Da hinten ist der Spielplatz, ein paar Fitnessgeräte, eine Infotafel. Frühe Radler rauschen vorbei. Ich höre das Surren ihrer Ketten, unterbrochen vom Schreddern des Freilaufs. Manche Menschen, denke ich, können Freiläufe an Hand der Geräusche erkennen. Das wäre durchaus mal eine Wette für ‚Wetten, dass …?‘ wert. Wetten, dass ich hundert verschiedene Fahrräder an Hand der Vorbeifahrgeräusche erkenne …? Keine Ahnung, was das für Vögel sind, die da zwitschern. Mein Übernachtungsplatz auf dem Parc de Sante-Spielplatz ist jedenfalls ein guter. Die Nacht blieb ruhig. Die geargwöhnte Jugendbande mit Knattermopeds, Kreise im Sand auf dem Parkplatz ziehend, ist ausgeblieben. Ich bin mutterseelenallein. Der kleine Spielplatz ist so typisch französisch. Aus gehobelten Baumstämmen, die in all ihrer Krummheit kleine schräge Hütten formen und gleich neben Schaukel und Wippe und Kinderhäuschen steht ein Trainingsgerät für die Muckis der Erwachsenen. Ein paar Bänkchen, recht sauberer Platz. Jemand hat eine Mülltüte unter die Infotafel gestellt. Womöglich ein Mensch, der eine Müllsammelaktion gemacht hat? Beim Zusammenpacken nach dem Frühstück nehme ich noch ein bisschen Plastik mit, das irgendwo liegt. Wenn jeder Mensch die Orte, an denen er pausiert, nur um ein Stück Unrat sauberer hinterlassen würde …
Dann schwinge ich mich aufs Radel und wanke … nein, nicht zurück nach Ottmarsheim, sondern hinein in den Hardwald, den ich schon am vierten Reisetag auf dem ‚Hinweg‘ rund um die Schweiz durchquert hatte. Bewege mich durch aufkeimendes Knüppelgehölz, kleine Bäumchen, lichte Ecken, irgendwo saust eine laute Straße. Stoßverkehr auf dem Weg ins Büro. Mühlhausen ist nicht fern, ist gar ausgeschildert dem geteerten Weg in den Wald hinein folgend nur noch 14 Kilometer. Vor achtzig Jahren tobte hier die Hardschlacht, sehr blutig sagt man. Überall gibts Gedenkstätten. Das Grab des Soldatenhelden, vor dem ich am vierten Tag meiner Reise hier stand und sinnierte, ist gleich um die Ecke. Grünhütte, ich wende mich nordwärts auf dem Radweg durch den Wald, komme nach 15 Kilometern wieder auf eine Landstraße, hangele mich hinüber, nach Westen zur ursprünglichen Route der VV13, die ich gestern verlassen hatte. Schöner Bypass, muss ich sagen, quere den Kanal, komme schließlich nach Neuf Brisach. Alte Vaubanfestungsstadt.
Ab dort gehts so gut wie nur noch geradeaus bis Straßburg. Direkt am Kanal entlang, Artzenheim, Marckolsheim, Erstein. Wenn ich eine solche Strecke für 300 Kilometer vor mir hätte, ich könnte in den Olymp des Brevetradelns aufsteigen, fahrn, fahrn, fahrn und ich würde in einem Tag die Distanz schaffen. Weh täte es trotzdem.
Das Flachlandradeln hier am Kanal, dem ich schon so oft folgte, liegt mir manchmal gut, manchmal nervt es mich aber auch. Die Monotonie. Du siehst nur den drei Meter breiten Teerweg, einen Meter daneben beginnt der Kanal. Wenn ich einschlafen würde auf dem Rad oder unaufmerksam wäre, könnte es passieren, dass ich im Wasser lande. Auf der anderen Seite ist ein Streifen Gehölz, teils uralte Bäume, oft Hecken, manchmal nichts und direkt dahinter befindet sich ein Entwässerungsgraben, der den Kanal flankiert und dann beginnen Felder. Mais und Getreide. Oft, nein, fast immer werden sie von riesigen Konstruktionen aus Rohren beregnet. Irgendwo surrt eine Diesel getriebene Pumpe. Hundert Meter lange Gestänge auf Traktorrädern, die im Schneckentempo wie der Tastarm eines Scanners über das Feld fahren und regnen, regnen, regnen.
Dieses Mal fahre ich den Weg sehr demütig. Nichts tut weh, kein Muskelkater, kein Floh im Hirn, dass ich dann und dann da und da sein möchte. Meine beiden Killerschwäne, die mir und überhaupt allen Radlenden in den letzten Jahren das Passieren in der Nähe von Marckolsheim erschwerten, weil ihr Nest direkt am Radweg liegt, sind schon junge Eltern, haben die grauen Jungschwänchen abseits des Radwegs, müssen nicht mehr das Nest verteidigen … und eigentlich ist es ja umgekehrt, wir Radelnden, machen dem brütenden Paar alljährlich im Frühling das Leben zur Hölle. Es ist aber auch gerade an einer Stelle, die man schwer umfahren kann. Vogelfreunde hatten im letzten Jahr immerhin Gatter rings ums Nest gestellt und so blieb fürs Vorbeiradeln ein schmaler Streifen zwischen Kanal und Gatter. Dennoch gifteten die Tier mit ihren langen Hälsen.
Nächste Attraktion: Nutrias. Putzige, oft neugierige Tierchen. Man erkennt ihre Stellen an kleinen, röhrenähnlichen Trampelpfaden am Kanalufer. Zwei Mal sehe ich die etwa 20 cm langen Wasserratten, steige vom Rad, krame die Gopro raus, will sie filmen, aber schwupp fliehen sie ins Wasser. Einmal warte ich einen Moment am Ufer, baue die Kamera vor ihrem Pfädchen auf, hoffend, dass sie kommen, bis es mir zu lange wird, ich die Kamera einpacke und weiterfahre.
Klappere meine ‚Wasserstellen‘ ab. Ein Supermarkt mit kleinem improvisiertem Café-Bereich in … wie hieß das noch? Soufflenheim? Egal, gleich am Radweg, gefühlt auf halber Strecke zwischen Marckolsheim und Straßburg. Es gibt dort Automatenkaffee, den man per Münze für einen Euro kaufen kann. Verschussele den Becher, so dass die Hälfte des Konzentrats daneben läuft, ich im Grunde nur heißes Wasser mit Milchpulver trinke. Mist.
Zwölf Kilometer bis Straßburg gibts bei der Schleuse von Plobsheim einen schönen großen Picknickplatz. Längst überfällige Pause. Überlege, einen Blogartikel zu schreiben (diesen hier, der nun erst am 13. Juli verfasst wird), bin müde, will weiter oder ruhen oder nichts tun. Zwei Menschen auf einer Picknickbank nebenan. Ich hatte beim Ankommen nicht so genau geschaut, auch vergessen, sie ordentlich zu begrüßen. Die Hitze. Der eigene Kopf, so Endreise-Unruhe-gefüllt. Wobei Unruhe das falsche Wort ist. Es ist mehr ein Dahintreiben in den letzten Tagen, ein sich nähern dem Delta des Alltags. Hab vergessen, welcher Tag ist.
Als ich den Platz verlasse, ungeschrieben, frisch gegessen, getrunken, ein wenig gedöst, schiebe ich bei den Beiden vorbei und wir plaudern ein bisschen. Dasss sie vermutet hätten, ich würde auch hier zelten wollen. So wie sie. Ich begegne also Franci le Pelerin und Gina Tina, die seit Mai rund um Frankreich wandern. Für einen guten Zweck, die Kinderkrebshilfe sammeln sie Geld ein und sie berichten jeden Tag auf ihren Youtube-Kanälen. In Arles gestartet, haben sie nun schon fast zwei Seiten des ‚Hexagons‘ geschafft. L’Hexagone ist eine Bezeichnung für Frankreichs Umriss, der einem Sechseck gleicht.
Mein Weg könnte mich – theoretisch – noch bis nach Hause führen am heutigen Tag. Ab Straßburg sind es je nach Strecke noch etwa 100 Kilometer. Ich müsste allerdings bis spät in die Nacht radeln. Könnte es auch. Bloß wozu? Erst einmal Straßburg. Bleibe brav am Wasser und nehme die westliche Stadtdurchquerung, da ich mich bei der östlichen oft verirre und es dort auch viel hektischer zugeht. Begegne einem wortkargen Schweden, der seit einem Jahr durch Europa radelt. Griechenland, Balkan, nun auf dem Weg nach Hause ist. Seine Kette quietscht. Er lässt sich zurückfallen, hat wohl keine Lust, zu reden. Hält den Reisenden, mich, nicht auf.
Rhein-Marne-Kanal. Kurz vor 21 Uhr in Brumath. Gerade rechtzeitig, um noch im örtlichen Carrefour Express einzukaufen. Der Verkäufer erkennt mich entweder wieder, schließlich war ich im Frühjahr schon einmal hier, oder er sieht mir den Deutschen an. Jedenfalls sagt er mir die Summe, die ich zahlen muss auf Deutsch: X Euro funfundachtzig. X Euro Quatrevinghtcinque, frage ich, nein X Euro Cinquatnehuite. Im weiterradeln denke ich den elenden die Straße begleitenden Radweg hinauf nach Kriegsheim darüber nach, wie verwirrend das ist: Achtundfünfzig zu Fünfundachtzig. Da kann doch kein fremder Mensch drauskommen und ich gewinne dem markanten Quatrevinght, vier mal zwanzig, geradezu etwas Höheres, etwas von mathematischen Genies Geschaffenes ab.
Die Gegend zwischen Brumath und Haguenau lädt nicht ein zum Wildzelten. Felder, Felder, Felder. Erst hinter Haguenau gibt es wieder lauschige Wiesen … wobei die gar nicht so lauschig sind. Das hatte ich nicht bedacht, dass dort direkt die Autobahn anliegt und beschallt. Also schleppe ich mich in der Abenddämmerung weiter bis nach Walbourg. Fünf Kilometer durch verstechmückten Wald noch. Ich könnte theoretsich ja auch im Wald, will aber nicht. Meine Wildzeltprägung ist nun einmal so, dass ich gerne offene Gegend mit einem Sichtschutz im Rücken habe. Doch Walbourg mit seiner Abtei hält eingezäuntes bereit. Bei der Abtei könnte ich auf der Wiese neben dem Friedhof unterkommen. Ich stand kurz davor, das tatsächlich zu tun. Ein Hundegassigänger warnte mich jedoch, dass morgens die Leute mit den Hunden hier Gassi gehen. Die Tiere würden mich womöglich wachbellen.
Jenseits des Ortes finde ich offenes Land, eine geerntete Weide neben einer Pferdekoppel. Gutso. Baue auf. Es tröpfelt ein bisschen, ein halboptimaler Lagerplatz nur, aber er taugt.
(Bericht 27. Juni 2023 – zweitletzter Tag UmsLand Schweiz)