Stehen auf der Betonkante des eigenen Lebensgemäuers

Die ‚Nachreisedepression‘ hatte dieses Mal lange auf sich warten lassen. Ich dachte schon, ich wäre ‚geheilt‘. „Ich habe etwas mitgenommen,“ postulierte ich kürzlich im Gespräch mit Frau SoSo und Schauspielerin S., „die Ruhe habe ich mitgenommen von meiner letzten Reise, die Reisegelassenheit, das Gefühl, nichts und niemand kann mir etwas“. Ein beschwingter, sehr gelassener Allgemeinzustand des eigenen Seins, am Ehesten zu vergleichen mit dem GEFÜHL, das mir etwa 2016 abhanden gekommen ist. Ich stehe damals auf der Betonkante unterm Nussbaum auf der Südterrasse und schaue durchs lichte, herbstliche Geäst Richtung Süden, suche Sterne in der Weite. Gefüttert mit der Dunkelheit der Unendlichkeit das Weltalls. Stelle mir vor, wie ich über Kopf in die Tiefe des Weltraums hineinrage, wie ich hänge. Eine Fledermaus zieht rasante Kurven. Ja, genauso wie eine Fledermaus wenn sie schläft und in ihrer Höhle an der Decke hängt, so hänge ich auf diesem Planeten in meinem Universum. Nichts und niemand kann mir etwas, so ist mein GEFÜHL, das abhanden kam, damals im Jahr 2016. Wie sehr ich dem GEFÜHL nachhänge! Es hatte etwas von Selbstabsolution, denke ich, die allumfassende Entbindung von jeglicher menschlicher Pflicht, ein Zustand in dem du nur auf dein Inneres hörst und das Getöse von Außen blendet sich langsam aus, keine Verstrickungen und Bedingungen, keine Wenn-Dann-Sonst-Aber-Schleifen … so geht das GEFÜHL. Ging. Die Gedanken sind gerade, ungebremst, rasant, alle gleichzeitig und doch wahrnehmbar, verstehbar. Stehend auf der Betonkante unter dem Nussbaum, dort wo das einsame Gehöft mit seiner Bebauung endet. Am Rande des einstigen Rinderstalls, an der Kante des Freilaufs fürs Schlachtvieh, das vor vielen zig Jahren hier auf diesem Areal Monate der Mast verbringen musste, bis der Schlachter kam, es durchs Gatter trieb, auf einen Viehanhänger lud, mitnahm, schlachtete, zerlegte, verkaufte … jaja, so stehe ich da wo des Menschen kleines Reich endet und die Natur beginnt, die so viel größer ist als der Mensch in seinem Kleingedenke, so viel ewiger, so viel ausdauernder, beharrlicher, aber auch gesetzt und auf einfachste, aber probate Mechanismen reduziert.

Das Gefühl, nichts und niemand kann mir etwas hielt sich dieses Mal nach der Reise erstaunlich lange. Wie lange ist es her, dass ich von meiner Schweiz-Umrundung zurückkehrte? Zwei Wochen? Ich werde immer besser. Wenn ich es bei der nächsten Reise schaffe, drei Wochen das Gefühl zu bewahren, bei der übernächsten vier, fünf, sechs oder gar exponentiell gesteigert … Hoffnung, stirb zuletzt!

Nun wieder diese Morgen, in denen erst einmal für eine halbe Stunde unendliche Tristesse herrscht, grundlose unendliche Tristesse, ich mich  hinunter in die Sommerküche schleppe, auf halbem Weg kehrt mache, die Leiter ins Hochbett zurück ächze, mich wieder hinlege, die Tristesse dauert an. Sie ist dumpf. Sie ist unfassbar. Sie hat keinen Grund. Vielleicht steckt Angst dahinter, allgemeine Lebensangst, wie ich es früher nannte? Vielleicht Hoffnungslosigkeit? Ob des Außens. Ob der Verwirktheit der Welt. Ob der Verkommenheit der (mancher) Mitmenschen, die einem alltäglich begegnen im Supermarkt, auf der Straße, im Internet, und mit denen man sich herumärgern muss. Von denen man eigentlich nur sagen kann, lass sie wie sie sind, du änderst sie nicht, es ändert sie, oder er, der allgemeine Lebensprozess, der im Hintergrund läuft und die Bude zusammenhält Er, der dem wie wir sind als Gesellschaft eine Form gibt, wenn auch keine schöne Form, wenn auch nicht die Form, die dir selbst genehm wäre. Die Frage ist doch, wenn die Gesamtheit unserer Gesellschaft gerade diese autoritäre, ignorante, beherrschende Form annimmt, dann muss es doch genug Menschen geben, die das befürworten, genug Mitmenschen, die Intoleranz, Hass und Häme so gut finden, dass sie sie praktizieren, aktiv und voller Inbrunst?

Warum kann nicht jeder für sich auf der Betonkante seines Lebensgemäuers am Rande des Universums stehen und in den Himmel schauen, Sterne suchen, die Unendlichkeit genießen, sich vorstellen als Fledermaus in seiner Höhle zu hängen und das GEFÜHL leben? Warum nicht?

Die heißen Tage verbringe ich unstrukturiert, strenge mich wenig an. Bin ja schon alt, muss auf mich achten, besser langsam, aber dafür sicher ans Ziel durchs Labyrinth des Alltags. Arbeite an den Videos, die ich unterwegs auf der Runde um die Schweiz gedreht habe. Schwierig, schwierig, schwierig. Alleine für den ersten Reisetag gibt es über eine Stunde Filmmaterial. Wer soll das alles schauen? Mit Kdenlive schneide ich mehr schlecht als recht die einzelnen Clips zusammen. Ganz normales Reisevideolog eigentlich. Könnte gut passen auf Youtube, denke ich. Der uralte PC ist zu lahm. Kdenlive stürzt hin und wieder ab, erstaunlich selten, aber es nervt. Zudem habe ich so gut wie noch nie Videos  geschnitten, muss also erst eine Lernkurve durchlaufen, hoffe, dass es schneller geht irgendwann, denn so wie es läuft, würde ich für die 20 Tage rund um die Schweiz radelnd noch einmal 20 Tage Videoschnitt brauchen.

Schaue im Rechner nach, oha, ein i3 Prozessor. Ungeeignet für Videoschnitt. Der PC von Journlaist F. steht im Atelier. Er landete nach seinem Tod bei mir, da ich sein Zimmerchen im Pflegeheim räumen musste. Auf dem Gehäuse ist ein i7 Aufkleber. Ob ich ihn zum Videoschnitt einsetzen könnte? Ob ich das will? Ich habe mir darüber noch kaum Gedanken gemacht und irgendwie fühlt es sich falsch an, den Computer eines gestorbenen Freunds platt zu machen und selbst zu benutzen. So als würde man jemandem das Hirn ausschaben und sein eigenes Organ einpflanzen.

Überhaupt, abends, gestern … ich werde langsam etwas fitter, die Hitze, Sie wissen ja, schwinge ich mich ins Atelier und fange mal ein bisschen mit dem Aufräumen an. Das Atelier ist mir ein gutes Beispiel, wie es womöglich in den Arterien des eigenen Körpers aussieht, wenn man ein Blutvolumen voller Cholesterin zu lange hindurchjagt. Bleibt so vieles hängen, rümpelt so viele Wege zu, verstopft die Adern des Gemäuers, aber im Fall des Ateliers werde ich der Sache natürlich nicht dadurch Herr, dass ich Stents setze und die Wege begehbar mache, sondern mit krassem Aufräumen, Rausräumen, Wegwerfen,  mit auf große unförmige Stapel Räumen von Dingen. Wohin, wohin, wohin?

Schon hat sich vor der Ateliertür auf der Nordseite ein riesiger Stapel gebildet. Werkzeug, Kleinteile, Campingzeugs, Elektronik usw. Meine uralte Phantasie, Dinge, die ich über ein Jahr nicht in der Hand hatte, einfach zu entsorgen ist zwar lieb und nett, etwas in mir scheut aber, sie einfach wegzuwerfen. Der Feldstecher zum Beispiel, die Wasserwaage, eine Säge und alte, aber noch ungenutzte Bilderrahmen … die Installation aus dem Jahr 2014 mit hunderten von Polaroids, die eine große Frontwand im Atelier zierte, habe ich abgehängt. Nun ist da nur noch ein etwa zwanzig Zentimeter hoher Stapel von Bildchen, die etwas verstaubt sind und eine Alubox mit den hunderten Klammern, mit denen die Bilder an die Drahtkonstruktion geklammert waren, zu sehen. Und die Drahtaufhängung natürlich. Soll ich die Drähte auch abnehmen? Ich hätte dann eine leere weiße Wand. Ein phantastisches Universum von Wand, das nun wieder alle Möglichkeiten der Welt bietet. Ich könnte die Kunst von Freundinnen und Freunden zeigen. Ich könnte so viel anfangen mit dieser weißen Wand. Fast ist es wie auf der Betonkante am Rande des eigenen Lebensgemäuers zu stehen und ins Unendliche zu schauen.

Alleine, was mir an dem gestrigen Abend bewusst wird und was ebenso beruhigend wie verstörend ist: Ich muss gar nichts. Ich kann es zwar nicht fühlen wie vor sieben Jahren noch das GEFÜHL, aber ich weiß etwas vom „Mussgarnichts“. Immerhin. Wissen geht in diesem Fall nicht vor Fühlen, aber vielleicht geht es das sowieso nie und es wäre ohnehin das Beste, wenn Gefühl und Wissen Hand in Hand gingen.

Nachtrag, weil ich noch mindestens dieses Jahr durchhalten will als Künstler und Schreiber. Hier kann man das fördern: https://steadyhq.com/de/irgendlink/about

 

 

3 Antworten auf „Stehen auf der Betonkante des eigenen Lebensgemäuers“

  1. Danke für dieses Herz- und Denkfutter. Das GEFÜHL kenne ich auch. Immer mal wieder ist es groß in mir. Wie das Meer kommt es in Wellen und kennt Gezeiten. Seine Tidenhübe sind allerdings unfassbar und unvorhersehbar.

    Möge es immer wieder erlebbar sein. Es macht das Leben erträglicher.

  2. Danke für diesen schönen Text. Möge das GEFÜHL dich immer öfter begleiten. Und immer daran denken, die grosse Mehrheit der Mitmenschen hat es noch gar nie wahrgenommen, so beschäftigt sie ist im Hamsterrad der Gesellschaft.

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