Time and Tide are „Hm-Hm-Hm“ for a Man

Off-Tag in London. Lee Valley Caravaning Park ist eine gute Ausagangsbasis für einen Stadtbesuch. An der Rezeption erklärt man mir den Weg und die Bus-Linien und Bahnverbindungen. Es gibt eine schnelle, teure und eine langsame, günstige Vebindung.

Für 7.95 Pfund kaufe ich an der Rezeption ein Wunderticket. Freie Fahrt für einen Tag. Etwa eine Stunde brauche ich bis zur Haltestelle Oxford Circus, wobei ich alle Register der Fortbewegung ziehe: Doppeldeckerbus, Bahn, U-Bahn. Ausgespuckt in den quirligen Straßen, habe ich gar keinen Plan, weder in „echt“, noch im Kopf. Ich laufe auf ein markantes, spitzes Gebäude zu. Ich Motte ans Licht, ich. Dann besinne ich mich anders, will zur Themse, lasse mich vom Navi des iPhones dirigieren. Immer wieder schalte ich es ab, um Strom zu sparen. Wenn ich nicht radele, kann ich auch meinen Akku nicht aufladen. Was für ein elendes Hamsterrad :-)

London im Zick-Zack. Zufällig am Buckingham Palast vorbei. Touristen hängen am Zaun, wie am Affenkäfig. An der Themse entlang etwa zwei Stunden über den Links-Themse’schen Footpath bis zur Towerbridge. Eines meiner beiden „Muss“. Der Spaziergang gerät zum fotografischen Schlachtfest. Ich bereue es dennoch nicht, die Nikon in einem Schließfach beim Campingplatz eingesperrt zu haben. Bin froh, einmal ganz ohne Gepäck zu sein. Noch immer befinde ich mich in einem „selbstborumatisierten“ Zustand (siehe einige Artikel zuvor). Unter der knielangen Jeans ragt die lange Unterhose heraus, die ich wiederum in Socken gestopft habe, obenrum die gelbe, einfamilienhausteure Regenjacke, da es recht kühl ist. Die ist leider schwer zu borumatisieren, ohne sie unbrauchbar zu machen. Und nach nur zwei Wochen unterwegs ist sie noch nicht schmutzig. Dennoch. Als Tüpfelchen auf dem i trage ich die weiße Sarcom Baseballmütze, was mir, so glaube ich, den Look eines typischen Londoners verleiht. Eine zerfetzte, leere Plastiktüte leger in der Hand baumelnd, soll Verwirrung stiften. Kein Trickdieb oder Schnorrer spricht mich an.

Problematisch wird mein Outfit allerdings, als ich bei meinem zweiten „Muss“-Ziel auftauche, der Orange Dot-Galerie, die ich als möglichen Ausstellungsort ins Auge gefasst habe. Zwar hatte ich mein Erscheinen per Mail angekündigt, aber die drei Jungs in den Hinterräumen des etwa 60 qm großen, hippen Schauraums, haben die wohl nicht ernst genommen. Überraschung. Mitinhaber Jack mimt Gelassenheit und ich komme mir ein bisschen vor wie ein Eindringling. Eine Ausstellung, die morgen eröffnet, hängt schon. Bitterböse, kleine Ölgemälde mit religiös-sexuellen Anspielungen.

So plump habe ich mich noch nie bei einer Galerie vorgestellt: im selbst gewählten Affenkostüm, englisch das Anliegen „Ums Meer“ radebrechend, auf dem iPhone Kostproben meiner Arbeiten zeigend. Sie seien ausgebucht bis nächsten Februar, sagt Jack, und ich möge ihm doch eine E-Mail an seine Privatadresse schicken. Dann verschwindet er wieder im Hinterraum der Galerie, in dem das Team an drei Computern arbeitet. Im Feierabend-Getümmel zurück ins Lee Valley.

Heute morgen bin ich schon um 7 Uhr Ortszeit wach. Im Waschhaus steht ein Typ mit tätowiertem Oberkörper vor dem Rasierspiegel, dem ich nicht bei Nacht begegnen möchte. Aber wie das so ist, der äußere Anschein ist fast immer anders, als der Kern selbst. Auf seinem Rücken steht etwas, das ich ohne Brille nicht vollständig entziffern kann: „Time and Tide“ … und „for a Man“. Wir schwätzen ein bisschen wie dies Männer tun, die gemeinsam vorm Rasierspiegel stehen. Dann wünscht er mir eine gute Reise, macht am Türrahmen der Dusche zehn Klimmzüge und ich begebe mich zum Zelt, um das alles aufzuschreiben.

Nachtrag Männerteesprüche. Folgende drei Sprüche habe ich auf den Zettelchen meines Tees gefunden:
„Du musst dein Haus verlassen, um zu lernen“.
„Sieh dich selbst im Spiegel der Anmut“ (Zuerst lese ich ohne Brille: „Sieh dich selbst im Spiegel der Armut“).
„Wer sich viel traut, erreicht viel“.

(entfipptehlert, mit Link bestückt und gepostet von Sofasophia)

Diesseits und jenseits des Greenwich Foot-Tunnels

Hör immer auf das, was dir wohlmeinende Menschen am Wegrand mitgeben, gaukelt es schon kurz nachdem ich bei Tim und Lynn einen Kaffee genossen habe, in meinem Kopf. Das Leben ist oft, nein meist, eine reine Gefühlssache. Somit ist es gut, den Kopf auszuschalten, bedenken und Ziele über Bord zu werfen, wie Bojen, die den Verlauf einer Transatlantikverkabelung markieren. Aus den Augen, aber immer da. Ja. Engelbert, es war ein Wink des Schicksals (siehe Kommentar ein zwei Artikel zuvor), in Rochester ins Hotel zu gehen, auch wenn das empfohlene Hotel – nur hundert Meter entfernt von dem, in dem ich dann tatsächlich abgestiegen bin – geschlossen war.

Mit Songs im Sinn von The Clash verlasse ich blauäugig Rochester. „Police and Thiiihieevs in the Street shallala“ und „London‘s burning“ und „The Guns of Brixton“. Ich naives, kleines Kunstreisebübchen. Wäre ich doch besser in Rochester geblieben. Der Regen hat mich abgeschreckt, mit dem vollgepackten Rad noch eine Weile durch die Stadt zu schlendern, mir Castle und Cathedral anzuschauen. In voller Wasserdichtmontur ackere ich über die Cycleroute 1 der Themse entlang. In Gravesand führt die Strecke durch die hintersten Docks. Gestank, Müll, Enge, ich alleine. Die Tristesse dieser Welt scheint sich auf einen winzigen Brennpunkt genau über mir zu konzentrieren, notdürftig hindere ich mein Hirn daran, sich vorzustellen, was passiert, wenn hier in den ostermontagsleeren Dockgässchen plötzlich Räuber auftauchen. Ich bin ein schweres, unbewegliches Opfer, das bereitwillig sagen würde: „Geld wollen Sie, Eure Highness? Aber gerne“. Und Fischjakobesk würde ich rufen: „… und ich pack noch einen drauf! Die Kreditkarte, Ausweis und das ist immer noch nicht genug. Das iPhone, greifen Sie nur zu!“ Die wichtigsten Reisenden-Habseligkeiten verpackt in eine Tüte zieht mein imaginäres Gesindel ab, überzeugt, ein echtes Schnäppchen gemacht zu haben.

Eine von Öl und Müll und Brandstellen verschandelte Gasse spuckt mich aus nach Gravesand, wo ich vor einem Haus am Pier erst einmal ein Mittagspäuschen einlege. Unter einer Überwachungskamera gehen Wachleute ein und aus, wohl ihr Bau, grüßen mich freundlich und just dort erreicht mich eine Mail von Brian, der mit seiner Partnerin an der Englisch-Übersetzung der Kernelemente so wie der Vermittlung von Pressekontakten auf irgendlink.de maßgeblich beteiligt war und ist: „Fahr nicht in die südlichen Vorstädte, sei sehr sehr vorsichtig. Smartphonerobbery ist dort gang und gäbe. Übernachte auf keinen Fall dort.“

Eine Warnung, die ich als „highly critical“ einsortiere. Wenn irgendwo Grundeis wäre, dann wäre mein Hintern jetzt auch dort. Ich beschließe, den unheimlichen Radweg erst einmal zu verlassen und über die A-Straßen Richtung London zu fahren. Ein gebeugter alter Wachmann erklärt mir den Weg. Über die 226 nach Dartford, dann die 206 nach Erith und via 2016 später wieder die 206 nach Woolich, wo mich eine Freeferry in den sicheren Norden bringt. Die Straßen könne ich an diesem Feiertag benutzen, es sei nicht sooo viel los. Er sei selbst ein Radler. Was mich immer wieder wundert ist diese unglaubliche Gelassenheit, die die Leute an den Tag legen. Fragst Du sie nach dem Thema Robbery, sagen sie Yes, of course, was aber so klingt, als würden sie auf die Frage antworten, ob die Sonne scheint. Völlig unemotional, rein informativ, ganz und gar unhysterisch. Ein Deutscher würde die Kriminalität aufblasen bis zum Gehtnichtmehr.

Die A-Strecken sind tatsächlich nur mäßig befahren und ich muss erneut das Vorurteil entkräftigen, die Engländer fahren rasant. Im Gegenteil. Sie sind auch auf den Schnellstraßen äußerst rücksichtsvoll, halten Abstand, so dass ich mich nie gefährdet fühle.

In Wollich gefällt es mir gut und der Thames-Radweg, der gemeinsam mit der Route 1 verläuft hat eine Qualität, wie etwa der Mainradweg durch Frankfurt. Was soll‘s. Die Fähre ist noch nicht da, und ob ich jetzt diesseits oder jenseits des Flusses radele, ist doch egal. Stadt ist überall. Das London Cycle-Network grüßt mit vielen Schildern. So übel ist die Stadt nicht zum Radeln. Irgendwann stehe ich vor dem Greenwich Fußgängertunnel, ein rundes Gebäude, das eine schmale Wendeltreppe und einen großen Aufzug beherbergt, mit dem man auf Themseboden-Niveau gelangt. Just, als ich im Aufzug bin, erfolgt die Meldung, er sei out of order. Also rolle ich das Rad die Treppe runter, in der Hoffnung, dass drüben der Aufzug funktioniert. Im Tunnel kommen mir französische Schulklassen entgegen, die so tun, als seien sie Brixtoner Vorstadtgangs und in der Mitte, an der tiefsten Stelle, des zunächst abfallenden und dann wieder aufsteigenden Ganges, herrscht plötzlich Stille. ich bin alleine. Es ist, als habe ich eine unsichtbare Grenze überschritten. Auf der nördlichen Themseseite erwartet mich in der Tat eine ganz andere Welt. So frappierend ist der Unterschied zwischen Lärm, Hektik, Schmutz, bedrohlichen Gruppen junger Männer auf der Südseite und der geradezu gespenstischen Stille im Norden.

In einem Kiosk kaufe ich Fanta und lasse meine Wasserflasche auffüllen. Der Besitzer hat das Radio ganz laut gestellt, man hört O-Ton-Kriegsgetümmel, ich verstehe „türkische Grenze“ Oh, Scheiße! „Was ist los?“, frag ich. Zu sehr ist mir der Ausbruch von Golfkrieg 1 im Sinn, just, als ich 1991 nach Spanien radelte. Mr. Europenner unterwegs in seiner selbstgebastelten Blümchen-Parallelwelt und vom gemeinen Weltgeschehen kriegt er nichts mit.

Die Cycleroute 1 führt ab dem Greenwich Foottunnel über fast unbefahrene Stadtstraßen. Es herrscht Stille. Die Leute tragen hier 500 €-Schuhe statt mutmaßliche Messer. Das Hilton duckt sich x-stöckig vor einer Szene Hochhäuser. Sauberkeit und Überwachungskameras Durch den Viktoria-Park und vorbei am Olympic-Park führt die Strecke oft an Kanälen entlang, auf denen schmale, bewohnte Boote liegen. Wegen der Kälte laufen die Dieselmotoren, und diejenigen, die es sich nicht leisten können, hacken Obstbaumholz vor ihrem Kahn. Jogger, Spaziergänger, das ist meine Blümchenwelt, die Welt der gutbürgerlichen Mitte, in der ich mich so wohl und aufgehoben fühle.

Fast ist die heutige Strecke ein Bild für die große weite Welt mit all ihren Arms und Reichs, die im steten Clinch gegeneinander liegen: die Reichen – also im großen Europa wir – verteidigen bis aufs Messer ihre Pfründe, die sie oder ihre Vorfahren von den jetzt Armen in Afrika oder Fernost erpresst haben. Und die Armen, bei denen es ums nackte Überleben geht, holen sich von den Reichen das, was sie zum Überleben brauchen. Mit Gewalt, wenn nötig.

Das Kerngehäuse Europas ist faul. Das London und seine Vororte, das ich heute durchquert habe ist nur ein Abbild der großen weiten Welt. Mit dem Beigeschmack, dass es für die Probleme der Menschheit keine Lösung gibt, radele ich auf einer Bliesradweg-ähnlichen Strecke gut 25 km bis zum Camping Lee Valley.

(entfipptehlert und gepostet von sofasophia)

Mitnehmen

„Du wirst etwas mitnehmen, und du wirst es jemandem geben. Unterwegs“, sagte Künstlerin B. bei einer der vier „Henkersmahlzeiten“ kurz vorm Start der Reise. Und ich weiß weder, was ich mitnehme, noch, wann ich es wem wo gebe, rekapitulierte ich. Das Leben ist ein Paulo Coelhoeskes Mysterium, ein Traumpfad.

Als ich bei Tourstart bei der Firmenzentrale von Hauptsponsor Sarcom vorbei schaue, drückt mir Herr S. vier Baseballkappen in die Hand. Die könne ich sicher gut gebrauchen, wenn die Sonne einmal bretzelt. Somit hat sich Künstlerin B.s Prophezeihung schon bewahrheitet: ich nehme vier Baseballmützen mit und muss sie nur noch unters Volk bringen. Das hat mir den Beinamen KiBmiB eingebracht (von Frau Freihändig erfunden), Künstler in Bewegung mit Baseballmützen.

Ist natürlich hanebüchen und auch viel zu einfach und zu wenig Paulo Coelhoesk. Dem ganzen fehlt die Mystik. Die kommt erst, indem man sich im Kopf eine phantastische Parallelwelt zusammenschustert und sich auf die Ebene der Gefühle, des In-sich-hineinhorchens begibt, ein sensibler menschlicher Prozess.

„Wenn irgendwas ist“, sagte Herr S., als er mir die Kappen in die Hand drückte, „sagen Sie Bescheid. Ein Anruf genügt. Wir schicken einen Hubschrauber.“ Kilometerweit habe ich geschmunzelt und der, natürlich als Jux gemeinte, Hubschrauber, fliegt seither mit in meinem primitiv-westlich-zivilisiert-denkenden mystisch-verträumten Europennerhirn. Wo immer ich ratlos an einer Wegkreuzung stehe oder auch nur ein Funken Frust oder Hoffnungslosigkeit aufkommen will, muss ich an Herrn S.s Worte denken, und mir wird bewusst, ich nehme tatsächlich etwas mit: Sicherheit! Das Gefühl, nicht alleine zu sein, vermitteln mir aber auch die vielen Kommentare und Mails. Ebenfalls eine Art Sicherheit, wenn auch nur auf einer sehr abstrakten Spur. Ich nehme keine Baseballkappen mit, sondern abstrakten Rückhalt, den mir meine Freunde und Freundinnen geben und wie ein Komet, der seine Materie – im Vorbeiflug an einem Stern – ins All strömt, gebe ich diesen Rückhalt permanent weiter.

Zugegeben, mein Bild ist sehr schwer zu verstehen und längst ist es nicht mehr nur die konkrete Reise, die Nordseeumrundung per Rad, von der ich rede, und längst bin es nicht mehr nur ich, um den es hier geht, sondern es ist das gesellschaftliche Gewebe, in dem wir verknüpft sind und unser aller Lebenswege, die sich winden und kreuzen und verknüpfen und auseinanderführen und parallel laufen. Wir können uns gegenseitig etwas mitgeben und wenn wir unterwegs sind, erhalten es von jedem und überall, geben es weiter, überall und an jeden, der uns begegnet.

(verfasst am Ostermontagmorgen von Irgendlink, entfipptehlert, mit Links bestückt und gepostet von Sofasophia)

Hysterisierung

Vielleicht wissen wir zu viel. Vielleicht glauben wir zu viel. Vielleicht glauben wir, zu viel zu wissen. Mein England-Bild ist entstanden aus Monty Pythons, Douglas Adams, Asterix, und den gängigen Gerüchten, die einem alltäglich mündlich überliefert werden. Und wenn ich nun über England schreibe, so wie ich es erlebe, gebe ich einem Fremden, der das Land nie besucht hat, doch nur eines jener gefilterten, subjektiv und emotional verstimmten Bilder wieder, die dazu beitragen, etwas Echtes mit den Augen eines Anderen zu sehen.

Ich rede mit den Menschen, denen ich begegne, frage sie über Sitten und Gewohnheiten manchmal ganz direkt. Die Enge zwischen den Zäunen habe ich noch nicht angesprochen. Dieses beklemmende Gefühl, dass man sich hier hinter Mauern und Zäunen verschanzt. Wovor schützen sie sich?, frage ich mich, wenn ich kilometerweit auf einem zwei Meter breiten Pfad zwischen Zäunen radele. Dahinter Weizenfelder. An den Radwegen sind meist Barrieren angebracht, die so schmal sind, dass ich das vollgepackte Rad nur mit Mühe durchquetschen kann. Zig davon passiere ich gestern. Vom Obstland durchs Gewächshausland ins Schafzuchtland radele ich durch eine hügelige Gegend an der Südseite der Themsemündung entlang. Schmale Countryroads ohne viel Verkehr. Das Vorurteil, die Engländer seien rücksichtslose Autofahrer, stimmt hier nicht. Ganz im Gegenteil. langsam fahren sie mit viel Abstand an dir vorbei, warten geduldig, bis du eine Engstelle passiert hast. Wie es auf den A-Straßen, vergleichbar mit Bundesstraßen, aussieht, weiß ich nicht. Für einige Kilometer bin ich kurz vor Whitsable vorgestern einem Radweg direkt an einer A gefolgt, konstatierte: eine französische Nationalstraße ist ein Schlafzimmer gegen das, was hier stattfindet. Heilfroh, den huckeligen Radweg neben der stark befahrenen Straße für mich zu haben.

In der Schafsgegend, die sich hinter Deichen im Marschland befindet, muss ich wie ein böser Wolf wirken mit dem vollbepackten Rad: wenn ich mich den Tieren nähere, jagen sie ängstlich davon. Rechts und links des Wegs sind Zäune, dahinter die Lämmer. Sieht von Oben aus, wie Schafslaola, wenn ich dort durchradele. Dabei tue ich ihnen doch gar nichts.

Vielleicht haben die vielen Sicherheitsvorkehrungen der Menschen, Vorhängeschlösser, Ketten, Gatter, Absperrungen, Warnungen vor dem Hunde, eine ähnliche Wirkung auf mich? Eigentlich gibt es nichts, was einen beunruhigen müsste, aber im Kopf bastelt man sich seine eigene Welt. Vielleicht sind die Menschen in dieser Gegend in einer Hysteriefalle gefangen: der Nachbar installiert eine Alarmanlage und neulich habe ich in der Zeitung von einem Einbruch in Sittingbourne gelesen, sollte ich wohl auch eine Alarmanlage einbauen? Und mit jedem neuen Tor, mit jeder neuen Alarmanlage, dreht sich der Hysteriestrudel schneller, saugt jeden, der ihm zu nah kommt, abwärts ins dunkle Reich der Angst.

Wir „wissen“ zu viel, das wir nicht richtig einordnen können und verschieben somit das reale Bild, das in aller Klarheit vor uns liegt, in ein abstruses kollektives Wahnbild. Sei es nun hier im friedlichen Kent, oder da draußen in der großen weiten Welt. Wenn irgendwo ein Schiff sinkt, ein Flieger abstürzt, wird plötzlich das individuelle Gefühl für die Sicherheit von Flügen und Kreuzfahrten getrübt und man fühlt sich nicht mehr wohl. Obwohl sich äußerlich gar nichts geändert hat. Flieger stürzen immer mal ab und der Meeresboden ist voll von den wenigen, die havariert sind im Vergleich zu den vielen, die dies nicht tun.

Bei den Churchview Cottages steht eine Parkbank, auf der ich mich ausruhe, fein gepflegter Rasen, keinerlei Verbotsschild. Die Gegend kurz vor Rochester und Canham wirkt offener, ein Idyll, wie man es aus Inspektor Barnaby-Filmen kennt. Eine Weile ruhe ich mich aus, trinke, esse. Vom nahen Cottage schlendert ein Mann herüber, lächelt, wir kommen ins Gespräch. Ja, doch, das sei schon Privatgrund, aber das wäre okay, dass ich hier ruhe. Ich könne auch auf seiner Weide zelten, wenn ich möchte, offeriert mir Tim, der Landschaftsgärtner. Um das Land zu verstehn, muss ich mit möglichst vielen Menschen reden, ihre eigene Einschätzuung hören. Ein Einzelner kann dir nie die tiefgründige Wahrheit vermitteln, die du erhältst, wenn du die Vielzahl von Stimmen wie in einem Chor hörst. Tim und seine Frau Lynn geben mit Kaffee und Kekse und drucken mir von ihrem PC Karten aus bis Rochester, empfehlen mir ein Hotel, was ich als so eine Art Fügung ansehe: Tu das, was dir die „Engel“, die wie aus dem Nichts auftauchen sagen. Rochester sei eine sehr schöne, kulturelle Stadt mit Castle und Kathedrale.

Zuvor durchquert man Canham, eine Studentenstadt, sehr sauber, sehr aufgeräumt. Das „Steamfestival“ hat just an diesem Ostersonntag stattgefunden mit Oldtimer-Korso und einem Fest in den alten Docks. Ich umradele einen südlichen Seitenfluss der Themse, dessen Name mir gerade nicht einfällt. Dank Ebbe liegen viele Boote auf dem Trockenen. Die Cycleroute 1 führt direkt durch Rochester, ich muss dort die Brücke nehmen, denn der 1996 eröffnete Medlway Tunnel ist für Radler, Pferdegespanne und Fußgänger gesperrt.

(entfipptehlert und gepostet von sofasophia)

Nachts um 4:33 oder Gewohnheit ist alles – alles ist Gewohnheit

Nach nunmehr 10 Tagen unterwegs hat sich eine Art Reisealltag eingestellt. Der Körper ist wie umprogrammiert. Es macht mir nichts aus, sechzig, siebzig und mehr Kilometer zu radeln. Auch die Kälte macht mir nichts aus. Wieder einmal wird mir bewusst, wie sehr wir in unseren Gewohnheitsnetzen hängen und wie engmaschig diese Netze sind. Ob es sich nun um die Gewöhnung an Temperaturbereiche handelt oder um unser Konsumverhalten. Alles ist Gewohnheit. Und Gewohnheit ist alles, damit wir uns in unserem Leben wohl fühlen können. Somit ist das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann, dass er mirnichts-dirnichts aus seinem Gewohnheitsnetz gerissen wird und sich von heut auf morgen umgewöhnen muss. Ein Temperatursturz zum Beispiel. Das Bild vom Frosch im Topf, den man auf den Herd stellt, kommt mir in den Sinn. Ich weiß nicht, ob die Geschichte stimmt, oder ob es nur eines jener Internetmärchen ist. Wer probiert so etwas schon aus: Wenn du den Frosch im kalten Wasser langsam erwärmst, bleibt er sitzen und stirbt, wenn es zu heiß wird. Wirfst du ihn in warmes Wasser, springt er wieder raus. Analog muss der Europenner, moi-même, sich behutsam an den Reisealltag und das Leben da draußen im Zelt bei jedem Wetter gewöhnen.

Aber nicht nur Temperaturen und äußere Lebensumstände betreffen unser Gewohnheitsnetz. Es durchzieht wie ein Gewebe unsere Existenz. Hörgewohnheiten sorgen dafür, dass, wenn man lange genug mit „Nossa! I’ve got a Hääängover oho“ und Konsorten aus den Radios dieser Welt zugeballert wird, bis einem diese Art Musik schließlich auch gefällt. Gewohnheiten lassen uns im Supermarkt zu bestimmten Produkten greifen, mehr noch, sie bringen uns sogar dahin, dass wir mit dem Auto raus fahren zum Supermarkt an den Stadtrand, anstatt in dem Tante Emma-Laden direkt neben der Haustür einzukaufen.

Jeden Herbst und jeden Frühling, kriegt man die Macht der Gewohnheit zu spüren: 10 Grad Celsius fühlen sich im Herbst kalt an, im Frühling jedoch warm, obwohl es sich dabei um die gleiche Temperatur handelt.

Wer ein Buch online am offenen Herzen des gelebten Lebens schreiben möchte, muss sich wohl nachts um 4:33 einen neuen Knoten im Gewohnheitsnetz machen. :-)

(entfipptehlert und gepostet von sofasophia)