Von Soundso-Fischchen, Nachlässen und kompletten Menschenleben

Schwarzweißbild einer Abrissbaustelle am dörflichen Straßenrand. Dominant steht im Vordergrund links der Bildmitte noch eine zweiläufige Hauseingangstreppe, während dahinter schon neue Fundamente gelegt werden. Ein Baukran ist rechts im düsteren Bild zu sehen.

„Mit jedem Tod werde ich ein Mensch mehr“, kam mir heute Morgen in den Sinn. Nein, niemand ist gestorben im Verwandten oder Bekanntenkreis.

Ich ersticke in Zutuns. Das Atelier befindet sich im Umbau und Renovation. Ich komme endlich dazu, den zwar wenigen, aber insgeheim gehaltvollen Nachlass von Journalist F. zu sichten, den ich vor seinem Tod aus der zu räumenden Journalistenbude gerettet hatte. Damals, als noch Hoffnung bestand, er vorübergehend ins Pflegeheim kam, stets hoffte, wieder auf die Beine zu kommen, körperlich wie materiell und er eines Tages in eine Betreutes-Wohnen- Einrichtung umziehen könnte, wo er sich mit der geretteten Habe hätte gemütlich einrichten können. Es kam anders und nun ist es schon über zwei Jahre her, dass wir seine Asche bei einem Baumwunder namens Braut und Bräutigam unweit einer Kapelle im Saarland verstreuten. Eigentlich war das mit der Asche ein bisschen anders geplant, aber das ist eine andere Geschichte.

Mit jedem Tod landen Dinge in den Leben der Nächsten. Ganze Nachlässe, sentimentale Erinnerungen, hier ein Foto, da eine Schatulle, manchmal Reichtum, oft Pflichten – nein, ich habe die Dinge nicht vom Journalisten geerbt, ich bin nur derjenige, der sie verwahrt. Seine Erbin wollte kaum etwas. Selbst die Familienfotos, fein gerahmt, liegen noch in einer Kiste im Atelier.

Und die Kunstsammlung; die hat es in sich. Nicht dass die Kunstwerke extrem hohe Werte erzielen würden, aber doch, unter den Bilder finden sich einige bekannte Namen und viele Kolleginnen und Kollegen, die ich kenne, die Journalist F. im Laufe seines Journalistendaseins interviewte, deren Ausstellungen er besprach, die ihm hie und da etwas schenkten, denen er hie und da etwas abkaufte, das ihm gefiel. Es befinden sich sogar Irgendlinksche Werke in der Sammlung, die auch ihren Preis erzielen können. Vor allem aber ist die Kunstsammlung sehr schön, geschmackvoll, macht sich gut an Wänden in feinen weißen Wohnungen, wenn man denn eine hat. Die Künstlerbude selbst hängt leider A selbst schon voller Kunst und B sind die Wände nicht weiß genug, nicht groß genug, zu viele Spinnen allüberall, die ihre Notdurft auf den Rahmen hinterlassen.

„Hüte Dich vor dem Soundso-Fischchen“, sagte jüngst Galerist B. Das Soundso-Fischchen ist etwas größer als das Silberfischchen; er zeigte mit den Fingern und ich stellte mir vor, dass es etwa einen halben Zentimeter lang ist, schlank und dass es, wie der Galerist warnte, Papier frisst. Eine Unsumme Euro habe es einst in der Galerie verschlungen; er nannte Namen der KünstlerInnen, die vom Soundso-Fischchen gefressen wurden, „achja und der Spinnenschiss? Den kriegste einfach weggewischt“, sagte er. Das Soundso-Fischchen heißt eigentlich anders, aber ich habe den Namen vergessen. Und es spielt hier, auf dem von Spinnen und Bilchen umschwärmten einsamen Gehöft im Scheunenatelier zum Glück auch keine Rolle. Fotos frisst es nicht und auch keine komischen Objekte und keine Fahrradketten und ich habe auch noch nie ein Soundso-Fischchen gesehen. Ich stelle es mir schlank und silbrig vor und wenn man die Brille aufsetzt, um besser zu sehen, zappeln an dem kümmelkornförmigen Körper unzählige Beine und es besteht aus viel Maul, das es aufreißt, um Papier zu fressen.

Die Kunstwerke von Journalist F., viele aus Papier, sind tadellos erhalten. Ich entstaubte sie und vielleicht machen wir endlich einmal eine Ausstellung in der Galerie. Die Sammlung F.! Und es gibt eine Lesung aus seinem Buch und seinen Blogtexten, so wie es zu seinen Lebzeiten schon überlegt war.

Achje, die Zeit, wie sie uns immer ein Schnippchen schlägt, uns auf falschen Füßen erwischt, unsere Lebenszeitplanung durchkreuzt; auch ich bin betroffen.

Gestern bei einer Radeltour mit einem wortkargen aserbaidschanischen Künstler der Galerie (ich bin durch Zufall sein Buddy geworden, der ihm hilft für seine Residency in der Galerie Fuß zu fassen; andere Geschichte) kamen mir all die Toten der letzten zehn Jahre in den Sinn. Ich mache das manchmal, surfe gedanklich auf den Gräbern, die, einst frisch ausgehoben, nun überwachsen, die vergangenen Leben der Vorangegangenen  behüten. Ja, vielleicht könnten wir mal zum Journalsitenbaum radeln, dachte ich und dann: Wann hat das eigentlich angefangen mit dem andauernden Sterben im Verwandten- und Freundeskreis? Zehn Jahre her, ja, ich erinnere mich; plötzlich ging jedes Jahr einer der männlichen Verwandten, zack, zack, zack und dazwischen gleichaltrige oder gar jüngere Freundinnen und Freunde, Twitterbekanntschaften, die einem lieb geworden waren, Social Media-Buddys, Künstlerkollegen und -kolleginnen und Freunde und Freundinnen von Freunden und Freundinnen und und und und insbesondere mit den nahestehenden Gestorbenen oder noch Sterbenden werde ich jedesmal ein Mensch mehr, so dachte mein Hirn, kurbelnd im Bliestal … ja ja, ist es nicht so, mit jedem toten Nahen übernimmst du ein Teil seiner Lebensbürde, seines Wandelns in der Welt, Dinge und Pflichten gehen in deinen Besitz über. Eine kaputte Kettensäge vom Onkel, viele kaputte Geräte des Vaters, auch viele noch ganze Geräte natürlich; aber mehr noch, vielleicht geht das ja nur mir so, die Lebensträume der Vergangenen leben oft auch zu einem gewissen Teil in mir weiter und damit komme ich zum großen Problem: Es wird irgendwann einen finalen Overload geben, in dem ich, also wenn nicht ich es bin, der stirbt, von allen alles verinnerlicht haben werde und mich mühsam durchs Leben schleppe, versuchend, die Dinge zu richten.

Vielleicht kommt daher der rigorose Gedanke, falls mir mal etwas zustößt: Mietet einen Abfallcontainer, schmeißt alles rein, löscht die Festplatten, verscharrt mich so billig wie möglich und genießt euer Leben.

Strategie des Nichtdarandenkens

Bearbeitet und publiziert am 21. Oktober 2025

Eigentlich liegen alle „Aufgaben“ klar auf dem Tisch. Oder sollte ich sie die „Diesunddas“ nennen. Kleine Zurückbleibsel aus dem großen Lebensplan, die im Kampf mit der knappen Zeit hintan stehen mussten.

Ich erwache gegen drei. Das Bett ist zerwühlt. Nassgeschwitzt. Eine gruselige Szene aus einem Film geht mir nach. Stehe auf, trinke ein Glas Milch. Klappe den Rechner auf. Seit zwei Tagen, seit ich wieder im „Büro“ bin, arbeite ich unter anderem an technischen Dingen auf dem Irgendlink-Blog. Was auch mit Intervention in der Tiefe des Servers einher geht. Studiere Bedienungsanleitungen für Software, habe zahlreiche Tabs offen. Das Hirn spielt zum Glück halbwegs mit, hatte es doch vor der dreiwöchigen Radreise gen Norden den Dienst fast eingestellt. Kaum in der Lage, mich auf etwas zu konzentrieren. Schwarzer Bildschirm. Linux-Prompt. Login und Rootrechte, Serverupdate und nebenbei schaue ich, wieviel Platz noch auf dem Miniding ist, auf dem all meine Blogs gehostet sind: so gut wie voll. Schuld ist das Plugin Backwpup, das vor Monaten ein Update zunächst zur Unbenutzbarkeit erfahren hatte, dann zurück gerudert und nun ist es WYSIWIG-tauglich ganz gut zu bedienen, aber eben, es macht von Haus aus nun automatische Backups, egal, ob man möchte oder nicht. Es speichert sie auf dem engen Server. Ich müsste sie regelmäßig herunterladen, damit der Speicherplatz nicht voll läuft.

Unterwegs der Radreise gen Norden hatte ich schon einen Freund deswegen beraten. Hatte das Plugin als Ursache für seinen Webspace-Überlauf diagnostiziert, weshalb ich wegen des knappen Platzes hier bei mir auch nicht groß suchen muss; die zahlreichen Backwpups auf etlichen auf dem Server liegenden WordPress-Installationen rümpeln die Platte voll.

Durchforste die Seiten und lösche die Backups und richte Backwpup auf mindestens vier Installationen neu ein. So vergeht die Zeit. Ich habe Spaß und bin zufrieden, schaue zwischendurch auf die Livemap der Transcontinental. Beneide die Radelnden. Und auch nicht. Meins wäre es nicht, zu rennen, obschon ich auf der Sommerreise, meiner Irgendwohin-Tour, Geschmack am lang und weit Radeln gefunden habe. Sagen wir so: Ich kann es wenigstens verstehen, dass Leute in Santiago de Compostella starten und 5000 Kilometer weit ans Schwarze Meer radeln und nur alle zwei Tage für ein paar Stunden schlafen. Auch die Bergkletterei verstehe ich und das ab und zue miese Wetter zu erdulden, den Schmerz, die Nacht und die Angst, dass was kaputt geht oder man stürzt oder per Navigationsfehler in einer Sackgasse landet. Das alles kann ich verstehen und ich durchlebe es ja auch auf meinen Touren in anderer, mir angepasster Form.

Bis fünf schufte ich am Server und diagnostiziere, da gibt es noch etliche unsichtbare Baustellen, die ich erledigen sollte: andere Software installieren hier, ein externes Backupsystem aufsetzen da,  noch mehr Sicherheit und die Blogsoftware bei den etwa zehn Blogs mal ordentlich durchforsten und aufräumen. Sowohl in den Datenbanken als auch in den Dateisystemen sind etliche Datenreste überflüssig, die durch das Installieren und nicht ganz saubere Deinstallieren von Plugins und Themes geblieben sind.

Mein eigentliches Vorhaben, weshalb ich mich vor zwei Tagen in die Sache reinkniete, ist die Entwicklung eines Themes oder einer Datenbank, mit der ich mein Blog – am besten den Shop – in ein Werksverzeichnis verwandeln kann (womit wir beim Großen und Ganzen angelangt wären, dem Zustreben aufs Lebensende). Mein Poormans-Ansatz ist, mittels individueller Felder und Blocktheme-Editor ein Werksverzeichnis-Theme zu erstellen, in dem ich die wichtigsten Daten für Kunstwerke erfassen kann. Auch im Hinblick auf andere Künstlerinnen und Künstler, allen voran Schalenberg, ist das wichtig und von Interesse. Und überhaupt hat mich der Kollege Schalenberg ja erst auf die Idee gebracht, an einem Werksverzeichnis zu arbeiten. Er und Herbig sind unter meinen FreundInnen die beiden Kollegen, die sich meiner Meinung nach am besten selbst dokumentieren.

Nachts regnet es. Gegen fünf wieder im Bett. Das Prasseln aufs Dach beruhigt. Ich denke rückwärts: Was muss ich vor den Ferien – immerhin schon nächste Woche – mit Frau SoSo noch alles erledigen? Zum Glück wenig. Eigentlich nur noch packen. Meine Sachen liegen ja noch von der Irgendwohin-Tour herum. Das Radel, das ich gerne renoviert hätte lasse ich wie es ist. Drei- vierhundert Kilometer wird es schon noch packen und wer weiß, ob es eine gute Idee ist, vor den sandigen holländischen Dünen schon einen neuen Kettensatz aufzuziehen?

Rückwärts denke ich auch vom kommenden Raus aufs Land: Wieviele Schlafplätze brauche ich und wo bringe ich die Leute unter? Ich müsste mindestens die Kammer des Schreckens fit machen und wer weiß, vielleicht sollte ich das ja auch nur rudimentär und notdürftig. Denke ich immer in großen Spuren: Diese Wand sollte weiß, der Boden geleinölt, das Bett schön eingerichtet usw. Warum nicht einfach nur aufräumen, ja ja und darauf läuft es hinaus.

Ein Schlafplatz fehlt mir. Ich hatte überlegt, den Holzanhänger, den ich während der Pandemie eigentlich in eine Traktorgalerie hätte verwandeln wollen, in ein Mini-Tiny-House zu verwandeln. Ein Nur-Schlafplatz- Minihäuschen, aber dafür fehlt mir die Zeit.

Ach Zeit Zeit Zeit! Ich denke immer nur, ich käme nicht voran, weil ich nach dem Tun oder gar noch während des Tuns (wenn ich den Radler in mir sehe) schon verdränge, was ich alles tue. Die letzten Tage nichts geschafft? Quatsch. Ich hab den Holzstapel vorm Haus dezimiert, im Garten etliche Aufräumarbeiten gemacht, den Grillplatz aufgeräumt, Kommunizierte mit Menschen – etwa war ich einen halben Tag lang mit dem Radel unterwegs nach Saarbrücken, was ziemlich gut tat und die ganz und gar unsichtbaren Arbeiten am Server gehen gänzlich unter in meiner Bilanz. Ich darf mir nichts vormachen: Insgeheim bin ich unheimlich fleißig und komme voran.

Wenn nur der Kopf nicht immer so vollgerümpelt wäre. Wenn ich nur nicht immer denken würde, du kommst doch überhaupt nicht voran.

Im Halbschlaf lege ich mir eine Strategie des Nichtdarandenkens zurecht, des mich vergessens und einfachen Weitermachens, ganz wie beim Radfahren. Einfach tun tun tun, strampeln strampeln strampeln, bloß nicht auf den Tacho starren, bloß nicht mit dem Wind hadern, bloß nicht die Uhr, bloß nicht den Blick suchend zur Passhöhe richten. So gehts voran. Langsam. Angenehm und wenn man sich umschaut und ruht irgendwann, stellt man fest, man ist da.

Zehn Uhr ists als ich wieder aufwache (aus unruhigen Träumen) – ich weiß nicht, was das ist, daheim schlafe ich schlechter als im Zelt, daheim sorgt mich mehr. Daheim fühlt sich der Körper alt und verlebt an, was er ja auch ist – wie sagte ich bei Herbig auf der Finnissage in Saarbrücken: „Ich fahre deshalb so gerne Rad, weil ich mich nur auf dem Sattel rundum wohl fühle“, und wie schrieb jemand anderes im Fediversum: „Radfahren ist mein natürlicher Aggregatszustand“.

Tango mortale des Radreisens – Tag 24

Zum Bahnhof Hannover und per Zug nach Homburg/Saar

Ich schlingere nicht einmal wie sonst, wenn ich eine zwölf oder mehrprozentige Steigung hinauf kurbele. Stoisch, nein mantrisch gehts in die Abenddämmerung. Meinetwegen könnte die Steigung ewig so weiter gehen hinein in die Stille der Nacht, hinauf auf einen imaginären Simplon-Pass des langen Reisens. Irgendwo oben würde mich ein riesiger steinerner Adler erwarten, der seine Flügel ausbreitet und überm Dunst der großen Höhe wacht. Daneben tauch das Bild meines Freunds Marc auf, 2009 im August überquerten wir per Auto den Simplon auf dem Weg in sein „Hüsli“ im Tessin.

Zeiten schlagen über mir zusammen, treffen sich, winden sich, verweben sich. Es ist egal geworden, was jetzt ist, was vorhin war, was ich wann wo mal erlebte, alles findet gleichzeitig statt im eigenen Kopf. Das Früher ist das Später geworden und umgekehrt. Morgen war schon, ist lange her. Werde ich verrückt? Mitnichten.

Der Tag war der anstrengendste der Reise. Bei meinem Lager in einer Schutzhütte frühstückte ich Brot, Käse, gebackene Blutwurst, Haferflocken, Milch, Kaffee, alles vorhanden. ich müsste nur noch wenige Lebensmittel kaufen an diesem Samstag und ich könnte ein weiteres Wochenende überstehen auf dieser Reise, die mich irgendwohin führte, mich noch immer irgendwohin führt. Die Hütte ist groß genug, dass ich die Hängematte aufhängen konnte, in der ich abends ein wenig baumelte. Ist wie Sofa nur besser. Ich hatte fest vor, in der Hängematte zu übernachten, bis mich eine Stechmücke laut „sieend“ plagte, ich das Zelt noch aufbaute, nur das Innenzelt als Mückenschutz. Ich teilte mir den kiesigen Boden mit riesigen Käfern und einer Maus, aber besser, als in der Hängematte von der Stechmücke am Schlafen gehindert zu werden. Im Mülleimer der Hütte nehme ich eine Pfanddose ins Gepäck. Vier Glasflaschen lasse ich liegen. Hätte ich normalerweise auch noch eingepackt, aber meine Allestasche, in der ich eine einzige Muschel und allerlei Pfand aufbewahrte, hatte ich ja an der Elbe oder nördlich davon verloren. Hinein in den Tag, vorbei am Flughafen Hannover. Ab und zu ein Flugzeug. Grauer Himmel, Regenneigung. Rückenwind. Baumbewuchs um die Wege, über die mich das Navi lotste, ostwärts Richtung A7 und südöstlich ab Langenhagen Richtung Hannover. Die Tour ist noch immer in einem fragilen „es könnte sich so oder so entwickeln-Zustand“. Obschon ich sehr stark Richtung Bahnfahrt ab Hannover tendiere und das Navi auch zum Bahnhof programmiert habe. Das Navii zeigt: Ankunft etwa viertel vor zehn. Als ich aus dem Funkloch komme: eine Nachricht von Freund Ludwig, dass er etwa 13-14 Uhr Höhe Hannover auf der A7 südwärts fährt. Verlockend, wirklich verlockend. Ich liebäugele, kalkuliere, schaue Landkarte, rechne Kilometer und Zeit, will ja dieses Wochenende heim. Mit Ludwig bis ins Bayrische? Das wäre eine Möglichkeit. Kipppunkt der Reise, einmal mehr. Wenn ich mit Ludwig fahre, kann ich in Ochsenfurt raus, 45 Kilometer westwärts radeln bis Osterburken und dort in die S1 steigen nach Homburg. Aber ist die Strecke überhaupt schon wieder offen? Diese Version klingt jdenfalls sympathisch. Ich checke die S1. Sie fährt gar nicht. Die Bahnapp lotst mich mit Umstiegen von wo nach wo, bloß nicht die gute alte Direktverbindung, die drei Stunden oder mehr dauert vom Rande Baden-Wuerttembergs bis nach Homburg Saar. Ruckzuck verliert die Ludwig-Variante an Attraktivität. Verlockend wäre, mit ihm in die Finca jenseits Nürnbergs zu fahren zu Freund Leb. Das ist SEIN Tagesziel, aber das würde mich noch Tage weit weg von daheim bringen.

10:33 fährt mein Zug am Hauptbahnhof Hannover. Ein letzter Einkauf in einem Netto in Langenhagen, direkt am Wegrand. Banane und Pfandrückgabe. Ich erhalte 51 Cent zurück. Guter Tag. Auf dem Bahnsteig proppenvoll und es wird Minute um Minute noch voller. Zwei Männer in Warnwesten schicken alle Leute nach vorne, weiter weiter weiter bis zu Abschnitt A. Ich frage, wo ist das Radelabteil und einer antwortet, genau hier, also im weniger frequentierten Bereich. Habe Puls und Adrenalin. Die vielen Leute nach wochenlanger gefühlter Alleinsamkeit und nur ab-und-zuen Phasen der Dichtbevölkerung, die ich durchradelte wie Brei, tun mir nicht gut. Ich gottesurteile, wenn es nicht passt mit dem Einstieg, bleibe ich hier, rufe Ludwig an, fahre rüber zur Autobahn, warte auf ihn und verschiebe mein Zugfahrproblem nach Langenselbold oder Würzburg oder ich fahre doch mit zur Finca und denke tags darauf die Reise neu.

Der Einstieg klappt besser als erwartet. Die Metronom-Züge haben explizite Fahrradbateile, so dass sich keine sturen Leute irgendwo hinsetzen- oder stellen können. Habe sogar Sitzplatz. Bis Göttingen entspannt Zug fahren etwa ein zwei Stunden. Dort nächster Zug, nächstes übles Einsteigspiel. Auch da Glück. Zwei Radlerinnen auf dem Rückweg von einer einwöchigen Harz-Radreise wollen auch nach Frankfurt, sagen mir, dass es von Kassel keinen Zug nach Frankfurt gibt und man hinausradeln muss zur Wilhelmshöhe, dem Fernbahnhof. Nie durch Kassel ohne Wilhelmshöhe, denke ich. An der Wilhelmshöhe führt kein Weg vorbei. Fünf Kilometer sind zu überbrücken und der Anschluss fährt 14:14 Uhr. Gutso. Kann ich in ein Grünland pinkeln, denn das Zugklo ist ewig besetzt. Ich vermute Schwarzfahrende, die sich darin verstecken, oder einen Defekt. Wilhelmshöhe Brötchen gekauft in einem Backwerk, sonst wäre ich verhungert. Der Zug fährt nicht wie erwartet durch bis Frankfurt. Das bedeutet: ein weiterer peinvoller Umstieg in Fulda. Es ist immer aufregend und an diesem Samstag sind besonders viele Radelnde unterwegs. Junger Mann mit Kurierrucksack im Abteil. Wir plaudern. Er erzählt mir von Trekkingplätzen in der hessichen Röhn, die ein studentisches Hochschul-Projekt sind. Muss schick sein und nützlich. Eine zunächst mürrische Radlerin mit Chemo-bedingtem jungem Haarnachwuchs klinkt sich ein wegen des Trekkinghütten-Designs. Sie habe auch Design studiert und es interessiere sie als Wanderin. So plaudern wir bis Witzenhausen, wo der junge Mann aussteigt. Übrigens auch eine Art Europenner, der gerne wild zeltet, in Kassel und Hannover als Kurier arbeitet, im August will er nach Frankreich touren.

Adrenalin in Kassel und es klappt dennoch. Ich weiß gar nicht, was ich mich da immer anstelle, aber die Aufregung und die Sorge ist einfach in mir. Was kann schon passieren, außer dass ich nicht in den Zug komme und eine Stunde warten muss oder auch zwei. Es ist wohl dieses etwas partout wollen und es nicht sicher kriegen können, was das Leben so kitzelt. Frankfurt von Gleis 10 zu Gleis 20. Am Kopfbahnhof elendes Gewusel, kein Spaß natürlich. Gleis 20 zunächst schön leer, ich atme auf, könnte ein guter finaler Zug werden ins Saarland, ein Mann im Rollstuhl rollt vorbei, fragt um Geld. Ich gebe ihm ein zwei Euro-Stück, schaue ihm nach wie er weiter den Bahnsteig hinauf radelt, die Leute um Geld fragt. Eine Sackgasse natürlich, er muss auch wieder zurück. Muss an Journalist F. denken, denn der Mann hatte ein wundes Bein, genau wie mein toter Freund F., ach und sicher noch viel mehr Leid als nur das Bein. Gebe ihm auf dem Rückweg nochmal ein zwei Euro- Stück. Im Geldbeutel ist nun nur noch weißes Geld und ein symbolischer fünf Euro-Schein. Bahnsteig nun doch voll und als der Zug einrollt, stömen alle vom weit draußen Ende des Sackgassenbahnsteigs zurück, denn er ist nur halb lang. Mega Gerangel. Ich stehe zum Glück direkt beim Fahrradabteil hinter zwei anderen Radlern. Aussteigende und Einsteigende schlagen übereinander wie die Wellen von Nord- und Ostsee bei Skagen, denke ich und als ich endlich ins Abteil komme, ist da noch ein Radler, der raus will. Habe ein schlechtes Gewissen, weil ich ja Reindrängler bin in dem Sinn, aber vor mir sind schon zig Leute da rein. Er siehts gelassen, unsere Taschen verheddern sich, es ist wie vermurkster Tanz, lösen sich schließlich und dann bin ich drin, er draußen. Tango mortale des Fahrradbabteilgerangels am Bahnhof Franfurt.

Die R3 kriegt einen weitere Wagen vorne angehängt, was der Zugführer schließlich kund tut, als schon alle im hinteren Wagen eingedost sind. Wem es zu voll ist, der kann umsteigen nach vorne. Ach ich Depp ohne Vertrauen! Aber konnte es ja nicht wissen. In Frankfurt ist der Sog nach Hause schon immens. Drei Stunden Fahrt und ich bin daheim. 17:28 geht es los. Der Zugführer hat Humor, lockert durch Ansagen wie etwa. Leider fahren wir seit Rüsselsheim hinter einem anderen Zug, der partout nicht vom Fleck kommt und verspäten uns deswegen, aber hey, sehen sie es gelassen, schneller als zu Fuß sind wir ja doch. Alle lachen. Im Abteil sitzt auch ein Sankt Wendeler Radler nach Kattegat-Umrundung. Von Rostock schiffte er nach Trelleborg, und radelte via Malmö, Göteborg usw. Er ist seit Flensburg heute früh in Zügen unterwegs. Was wohl nur dank ICE möglich war. Wir werden nicht so ganz warm. Wohl wirke ich wegen des konsequent getragenen Urbandoos auch etwas merkwürdig. Aber hey, das Gefühl, ein Minimum gegen mögliche Erkältungskrankheiten getan zu haben, tut mir dennoch gut. In den Zügen traf ich ein zwei Leute mit Maske. Der Rest schien unbesorgt. Es gab etliche Niesende, Schnupfende, Hustende. Und es war voll, so voll.

Bis Neunkirchen mit einer Gruppe Vorrentnerinnen meines Alters im Abteil, die sich einen schönen Irgendwohin-Tag gemacht hatten am Niederwalddenkmal und die tolle Geschichten erzählten von ihrer Tour. Offenbar gibt es da oben auch abenteuerliche Höhlen und man kann ein Kombiticket kaufen,  für 22 Euro, das für die Schifffahrt ab Bingen gilt und die Seilbahnen hinauf und hinunter zum Denkmal. Darüber mal nachdenken, falls man einen Ausflug dahin macht.

Neunkirchen, Umstieg wegen Verspätung verpasst. In der Unterführung zum Aufzug wate ich meterweit durch Urinpfützen. Zwei samstäglich angetrunkene Jungs mit mir im Abteil, eigentlich ganz nett, aber eben angetrunken. Ein Mädchen mit gleich aussehendem Schoßhund auf dem Arm steigt zu und ich muss schmunzeln ob des komischen Bilkds und als die Jungs lachen – das Mädchen kriegt es zum Glück nicht mit, muss ich auch lachen, hasse mich dafür, sollst doch die Minderheiten schützen und zu ihnen stehen, nicht über sie lachen und das Mädchen gerät mir insgeheim zur Galionsfigur für Minderheiten, obschon das natürlich quatsch ist, aber es ist diese Du bist nicht perfekt-Situation wie auch im Zug zuvor, als ich mit dem aussteigenden Radler den Tango Mortale tanzte. Ich treibe im Brei der Masse und werde auch in dieser Masse bewegt und wenn ich individuelle Bestrebungen hin zu einer für mich als besser empfundenen Welt machen will, dass habe ich diese Masse als Hinderungsgrund und widersetze du dich erst einmal dem kollektiven Lachen, das ist gar nicht so einfach, wenn einer anfängt und im Grunde ist es mit dem Gähnen ja so ähnlich.

Homburg bis heim, neun Kilometer, oft geradelt. In Kirrberg radele ich die Kalköfer-Weg-Bypassage, also nicht den schmalen Fußpfad mit den hinein ragenden Hecken vorbei am Obstgrundstück, sondern den Teerweg Richtung Heilbachhof, die zwölf Prozent, die ewig dauern dürften. Kurzes Stück Sickinger Höhe. In der Ski und Wanderhütte ist Janda, Hippiemusik und Gesang und dann daheim. Und wie zum Glück weiß ich, als ich vor der Tür stehe, wo ich den Haustürschlüssel versteckt habe. Ich hatte es vor der Abreise auch aufs Video gesprochen, aber kram du erst einmal die volle Speicherkarte hervor und hangele dich zum ersten Video durch.

Was bleibt: bald 2000 Kilometer irgendwohin und wieder heim, dieses Blog, viele Bilder, vierhundert GB Filme und Ideen, Ruhe, hoffentlich bleibt sie, Zufriedenheit, froh, es getan zu haben, froh, es geschafft zu haben, wieder mehr Lebensmut und noch mehr Gelassenheit.

Was die Tippfehler der Beiträge betrifft, die ich in den letzten Wochen schrieb, nun am Tresen der heimischen Draußen-Küche unterm Vordach des Ateliers, halb stehend, halb sitzend am Barhocker lehnend, ja, sie sind meiner Schludrigkeit und Hast beim Schreiben geschuldet, aber auch zu einem guten Teil dem Umstand, dass die Bluetooth-Übertragnung machmal hakt, dass die Tastatur springt, aber hey, sie taugt und „schneller als zu Fuß“ geht es ohnehin.

Chronodiversität – Tag 22

Von Bismarcks Schloss zur Quelle der Luhe

Heute müssen wir über Chronodiversität reden, jenen von mir lapidar erfundenen Begriff in Anlehnung an die Begriffe Biodiversität und Neurodiversität. Chronodiversität ist, finde ich, die Diversität persée als natürlichste aller Daseinsformen. Alle ticken ähnlich, keiner tickt gleich, aber des Menschen Tendenz zur Bevormundung und Gleichmachung ist so übermächtig, dass einem, wenn man einmal ein paar Jahrzehnte als Mensch gewachsen ist und sich daran gewöhnt hat, die Diversität als etwas Unnatürliches vorkommt. Der Normalzustand hingegen scheint: Alle sind genau so und so und abnorm ist das, was nicht unserer festgelegten Norm entspricht. Das liegt ja schon im Begriff Abnorm. Menschen normieren, die Natur hingegen entwickelt sich in sich verschlingenden Daseinssträngen, zwar oft kongruent oder ähnlich, jedoch divers. Stets ist das so.

Es liegt wohl am System, das wir bilden, dass es Bevormundung und Normierung nötig macht. Den gestrigen Tag kurbele ich dem Navi folgend über ruhige Sträßchen und oft Wald- und Sandwege, zunächst vom Sachsenwald bis zur Elbe, die ich bei Geesthacht über die Brücke überquere. Guter Morgen. Bin schon spät dran. Habe keine Eile. Das Hirn eruiert, es ist Donnerstag. Es versucht Zeitanker zu finden, doch so wirkliche Verankerungen in der Zeit gibt es nicht. Was war gestern, vorgestern, was war vorhin, vorvorhin? Bismarckmuseum ahja, darüber schrieb ich schon und die kuriose Begegnung mit der Rezptionistin, der ich gegen neun Minuten vor zehn ins Haus flatterte, nichts ahnend um die Uhrzeit. Im Hindergrund im kleinen Vorraum des Museums die wuchtige, geschnitzte Uhr namens Bimbam, so will ich sie nennen, die einst den Gründer des deutschen Reichs durchs Leben begleitete, ihm Stund um Stund schlug.

Die Elbebrücke bei Geesthacht überquert auch eine Elbinsel. Ich mache einen Abstecher, will schauen, ob ich am Elbstrand baden kann. Durchs Schilf gehts auf schmalem Pfad zum Sandstrand. links sehe ich die Brücke, vor mir der Fluss. Niedrigwasser. Ich baumele in der Hängematte. Es ist erst das dritte Mal auf dieser Reise, dass sie zum Einsatz kommt. Sonst dient sie mir nur als Kopfkissen im Zelt. Schleuderte den Gurt über eine schief hängende Weide, deren Äste verwunden sind wie die Daseinsformen allen Lebens. Diverse Weidenäste. Ein Ast, mehr als Oberschenkel dick, sackte einst ab in die Gabel zweier anderer Äste und stützte sich jenseits auf den Boden, wo seine Knospen Wurzeln bildeten, ein neuer, oder der gleiche Baum zu wachsen begann, welch herrliches Geflecht. Schleuderte den Gurt knapp drei Meter in die Höhe und er verfing sich mit der Schnalle, war nicht mehr wegzuziehen, geschweige denn, dass ich die Matte daran hätte aufhängen können und so verbringe ich erst einmal eine Weile damit, das Ding zu befreien. Mit einem Zweig stochernd gelingt es schließlich und im dritten Anlauf kann ich die Matte endlich aufhängen und baumeln. Der Fluss weicht noch weiter zurück, Ebbe. Ich baumele. Der Fluss kehrt wieder. Zeit verrinnt. Beim Packen später bemerke ich, dass ich einen der drei Stoffbeutel verloren habe. Eine leere Pfanddose darin und die einzige Meermuschel, die ich mitgenommen habe am Strand von Fanö. Ich hadere wegen der Muschel und nuja, vermutlich ist der Beutel beim Sachsenwald-Zeltplatz liegen geblieben und das dauert mich noch mehr, dass ich dort Schmutz hinterlassen habe. Da hilft es auch nicht, dass ich ebendort auch Schmutz mitgenommen und im nächsten Mülleimer entsorgt habe. Hoffentlich ist der nächste wild Zeltende dort so drauf wie ich und nimmt meinen Müll mit.

Im Hadern und Packen aauf meiner Elbinsel, irgendwann muss man ja weiter ziehen, verschussele ich das Fahrradschloss, das mir Fliegerhorst gegeben hatte, kein teures, ich bemerke es erst, als ich das Radel vorm Lidl in Salzhausen abschließen will. Mist. Es ist von Vorteil, stets in kleinen Siedlungen einzukaufen, in denen die Supermarktvorfeldsituation übersichtlich ist, keine Tagdiebe herum lungern (wie z. B. in Flensburg, als ich mich vor dem Laden umdrehte und weiter fuhr, weil dort zwielichtiges, in die Ecke pissendes Volk unterwegs war). Salzhausen wirkt eher dörfisch. So kann ich das Radel auch unabgeschlossen beruhigt stehen lassn, gehe hinein, kaufe ein, Haferflocken, die ich zusammen mit eingeweichtem, usbekischem Trockenobst (obskure Tüte aus Mühlendorf bei Oelixdorf) zu essen gedenke. Des morgens. Vorm Markt eine junge Betllerin, knallrotes Gesicht. Sie schaut, wie wir alle, einem Bagger zu, der mit Getöse ein Haus gegenüber abreißt. Ich werfe einen Euro in ihren Becher, der schon gut gefüllt ist mit Eurostücken, freue mich für sie. Ihr Radel parkt unabgeschlossen neben meinem. Frage mich, ob sie als Europennerin bettelnd unterwegs ist oder aus Not, wobei eben, die Not, anders zu sein, ist ja genauso eine Not wie die Not, ein abes Bein zu haben, nein, nicht ganz so grausam, ich übertreibe, sollte dies noch feilen, diesen Gedanken.

Die Tastatur auf den Trangia zu legen und zu schreiben hilft. Es gibt weniger Vertipper, habe ich das Gefühl und wenn Bluetooth stabil ist, entstehen auch keine Zeilensprünge.

Radele weiter zu einer Waldlichtung hin, die ich morgens nach Gutdünken im Navi als Tagesziel programmiert hatte. Stelle mir eine fein gemähte Weide vor, keine Hochsitze, kein panoptisches Grusel, sondern ein Idyll und kämpfe mich über Wald-und Schotterpisten heran, bin fast dort und: zack, Waldweg gesperrt wegen Forstarbeiten. Also weiter. Gleich nebenan ist auf der Karte etwas eingezeichnet, das sich als brauchbar erweisen könnte, vielleicht ein Holzlagerplatz, doch auch dort: Zaun, Stacheldraht, militärischer Bereich. Kilometer lang. Irgendwann eine Hinweisschild zur Luhequelle, ganz nah. Ich folge dem Weg, der ein Wanderweg ist, sandig, nicht gut fahren, aber wenn ich schon da bin, dann doch auch zur Quelle hin (wie die Liebste einst schrieb). Bei der Luhequelle ist kaum Platz zum zelten und die A7 ist so nah, dass es mir zu laut ist, um dort zu zelten. Zum Glück ist eine meiner erworbenen Fähigkeiten, dass ich im Hirn schon mögliche alternativ-Lagerplätze oder Hütten markiere, an denen ich vorbei radele. Da war doch was. Ist nicht weit und so fahre ich zurück, noch einmal hundert Meter weiter entfernt von der Autobahn zu einem Holzfällerweg, auf dem ich das Zelt unter einer trockenen Kiefer aufbaue. Einige tief hängende, dürre Zweige, die in mein Lager ragen, breche ich ab. Straße hört man deutlich, stelle mir vor, es sei ein Fluss.

Mit Ludwig hatte ich vereinbar, dass er mich irgendwann an der Autobahn aufgreift. Seine Aussage, er fahre Freitag oder Samstag ist zwar klar, aber nun merke ich am eigenen Leib, wie kompliziert das für andere Menschen sein muss, wenn ich mich in solch schwammiger, chronodivergierender Art ausdrücke und ein großes schwammiges zeitliches Vielleicht und Womöglich in die Welt rufe. Wenn ich das Bild der sich windenden umeinander wicklenden Divergenzien noch einmal aufgreife, so sind es unsere Reisen, unsere stets in Bewegung Seiens, die es kompliziert machen, einen Synchronpunkt zu finden. Ich werde weiter nach Süden radeln und mein Weg folgt auch noch der A7, aber gegen späten Nachmittag muss ich eine Entscheidung treffen, die die Ludwig-Variante, an der A7 zuzusteigen, verunmöglichen könnte, denn dann würde ich in Richtung Steinhuder Meer fahren, westlich von Hannover. Meine Ludwigzustiegsmöglichkeit ist aber östlich Hannovers. Es wäre nun gut zu wissen, ob der liebe Mensch heute bis morgen früh in dem Zeitfenster fährt, in dem ich noch in A7-Nähe bin. Falls nicht, würde ich per Zug nach Hause fahren.

Das Radel zickt auch ein wenig. Ich weiß, dass ich heim muss und ich will auch heim. Hoffe, die krachende Kette hält noch zwei dreihundert Kilometer durch.

Von Gnadenhöfen, Landschlössern und Spätverkerouacung – Tag 21

Vom Auwald nach Friedrichsruh

Eine zweigeteilter Tag, Zwiespalttag. Nachdem ich morgens mit Ludwig eine ungefähres Treffen irgendwann Freitag oder Samstag vereinbart habe, ist mein Ziel nun relativ scharf vor Augen: südwärts, über die Elbe und mich in Nähe der A7 begeben, damit wir uns an einer gemütlichen Autobahnauffahrt treffen können wie einst nahe Würzburg, als er mich aufgriff und mitsamt Radel und Gepäck mitnahm nach Nürnberg. Letztes oder vorletztes Jahr. Das Hin- und hertreiben lässt mich denken, dass ich verspätkerouace im europäischen Sinn, ein Gammler, Zen und weite Wege-Leben, hoffentlich nicht mit zu vielen lähmenden Manjana-Phasen. Das Navi routet mich über ruhige, meist geteerte Wege – zunächst. Vorbei an Gehöften, durch Naturschutzgebiete, kleine Dörfer, in denen es nichts gibt, kein Laden, kein Wasserhahn, noch nicht einmal ein Bushäuschen und oft auch keine Bushaltestelle. Undichtbesiedeltes Naturland, nein Acker- und Weideland, gespickt mit Wäldchen. Sonnig. Gartsiger Wind, den ich, da er aus Nord-West kommt, nur spüre, wenn ich anhalte. Zehn, zwanzig, dreißig Kilometer weit und nichts, kein Laden, keine Kaufmöglichkeit. Zumindest nicht direkt auf meiner Route. Ich mache einen Nettomarkt ausfindig in einem größeren Dorf, setze ihn als Zwischenziel. Vom morgendlichen Startpunkt aus ist er 60 Kilometer entfernt. Erinnerungen an Lappland werden wach. Dort passierte es mir zwischen Asele und Lycksele auf einer Distanz von etwa 80 Kilometern, dass es nichts gab als Leere, Wald und Rentiere, nur die Straße und ich. Hier, nur wenige Kilometer südlich von Flensburg, fühlt es sich ähnlich an, riecht es auch ähnlich in Kiefernwaldnähe. Ich fühle Freiheit und ein gewisses Explorer- und Forschendentreiben in mir. Ja, es ist noch da und auch die gute alte Kunstmaschine funktioniert. Es ist anders als früher, behäbiger, aufgeräumter, weniger drängend, Nichtsmusstag heute. Die Tagesetappe kippt nach etwa 40 Kilometern. Halbzeit, ich hatte einen Platz im Sachsenwald nahe Geesthacht angepeilt zum Übernachten. Nun streife ich Hamburg und nahe Hamburg wird es wuseliger, gibt es mehr Menschen, mehr Lärm, mehr Verkehr, ab und zu eine Hauptstraße für hundert Metrer, dann wieder kleinste Wege und so seltsam: Gerade hier durchfahre ich ein riesiges Naturschutzgebiet, kurz zuvor nur Acker, komme ich nun zunehmend auf Waldwege, Sand und Kies und Kopfstein. Das Radeln wird plötzlich anstrengend. Ich komme sehr langsam voran. Zur Mitte der Etappe doch noch ein Städtchen. Vor einer Werkstatt halte ich an, um eine der alten LKW-Ruinen, die davor stehen, zu fotografieren. Ein Ford Feuerwehrfahrzeug aus den USA. Drei kleine Hundchen mit SOLCHEN Kampfhundköpfen kommen zum Schnuppern und ein Mann, mit dem ich ins Gespräch gerate über die LKA-Ruinen und das Woher und wohin. Er empfiehlt mir den See in der Nähe und Supermärkte gibt es auch. Im See habe er schwimmen gelernt und nun lebe er in Hamburg. Ich kaufe ein, fahre am See vorbei, respektive, bin ich ja schon, will nicht zurück und frage mich, warum eigentlich nicht umkehren? Was treibt mich? Nur mein morgens zufällig selbst gewähltes Tagesziel, sonst nichts. Die Distanz auf dem Kilometerzähler wächst. Das Navi gibt die voraussichtliche Ankunftszeit aus. Es wird wieder neun, bis ich da bin. Das Navi sagt zwar viertel nach acht, aber ich kenne mich. Müde bin ich, Ruhen geht schlecht wegen des Winds. Zu ungemütlich. Bei einer überdachten Bank und Sonne verusche ich zu schlafen, aber die Stechmücken quälen mich. Also weiter.

Später hole ich noch Wasser in einem Restaurtant gleich neben dem eigentlich angepeilten Nettomarkt, den ich aber nicht mehr brauchte, weil ja zuvor schon eingekauft. Im Laden kein Wasserhahn ersichtlich also beim Italienischen Restaurant angefragt und ja, natürlich darf ich im  WC Wasser holen. Das Wasser fließt nur warm, der Hahn hat keine Regulierung und funktioniert per Sensor und im Restaurantradio dudelt Schlagermusik. Die Wege werden immer abenteuerlicher und kurz vorm Sachsenwald sind es nur noch Pfade, Mountainbikewürdig. Mit acht bis 15 km gehts voran. Unter der Autobahn durch auf Holperpfaden, eher anspruchsvoll mit Gepäck. Ich nehms gelassen, stelle mir vor, es ist Training für mein Projekt Santander-Valencia, auf Vias Verdes durch Spanien (haltet mich zurück).

Friedrichsruh. Bismarckmuseum, Forsthaus, ganz in der Nähe die zwei Wildzeltplätze aus der Opencampingmap, die sich als barer Wald entpuppen. Ich könnte also überall zelten. An den Koordinaten befindet sich kein Schild wie üblich, das die Regeln erklärt. Aber es gibtauf kleinen Lichtungen zwei Podeste, auf denen Zelte stehen. Die Karte zeichnet sie mit Waldkorb und Waldkorb 2 aus. Ich bin unsicher, ob das legal ist, hier einfach so zu zelten, aber bin müde, ist spät, baue das Zelt auf. Die Waldkörbe sind mit Zugbrücke und Schlössern gesichert. Man kann sie womöglich mieten.

Angenehme Nacht. Viele Tierlaute, sehr markant hoch oben in den Bäumen, wahrscheinlich Vögel. Ich mache im Halbschlaf eine Tonaufnahme.

Morgens gehe ich ins Bismarckmuseum. Bin früh dran, die Tür ist schon offen und so gehe ich ins Foyer. Empfangsraum. Frau hinter Schreibtisch und Monitor. Was ich wolle, fragt die Frau am Schalter. Postkarten, Museum, gibt es Kaffee, sage ich. Ob ich wisse, dass noch nicht zehn ist. In der Tat nein. Der Computer fährt gerade hoch, ich darf Postkarten schauen, kaufe vier Stück, Kaffee gibt es nicht und um 9:57 darf ich durch die Ausstellung laufen, die wider Erwarten recht spannend ist. Eine Schulklasse ist auch angekündigt für diesen Morgen. Eine geschnitzte Standuhr, sehr üppig, zeigt viertel nach zehn und das ganze Museum ist pompös, riesige Portraitgemälde von Königen und Kaisern, beängstigend richtet sich quer durch zwei Ausstellungsräume herrschend der Lauf einer französische Mitraieuse-Kanone auf die Besuchenden. Bismarck hatte die Waffe einst als Kriegsbeute hat mitgehen lassen Ganz mulmig, das 25-geschössige Rohr. Das Museum befindet sich deshalb hier abseits von allem Tummel, mitten im Wald, weil Friedrichsruh sein Schloss, sein Alterssitz war. Viertel nach zehn kommt die Schulklasse, ich schreibe ins Gästebuch, will mich hinterm Haus auf ein Picknickbänkchen verziehen, finde keins, komme an einem Pferdegnadenhof vorbei, treffe einen Mann, der mit einem Patenpferd, einer Haflingerstute spaziert. Das Tier habe es nicht gut gehabt, sieht aber nach einiger Zeit schon auf dem Gnadenhof sehr vital aus, frisst Blätter von Bäumen. Martina, die Gnadenhoferin, habe es wieder aufgepäppelt. Als Pate gibt er auch ein bisschen Geld und geht einmal die Woche spazieren mit dem Pferd.

Bis zur Elbe hin oft durch Waldwege, nun wohl in Geesthacht über die Brücke auf eine Insel geradelt, wo ich am Elbestrand die Hängematte in den Weiden aufgehängt habe und etwas verrenkt diese Zeilen Tippe, schneidersitzend. Es herrscht Ebbe, das Wasser fällt. Vielleicht gehe ich baden?l