder Grenzübergänge. Viele Autos mit Luxemburger Kennzeichen. Fremde Zunge allerorts. Die Pandemie kommt mir in den Sinn. Zehn Tage nichts mitgekriegt. Ist Luxemburg noch Risikogebiet? Welche Regeln gelten wo? Die Welt völlig uninformiert betrachtend rolle ich dahin und muss mich auf meine schlichten Beobachtungen am echten, pulsierenden Objekt verlassen: In den Läden ziehen die Menschen Mund-Nasenschutz an, draußen eher nicht. Die Grenzübergänge werden nicht überwacht. Alles in Ordnung? Fallzahlen? Oder was auch immer für Zahlen? Keine Ahnung.
Fast wie mit dem Wetter, über das ich im gestrigen Artikel schrieb: ohne Prognose und ohne Information ist trotzdem Wetter.
In Saarburg wirds schließlich hektisch. In der zwischen Felsen unter Burgen und Tunneln und Kirchen sich erstreckenden Altstadt auf der linken Seite der Saar stürzt sich ein Wasserfall über wilde Katarakte in die Tiefe. Zahlreiche Restaurants, Touristenmassen, alle Sprachen der Welt, hunderte Radlende, Fotoexzesse, so viel Trubel und Enge, dass manche und ich sogar auf der Straße den Mund-Nasen-Schutz tragen.
In Saarburg kaufe ich ein Brot und ein paar Lebensmittel, folge schließlich den Radroutenschildern …
Auf den Wiesen unterhalb des Dorfs Irsch hätte ich gerne gezeltet, weite Kurzgraswiesen, aber wegen Wassermangels musste ich zum Friedhof in Irsch, um die Trinkflaschen zu füllen. Und da in der Tour kein Zurück vorgesehen ist, schuftete ich mich auch noch die zwei Kilometer barbarische Steigung hinauf aufs Plateau bei Oberzerf.
Ha! Kein Zurück. Vorgesehen. In der Tour. Schreibt er. Nuja. aber möglich.
Nicht so im Lebensweg.
Wenn du wüsstest, woher die Straße kommt, wohin sie geht, neben der du dein Zelt aufgebaut hast, würdest du vielleicht gar nicht hier übernachten. Vielleicht ist es eine stark frequentierte Pendlerstrecke und ab fünf Uhr morgens herrscht reger Verkehr, aber die Straße erweckte abends jenseits der Hauptstoßzeiten nur den Anschein, eine verlassene alte Straße zu sein?
Wenn du die Wetterapp einschaltest und dir den stündlichen Wetterbericht anschaust, wärst du vielleicht geneigt, um halb sechs morgens das Zelt abzubauen, weil für sechs Uhr eine 70 prozentige Regenwahrscheinlichkeit vorausgesagt ist. Es gibt nichts Besseres, als ein trocken verstautes Zelt.
Wenn du wüsstest, ob es den Eifel-Zoo, auf dessen Parkplatz dein Zelt steht, noch gibt, und am nächsten Morgen massenhaft Gäste hier parken …
… der Parkplatz sieht verwaist aus, wie lange nicht genutzt. Ein ehemaliges Bahngelände, durchweg geschottert, überwachsen von Gras und Moos, aber die wenigen Heringe, die nötig waren, um das Zelt aufzurichten, ließen sich mit einiger Mühe in den Boden rammen. Bloß kein Sturm nachts. Wenn man bloß eine Prognose hätte …
Am Morgen schalte ich die Wetterapp ein, erstmals seit Tagen. Das Frösteln im Schlafsack ist doch nicht normal und ich will wissen, wieviele Grad die Wetterstation Pronsfeld meldet. 5:42 früh. Keine Spur von Dämmerung. Neun Grad. Die App sagt nicht nur die Temperatur, sondern auch, dass es von sechs bis acht Uhr regnen könnte. Ich bin versucht, in Hektik zu verfallen, das Nachtlager, hoffentlich noch vor Regenbeginn, in die Packtaschen zu verstauen, weiterzuradeln, einen trockenen Platz, eine Hütte, ein frühmorgens offenes Café zu finden.
Zu viel Wissen oder auch nur Ahnung oder Dünkel oder Vermutung schadet der Gestaltung von Gegenwart. Bzw., schaden ist zu negativ, sagen wir besser, es hat Einfluss auf die Gestaltung des Moments.
6:23 Uhr. Der mutmaßliche Regen ist bisher ausgeblieben. Auf der fernen Landstraße saust der Pendlerverkehr. Die kleine Straße beim Eifel-Zoo ist noch relativ ruhig. Ein frühes Mofa oder Moped knattert auf dem Radweg. Der Parkplatz liegt still. Das Zelt steht noch. Halb kniend, halb hockend schreibe ich diese Zeilen mit mobiler Tastatur am Handy.
Der gestrige Tag? Ein glatter Durchmarsch! Wie ist die Eifel? Flach! Von Ahweiler dem Ahr-Radweg aufwärts folgend vorbei an Blankenheim bis Hillesheim, spürt man kaum, dass man hinauf klettert in ein Mittelgebirge. Zudem ein Idyll von Radweg fern der Straße, meist auf Bahntrassen, nur etwa vier Kilometer zwischen Schuld und Fuchshofen führen auf der Landstraße.
Auf Tafeln am Wegrand lernt man viel über die Gegend, die Dörfer, die Geschichte. Immer wieder präsent das Hochwasser von 1910, das sämtliche Brücken am Fluss zerstört hat, außer der Steinbrücke in Schuld Rech. Die wurde nämlich von einem Heiligen Soundso zu Nepomuk (Name muss ich später recherchieren*) beschützt. Tragischer traf das Hochwasser eine Bauarbeitersiedlung in Antweiler. Hundertvierzig hoffnungsvolle Menschen, die den Lebensunterhalt für ihre Familien auf der Bahnbaustelle der Linie nach Jünkerath bestritten, riss das Unwetter in den Tod. Ihnen verdanke ich den wunderbaren Radweg, Brücken und Tunnel!
Der Radweg führt vorbei an einer Stützmauer, in deren Alkoven sich eine beachtliche geologische Sammlung von Steinen aus der Eifel, Rheinland-Pfalz, Deutschland und der ganzen Welt befindet. Die Steine sind einbetoniert und schauen mit den Köpfen aus dem Fundament. Schilder geben Auskunft über Namen und Herkunft. Es gibt Sitzgelegenheiten. Hier könnte man sogar prima übernachten.
Eine Infotafel erzählt eine Begebenheit von 1945. Ein Versorgungszug der Wehrmacht war an dieser Stelle gestrandet, weil die Rückzügler die Eisenbahnbrücke in Fuchshofen gesprengt hatten. Ein regelrechter Zugstau von Jünkerath herab muss sich gebiltet haben. Die Menschen aus den umliegenden Orten plünderten den Zug, nachdem der bewachende Offizier beim Heranrücken der Amerikaner das Weite gesucht hatte. Butter, Mehl, Suppenwürfel, Köstlichkeiten wie zu Vorkriegszeiten und endlich konnte man wieder traditionell backen und hochwertige Leckereien herstellen, statt auf Behelfe und Improvisationen zurückzugreifen. Es wurde wohl auch viel gehaust, die Lebensmittel, die man nicht tragen konnte, herausgezerrt, zertrampelt und in die Ahr geworfen und der Fettfleck von tonnenweise Butter war angeblich noch fünf Jahre später zu sehen. Der Zeitzeugenbericht stammt von einem dreizehnjährigen Jungen. Vielleicht Josef Beuys?
Durch eine Bahnunterführung nahe Birgel, genannt das Heuloch, gelangt man auf eine Art Hochfläche. Wiesen, noch immer. Nach viel Gezeter, Rechtsstreit und Enteignungen, wurde an dieser Stelle ein kilometerlanger Eisenbahndamm, durch das flache Land gebaut, gut zehn, zwanzig Meter hoch und den Bauern zur Gnade wenigstens das Heuloch gegeben, damit sie nicht über die Bahntrasse fahren müssen.
Ab dem Heuloch führt der Radweg durchs Kylltal bis Stadtkyll und aufwärts bis fast nach Prüm doch noch über ein paar Aufs und Abs, die bei weitem nicht die Schrecken der Westerwald- Aufs und Abs erreichen.
Ab Prüm, das gespickt ist mit lebensgroßen Skulpturen von zum Beispiel Karl dem Großen und Pippin dem Jüngeren, führt wieder Bahntrassenradweg durch die weitläufigen Wiesen entlang der Prüm sanft abwärts, vermutlich bis über Arzfeld hinaus.
Gestern, gegen Dunkelheit, baute ich das Zelt auf dem Eifel-Zoo-Parkplatz auf, zu müde, um einen kleinen Anstieg zu überwinden und, nunja, der Platz schien ruhig und gut und leer und im nahen Fluss schöpfte ich Wasser und band den Duschsack an einen Baum, wusch mich, aß und schlief, als ob es kein Gestern und kein Morgen gäbe.
Es regnet nicht.
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*EDIT: Johannes (von) Nepomuk oder Johannes von Pomu (Wiki-Artikel)
Über die verschonte Brücke kann man hier lesen: (wikipedia.org)
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The Great Wiwi-Massacre. Schauen Sie meinen Splatterfilm, in dem es um einen Radler geht, der auf und ab und auf und ab radelt, Stund um Stund schwitzend und Kettensägen und viele abgestorbene Fichten und Wald und Weite kommen auch darin vor. Die gestrige Etappe auf der Rheinland-Pfalz-Radroute war die schwerste. Knapp sechzig Kilometer von Wissen bis nach Windshagen und weiter nach Linz am Rhein ging es in einem nicht enden wollenden Auf und Ab durch eher mäßig interessante Landschaft und Dörfer.
Höhepunkt und definitiv sehenswert war der Holzturm auf dem Beuler Berg, von dem man eine prima Aussicht in alle Himmelrichtungen hat. Auf dem Turmgeländer sind Panoramazeiger angebracht zu fernen und näheren Zielen. Viel Weite herrscht da oben.
Radlerisch war der Tag super anstrengend. Hier mal ein Kilometer abwärts, dort mal ein zwei Kilometer aufwärts. Eine Hürde nach der anderen, wobei es stets im ersten Gang oder gar schiebend voran ging. Nachmittags nervten zudem zwei Polizeihubschrauber, die die Gegend weitläufig lärmverschmutzten. Der Kilometer-pro-Stunde-Durchschnitt auf den ersten fünfzig-sechzig Kilometern lag kaum über zehn.
Zudem die zehn Kilometer mehr, die der Umleitung um die Nisterbrückenbaustelle geschuldet waren. Auf der Umleitungsstrecke erwartete mich das steilste Stück Radweg, das ich je erlebt hatte. Zum Glück abwärts. So steil, dass ich Angst hatte, die Bremskraft reicht nicht aus. Selbst die alte norwegische Postroute, auf der ich 2012 unterwegs war, hatte keine solche Steigung zu bieten. Im Dörfchen Helmeroth erzählte mir eine Frau, dass manche Menschen die Strecke, die vom Dorfteil Eng ins Nistertal führt nicht einmal mit dem Auto fahren. Aus Höhenangst.
Die Etappe Wissen bis Windshagen, also der harte Kern meines WiWi-Massaker-Films, ist eine prima Nachdenketappe für mich als Künstler. Jahrzehntelang halte ich mich treu an meine Vorhaben, folge den Konzepten, egal, ob sie ansehnlich, verkaufbar oder gar schön sind, ich mache stur das, was mein grober Umriss in meiner Künstlergedankenwelt vorgibt (ich spiele auf die Zehn-Kilometer-Fotografie an, also alle zehn Kilometer ein Foto der bereisten Strecke zu machen; das mache ich auf dieser Reise erstmals nicht, weil ich es ja schon beim Hinweg, auf der Route Ums Land im Jahr 2017, gemacht habe). Nun, wie auch immer, warum also folge ich stur der Grenzlandlinie auf der RLP-Radroute, warum weiche ich nicht in Täler aus, steige in den Zug, gönne mir Erholung?
Warum fotografiere ich Motive, die kaum einen Menschen interessieren, die sich niemand übers Sofa hängen würde, die unbequem sind, vielleicht gar rücksichtslos gegenüber den Betrachtenden (in Ausstellungen).
Im langen Nachdenken bergauf bergab und im hin-und-wiederen Fluchen komme ich zu dem Schluss, dieses Stück der Route könnte man getrost auslassen, aber am Ende meines Denkens habe ich dann doch Windshagen erreicht und schon bald geht es abwärts zum Rhein.
Noch einmal nach Nordrhein-Westfalen. In Bad Honnef sind die Radwegeschilder so miserabel und lieblos angebracht, uralt, kaum lesbar, dass ich umherirre, mehrfach das GPS-Gerät konsultiere, vor einer Kirche wegen Schauens nach Schildern beinahe mit einer Radlerin kollidiere, ging gerade nochmal gut, ihr Entschuldigung hinterherrufe, sie mir üble Worte nachzetert, dabei in den Gegenverkehr gerät und auch beinahe einen Unfall produziert. So stehe ich bedröppelt vor dem Schild, das nicht in diese noch in jene Richtung zeigen will und absolut unklar lässt, wohin denn der Radweg führt, da vollstreckt ein Taxifahrer, der das alles beobachtete, mit harscher Stimme den Rest der Hasstirade: Ich bin ja dafür, dass auch Radler den Führerschein machen müssen, kommentiert er herrisch die Szene. Nicht etwa mich direkt ansprechend, sondern eine junge Frau, und er zetert weiter von dem Buben, der ihm vors Auto geradelt ist mit solch großen Kopfhörern und Gettoblastertornister auf dem Rücken und was weiß ich noch alles.
Auf solch arrogant autoritäre verbale Attacken reagiere ich leider erst einmal mit einer Art Schockstarre und sage gar nichts, radele weiter und erst hinterher fallen mir die guten Konter ein: dass das mit dem Führerschein ausgerechnet ein Mensch sagt, der sein Taxi mitten auf dem Gehweg geparkt hat.
In Linz, zehn Kilometer rheinabwärts, ist die Sache vergessen.
Zurück über den Rhein ins linksrheinische Rheinland-Pfalz per Fähre. Feierabendhektik. Und schließlich auf dem Ahrtalradweg ausrollen.
In Bad Neuenahr-Ahrweiler kann ich auch endlich das Schlingern des Hinterrads diagnostizieren. Der Reifen hat seitlich einen Riss und beult sich schon ein wenig aus. Das hält nicht mehr lange. Zum Glück kann ich in einem bis 21 Uhr offenen Edeka noch einen Ersatzreifen kaufen. Schwer zu sagen, ob ich nicht irgendwann mit geplatztem Reifen liegen bleibe und kilometerweit schieben muss.
Zurück zum Thema auf Biegen und Brechen an etwas festzuhalten (seis die beschilderte Radroute kleinfein nachzuradeln, sei es sein selbst erdachtes Konzept durchzuhalten). Ja und nein, wir mir klar. Es kann nicht immer bequem zugehen im Leben und das große, runde Ding, an dem wir alle, jede:r für sich, herumleben und darauf hinarbeiten, egal was es für wen auch ist, wird immer erst sichtbar, wenn man es zu Ende gebracht hat.
Zurückblickend ist irgendwann wohl ein neutraler Blick in die Zukunft möglich. So geht es mir jedenfalls auf dieser Reise im Rückblick auf die Zehn-Kilometer-Fotografie.
Blindflug. Es ist geradezu magisch. Ich schaue, nicht wie sonst während Reisen, auf die Wettervorhersage. Das Wetter kommt, das Wetter geht. Das Wetter ist, wie es ist in jeder Sekunde des Tages. Wenn man nicht sieht, wie es wird, verliert es seinen Schrecken. Keine Ahnung, ob man das Demut, Ignoranz oder Taubheit nennen soll; vermutlich keins von Dreien. Hier – ich will es einmal oben nennen – hat man eine wunderbare Weitsicht, sieht das Wetter von weitem kommen. Das genügt.
Die Fuchskaute ist 657 Meter hoch, lese ich auf einem Schild, das auf die Lodge zur Höhe des Berges hinweist. Wenn das Schild nicht wäre, würde man nicht erkennen, wo der Gipfel ist. Eine gewellte, von Wiesen und Wald durchsetzte Gegend, gespickt mit Windrädern und den Überresten einstiger Wintersportinfrastruktur. Zum Beispiel eine Skischanze und ausgewiesene Loipen.
Auf dem Tacho, der am Mittelrohr des Fahrrads befestigt ist, liegt meist der Träger der Fronttasche oder die warme Jacke, die ich um den Lenker gewickelt habe. Ich sehe nicht, wie schnell ich fahre und wenn ich wissen will, wieviele Tageskilometer ich zurückgelegt habe, muss ich erst den Tacho freiräumen.
Diese Reise fühlt sich so anders an als vorangegangene Reisen. Nicht nur wegen der äußeren, durch die Pandemie bestimmten Bedingungen, sondern auch im Innern, tief in mir drin. Ich spüre das voranschreitende Alter. Der Körper zwickt, und gleichzeitig spüre ich eine unheimliche mentale Fitness, die die Defizite des vergehenden Menschenkörpers mehr als wettmachen. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber selbst trotz der Widrigkeiten, Gegenwind, das ewige Auf und Ab, die teils unter-aller-sauen Wege: ich fliege nur so dahin, bzw. ich empfnde es als fliegen. Es tut nicht weh, das Radeln, es fließt. Kommt ein Berg, fahre ich hoch, ist er zu steil, schiebe ich, bläst Gegenwind, schalte ich runter. Einswerden mit der Tour.
Ab Fuchskaute bis Betzdorf, also bis zum Fluss Sieg, geht das Westerwaldspiel mit einem kontinuierlichen Auf und Ab etwa vierzig fünfzig Kilometer so weiter. Sehr ländliche Gegend. Erst ab Daaden wird es entlang einer Eisenbahnstrecke etwas belebter. Ich meine mich zu erinnern, dass der Herr Raffeisen aus Daaden stammt, muss das mal recherchieren. Viel Raiffeisen jedenfalls in der Gegend. Denkmale usw. Und viel Nister. Nisterberg, Nistertal, Nisterstraße. Die Nister ist ein Fluss, der an der Fuchskaute entspringt und bei Wissen in die Sieg mündet, lerne ich am Abend.
Wenn ihr mich fragt, wie sich die Rheinland-Pfalz-Radroute im Westerwald radelt, so kann ich sagen, es ist ein einziges Hoch und Runter auf teils derben Waldwegen, manchmal auf Straßen, selten auf eklig stark befahrenen Straßen, wirklich sehr selten. Wenn ihr mich fragt, lohnt sichs, so sage ich jein. Ja, denn es ist einfach Teil des Wegs und nein, wer die Anstrengung nicht erträgt, sollte abschneiden entlang des Rheins zwischen Sankt Goar und der Ahrmündung. Er bringt dich allerdings auch um ein knapp 70 Kilometer langes Stück der Route, das absolut schön und auf guten Trassen geführt ist: den Zipfel. Von Betzdorf führt die Radroute ab dem Nachbarstädtchen Kirchen über einen Bahntrassenradweg aufwärts, nordwärts, sanft steigend an der Wildenburg vorbei bis zum nördlichsten Punkt, an dem eine schöne Parkbank unter einer Eiche steht. Ich hatte über diese Bank bei meiner ersten Reise ums Land 2017 schon voller Bewunderung berichtet. Beim diesmaligen Besuch, ich ruhte ein Weile und ließ das Wetter kommten und gehen, lag ein gelb bemalter Stein auf der Bank mit der Aufschrift ’Betet für einander’.
Der Rückweg vom Zipfel führt vorbei am Wasserschloss Crottorf durchs malerische Mühlental nach Wissen an der Sieg.
Am ehemaligen Bahnhof Wildenburg mache ich einen Abstecher zur Wildenburg, male mir aus im Café, das es bei so einer Burg sicher gibt, ein Eis zu kaufen, mich auf die Wiese zu legen, das Eis zu schlecken, die Burg zu betrachten und das Treiben, und nebenbei das Zelt zu trocknen. Pustekuchen. Die Burg ist privatbesessen, Eintritt verboten; die 1,3 Kilometer über einen – hatte ichs erwähnt? – übel zugerichteten Waldweg als Abstecher von der Radroute kann man sich sparen und ich finde, man könnte das am Abzweig am Bahnhof schon erwähnen: Achtung, kein Leckeis auf der Wildenburg. Auch Crottorf, die Wasserburg ist in Privatbesitz, aber man kann, glaube ich, Besichtigungen vereinbaren.
Kurz vor Wissen muss ich die Regenkleider anziehen, stehe am Stadtrand plötzlich vor einer gesperrten Brückenbaustelle, keine Radwegeumleitung, lande im Feierabendstau, mogele mich durch Dreck und Lärm und muss so manchen zwanzig Zentimeter hohen Bordstein überwinden, mir den Fetzen Radweg, den ich irgendwann finde, mit den Stau umgehenden Autokolonnen teilen, verfluche die Stadt, lasse sie unbesichtigt hinter mir, keuche einen Berg hoch entlang einer Hauptstraße, da, endlich der Abzweig in ruhigere Gefielde, langsam kurbele ich darauf zu und stelle fest, der Radweg ist schon wieder gesperrt wegen einer Brückenbaustelle an der Nister. Dieses Mal immerhin mit Umleitungsempfehlung.
Ich beschließe, bis zur gesperrten Brücke zu fahren und zu schauen, ob man trotzdem rüber kommt und unterwegs die Augen aufzuhalten für einen Lagerplatz. Nicht einfach im engen Flusstal, doch mein Lagerplatz wird mich finden, sage ich in solchen Situationen. Die Nister ist ein kleiner Fluss. An manchen Stellen könnte man das Fahrrad sogar hinüberschieben.
Doch bis zur Brücke komme ich gar nicht. Unterwegs ein Mann, Michael aus Düsseldorf, auf Wanderferien in der Gegend, erzählt von der kleinen Pension im kleinen Dorf unweit der Brücke. Das Wetter tut sein übriges. Kurzum quartiere ich mich ein. Nach sieben Reisetagen ist dies die erste Nicht-Wildzeltnacht. Bei selbst gemachtem Apfellikör mit der Wirtin und Michael auf der Terrasse sitzend, dem Regen lauschend, weiß ich: gute Entscheidung.
Ich habe nun den Umkehrpunkt erreicht. In dieser Gegend sind es in die eine oder andere Richtung auf der Rheinland-Pfalz-Radroute genau gleich weit nach Hause. So genau lässt sich das leider nicht ermitteln. 2017 war mein Umkehrpunkt beim Ort Wippe, etwa dreißig Kilometer weiter nördlich. Es herrscht eine gewisse Umkehrpunktsunschärfe wegen Verirrungen, Abstechern in Hunsrücke, Trödelei, Baustellenumgehungen.
Und wie kriege ich die Kurve in diesem Artikel zurück zum Thema, das ich zu Beginn angeschnitten hatte? Nichts sehen und somit auch sich selbst nicht unter Druck bringen, darum ging es doch zu Beginn, oder? Die älteste Sache der Welt. Beginnst Du zu messen, öffnest du dem Vergleichen die Tür, generierst deine eigene Minderwertigkeit, die dich rennen macht in dieser Welt, Tag um Tag um Tag auf dem kleinen, dreckigen Hinterhof des ewigen Vergleichs Gleicher mit Gleichen und das Große, das diese Gleichen und die anderen Gleichen umgibt, die da rennen und rennen ohne zu erkennen, bleibt für immer verschlossen.
Tu ein Tuch über deinen Fahrradtacho.