Von Gnadenhöfen, Landschlössern und Spätverkerouacung – Tag 21

Vom Auwald nach Friedrichsruh

Eine zweigeteilter Tag, Zwiespalttag. Nachdem ich morgens mit Ludwig eine ungefähres Treffen irgendwann Freitag oder Samstag vereinbart habe, ist mein Ziel nun relativ scharf vor Augen: südwärts, über die Elbe und mich in Nähe der A7 begeben, damit wir uns an einer gemütlichen Autobahnauffahrt treffen können wie einst nahe Würzburg, als er mich aufgriff und mitsamt Radel und Gepäck mitnahm nach Nürnberg. Letztes oder vorletztes Jahr. Das Hin- und hertreiben lässt mich denken, dass ich verspätkerouace im europäischen Sinn, ein Gammler, Zen und weite Wege-Leben, hoffentlich nicht mit zu vielen lähmenden Manjana-Phasen. Das Navi routet mich über ruhige, meist geteerte Wege – zunächst. Vorbei an Gehöften, durch Naturschutzgebiete, kleine Dörfer, in denen es nichts gibt, kein Laden, kein Wasserhahn, noch nicht einmal ein Bushäuschen und oft auch keine Bushaltestelle. Undichtbesiedeltes Naturland, nein Acker- und Weideland, gespickt mit Wäldchen. Sonnig. Gartsiger Wind, den ich, da er aus Nord-West kommt, nur spüre, wenn ich anhalte. Zehn, zwanzig, dreißig Kilometer weit und nichts, kein Laden, keine Kaufmöglichkeit. Zumindest nicht direkt auf meiner Route. Ich mache einen Nettomarkt ausfindig in einem größeren Dorf, setze ihn als Zwischenziel. Vom morgendlichen Startpunkt aus ist er 60 Kilometer entfernt. Erinnerungen an Lappland werden wach. Dort passierte es mir zwischen Asele und Lycksele auf einer Distanz von etwa 80 Kilometern, dass es nichts gab als Leere, Wald und Rentiere, nur die Straße und ich. Hier, nur wenige Kilometer südlich von Flensburg, fühlt es sich ähnlich an, riecht es auch ähnlich in Kiefernwaldnähe. Ich fühle Freiheit und ein gewisses Explorer- und Forschendentreiben in mir. Ja, es ist noch da und auch die gute alte Kunstmaschine funktioniert. Es ist anders als früher, behäbiger, aufgeräumter, weniger drängend, Nichtsmusstag heute. Die Tagesetappe kippt nach etwa 40 Kilometern. Halbzeit, ich hatte einen Platz im Sachsenwald nahe Geesthacht angepeilt zum Übernachten. Nun streife ich Hamburg und nahe Hamburg wird es wuseliger, gibt es mehr Menschen, mehr Lärm, mehr Verkehr, ab und zu eine Hauptstraße für hundert Metrer, dann wieder kleinste Wege und so seltsam: Gerade hier durchfahre ich ein riesiges Naturschutzgebiet, kurz zuvor nur Acker, komme ich nun zunehmend auf Waldwege, Sand und Kies und Kopfstein. Das Radeln wird plötzlich anstrengend. Ich komme sehr langsam voran. Zur Mitte der Etappe doch noch ein Städtchen. Vor einer Werkstatt halte ich an, um eine der alten LKW-Ruinen, die davor stehen, zu fotografieren. Ein Ford Feuerwehrfahrzeug aus den USA. Drei kleine Hundchen mit SOLCHEN Kampfhundköpfen kommen zum Schnuppern und ein Mann, mit dem ich ins Gespräch gerate über die LKA-Ruinen und das Woher und wohin. Er empfiehlt mir den See in der Nähe und Supermärkte gibt es auch. Im See habe er schwimmen gelernt und nun lebe er in Hamburg. Ich kaufe ein, fahre am See vorbei, respektive, bin ich ja schon, will nicht zurück und frage mich, warum eigentlich nicht umkehren? Was treibt mich? Nur mein morgens zufällig selbst gewähltes Tagesziel, sonst nichts. Die Distanz auf dem Kilometerzähler wächst. Das Navi gibt die voraussichtliche Ankunftszeit aus. Es wird wieder neun, bis ich da bin. Das Navi sagt zwar viertel nach acht, aber ich kenne mich. Müde bin ich, Ruhen geht schlecht wegen des Winds. Zu ungemütlich. Bei einer überdachten Bank und Sonne verusche ich zu schlafen, aber die Stechmücken quälen mich. Also weiter.

Später hole ich noch Wasser in einem Restaurtant gleich neben dem eigentlich angepeilten Nettomarkt, den ich aber nicht mehr brauchte, weil ja zuvor schon eingekauft. Im Laden kein Wasserhahn ersichtlich also beim Italienischen Restaurant angefragt und ja, natürlich darf ich im  WC Wasser holen. Das Wasser fließt nur warm, der Hahn hat keine Regulierung und funktioniert per Sensor und im Restaurantradio dudelt Schlagermusik. Die Wege werden immer abenteuerlicher und kurz vorm Sachsenwald sind es nur noch Pfade, Mountainbikewürdig. Mit acht bis 15 km gehts voran. Unter der Autobahn durch auf Holperpfaden, eher anspruchsvoll mit Gepäck. Ich nehms gelassen, stelle mir vor, es ist Training für mein Projekt Santander-Valencia, auf Vias Verdes durch Spanien (haltet mich zurück).

Friedrichsruh. Bismarckmuseum, Forsthaus, ganz in der Nähe die zwei Wildzeltplätze aus der Opencampingmap, die sich als barer Wald entpuppen. Ich könnte also überall zelten. An den Koordinaten befindet sich kein Schild wie üblich, das die Regeln erklärt. Aber es gibtauf kleinen Lichtungen zwei Podeste, auf denen Zelte stehen. Die Karte zeichnet sie mit Waldkorb und Waldkorb 2 aus. Ich bin unsicher, ob das legal ist, hier einfach so zu zelten, aber bin müde, ist spät, baue das Zelt auf. Die Waldkörbe sind mit Zugbrücke und Schlössern gesichert. Man kann sie womöglich mieten.

Angenehme Nacht. Viele Tierlaute, sehr markant hoch oben in den Bäumen, wahrscheinlich Vögel. Ich mache im Halbschlaf eine Tonaufnahme.

Morgens gehe ich ins Bismarckmuseum. Bin früh dran, die Tür ist schon offen und so gehe ich ins Foyer. Empfangsraum. Frau hinter Schreibtisch und Monitor. Was ich wolle, fragt die Frau am Schalter. Postkarten, Museum, gibt es Kaffee, sage ich. Ob ich wisse, dass noch nicht zehn ist. In der Tat nein. Der Computer fährt gerade hoch, ich darf Postkarten schauen, kaufe vier Stück, Kaffee gibt es nicht und um 9:57 darf ich durch die Ausstellung laufen, die wider Erwarten recht spannend ist. Eine Schulklasse ist auch angekündigt für diesen Morgen. Eine geschnitzte Standuhr, sehr üppig, zeigt viertel nach zehn und das ganze Museum ist pompös, riesige Portraitgemälde von Königen und Kaisern, beängstigend richtet sich quer durch zwei Ausstellungsräume herrschend der Lauf einer französische Mitraieuse-Kanone auf die Besuchenden. Bismarck hatte die Waffe einst als Kriegsbeute hat mitgehen lassen Ganz mulmig, das 25-geschössige Rohr. Das Museum befindet sich deshalb hier abseits von allem Tummel, mitten im Wald, weil Friedrichsruh sein Schloss, sein Alterssitz war. Viertel nach zehn kommt die Schulklasse, ich schreibe ins Gästebuch, will mich hinterm Haus auf ein Picknickbänkchen verziehen, finde keins, komme an einem Pferdegnadenhof vorbei, treffe einen Mann, der mit einem Patenpferd, einer Haflingerstute spaziert. Das Tier habe es nicht gut gehabt, sieht aber nach einiger Zeit schon auf dem Gnadenhof sehr vital aus, frisst Blätter von Bäumen. Martina, die Gnadenhoferin, habe es wieder aufgepäppelt. Als Pate gibt er auch ein bisschen Geld und geht einmal die Woche spazieren mit dem Pferd.

Bis zur Elbe hin oft durch Waldwege, nun wohl in Geesthacht über die Brücke auf eine Insel geradelt, wo ich am Elbestrand die Hängematte in den Weiden aufgehängt habe und etwas verrenkt diese Zeilen Tippe, schneidersitzend. Es herrscht Ebbe, das Wasser fällt. Vielleicht gehe ich baden?l

 

Im Regen radelnd, die innere Regenbogenflagge gehisst – Tag 20

Von Eggebek in den Auwald

Es ist und bleibt wohl wie am ersten Tag: Eine Irgendwohin-Tour. Wobei der gestrige Tag 20, ein Dienstag, zu den stabileren gehört. Nachdem ich Kurs auf Eggebek und Umkehr gesetzt hatte und Eggebek auch erreichte, war der nächste Schritt logisch: weiter südwärts. Doch je ferner die Zukunft, desto ungewisser. Soll ich einfach weiter radeln? Soll ich in den Zug steigen? Freund L. anrufen, der gerade in Hamburg ist und schauen, ob ich mit ihm im Van ein bisschen südwärts fahren kann? Das klingt verlockend. Er könnte mich nähe Würzburg absetzen und ich würde nach Osterburken radeln und ab dort in der ellenlangen S1, die einmal als die längste S-Bahnstrecke Deutschlands galt, vielleicht ist sie das noch, bis Homburg ausbaumeln.

Müsste mich dann herumtreiben, bis L. vielleicht kommenden Montag retourniert und könnte noch Samstag in Neumünster zur Lesung und Ausstellung von Freund R.. Der würde sich vielleicht freuen!

Der Abend bei M., dem Freund meines Vaters, war goldrichtig. Im Vorfeld hatte ich Bedenken, war aufgeregt, schließlich hatte ich M. und seine Familie, die Frau, die Tochter, den Sohn  vermutlich nur ein zwei drei Mal in Kindertagen gesehen. Ich erinnere mich kaum und eigentlich auch nur daran, dass wir 1978 im ersten Wohnwagenurlaub in Dänemark bei ihnen vorbei geschaut hatten. M. schwärmte an diesem Abend allen vor, die er am Telefon hatte oder die ein und aus gingen, dass da einer an seinem Abendbrottisch sitzt, den er fünfzig Jahre nicht gesehen hatte. So viele waren es nun zwar nicht, aber es kommt fast hin. Irgendwie Sympathie auf den ersten, ne zweiten Blick und ich sage, ich hätte ihn von meinem Vater als Freund geerbt. Er erzählt wie sie sich kennen lernten, nämlich 1976 in A. Er kam per Zug als Aushilfslehrer zur dortigen Landwirtschaftsschule und mein Vater holte ihn vom Bahnhof ab. Dann Freundschaft. Einmal versuchte mein Vater ihn zum Tauchen zu bewegen, aber es ging nicht an ihn ran. Zu kalt das Wasser, zu düster der See, zu eng die Tauchklamotten. Nunja und mein Vater war auch kein Schönwettertaucher. Viele alte und neue Geschichten und über allem gaukelte der Tod und die Vergänglichkeit. M., seine Frau, starb im selben Jahr wie mein Vater. Nach zwei Jahren Krebs und Metastasen.

Morgens zum Frühstück meine Kinderfreundin C. mit am Frühstückstisch. Sehr herzige, vertiefende Gespräche. C. zeigte ein Video von einem Buben, dessen Mutter und seine beiden Drillingsgeschwister sie psychologisch betreut. Kind in Badewanne, das bei ihr einziehen möchte in der Hoffnung auf ein besseres Leben, ich weiß nicht, so rührend, dass mir ganz warm ums Herz wird.

Gegen zwölf wieder auf dem Sattel. Radele südwärts. Tags zuvor hatte ich in Tarp, dem Nachbararot am Bahnhof geschaut, ob ich dort womöglich weiter komme, und ja, das geht, aber meine Bahnapp lässt nur ein Fahrradticket bis zum Ende des Verkerhsverbunds zu. Ich finde auf Teufel komm raus nicht heraus, wie ich ein Langstreckenticket der DB kaufen könnte. Auch am Automaten gibts vermutlich nur die Verbundstickets, die in Hamburg enden. Ich habe keine Lust mich durch drei Verbünde bis Kassel zu buchen und dann den dreifachen Preis für die Radmitnahme zu zahlen. Es ist ohnehin nervig mit Rad in der Bahn und im Grunde genommen, das weiß ich jetzt, bin ich nur deshalb hier und die Reise verlief nur deshalb so, weil mich das Bahnfahren mit Radel und die Ticketungewissheit abschreckte.

Rückenwind. Das Navi routet gut. Nur einmal muss ich für 100 Meter durch den Wald schieben über einen zerfahrenen Moorweg, der zwar als Radroute ausgewiesen ist, aber eigentlich unfahrbar. Beim Militärstandort Jagel, nicht schön, ein paar Kilometer entlang der Bundesstraße, setzt Regen ein. Einsamer Soldat in Tarnkleidung auf weitem Feld an dystopisch wirkender Außerortsbushaltestelle. Rucksack. Der Mann wirkt verdrossen oder angepisst wegen des Regens. Flieger donnern durch die Wolken. Man sieht sie nicht. Ich suche einen Unterstand, eine Bushaltestelle (nein, die Soldatenhaltestelle gegenüber des Standort-Eingangs hatte keine Hütte) und auch im Dorf gibt es keinen Unterstand, radele also über Sandwege weiter ins nächste Dorf. Die neuen schneeweißen Schuhe, die mir M. geschenkt hatte sind nun schon sehr gebraucht und abgenutzt, halten den Regen aber besser ab als meine alten Schlappen. Im nächsten Dorf endlich ein Häuschen. Radel und ich passen rein. Koche Kaffee, esse etwas, mache Lebensmittelinventur, räume das Radel auf, verkabele Geräte zwecks Laden der Batterien. Die Tristesse und die Dauernavigation zehren an den Akkus. Der Son kommt kaum nach mit Laden. Für Handy UND Gopro reicht es definitiv nicht, was ich mit dem Nabendynamo einfahre, aber eben, besser als nix und bei jedem Fetzen Sonne, kommt die Solarzelle raus. Am Tag 20 keine Sonne. Wirklich nicht?

Das Bübchen aus dem Film von C. geht mir nicht aus dem Kopf. Was für ein mieser Start ins Leben: Schlaganfall im Mutterleib, die Mama überfordert, psychisch angeschlagen, Alleinerziehende. Im Kindergarten gemobbt, epileptische Anfälle als Folge des Schlaganfalls, aber so ein munteres Kerlchen. Da kommen mir die Tränen, da wünsch ich mir, ich könnte helfen oder die Menschheit machen, dass sie von Natur aus aus freiem Herzen immer allen hilft und keinen ausgrenzt oder mobbt. Wir sind keine Guten, gewiss, aber es gibt Gute, zum Glück. Hoffe, das Gute gewinnt, tritt um Tritt in die Pedale, mantrisch kurbelnd, die innere Regenbogenflagge gehisst.

Nach dem Bushäuschen weiter im Nieselregen, zu früh, der Regen nimmt wieder zu, rette mich in ein Edekacafé im nächten Dorf, Erdbeerspaghettikuchen: wie Spagehttieis muss man sich das vorstellen, dazu Kaffee. Lasse ein paar Milchportionen mitgehen beim Bestecktisch. Zucker gibts und Milch und Löffel und Tücher. Sollte ich öfter tun. Dann brauche ich mit der Portionierung beim Eigenkaffee nicht immer zu jonglieren. Die Steckdose neben dem Tisch funktioniert nicht. Egal. Hatte bei M. alle Geräte und Akkus aufgeladen. Das Lademanagement ist nicht zu verachten. Mit drei Kabeln und Steckdosenmöglichkeiten musste ich dennoch nachts aufstehen, um schon Volles auszustöpseln und noch Leeres einzustöpseln.

Erst nach 17 Uhr ist das Wetter stabil, kann ich endlich richtig loskurbeln. Noch 70 Kilometer bis zu meinem angedachten Ziel, ein Erlebniswald östlich von Neumünster. Ich wäre um 21:30 etwa dort, sagt das Navi. Unterwegs immer wieder stoppen zum Fotografieren. Die Kimberquelle. Plötzlich ist es bergig und ich kurbele in kleinen Gängen. Sehr schöner Ort, würde ggf. dort wild zelten, aber es scheint ein Wasserschutzgebiet zu sein. Das Wasser schmeckt nach Eisen. Zuvor den Nordostseekanal in Rendsburg überquert. Besser gesagt unterquert. Die Schwebefähre war außer Betrieb. Dort führte eigentlich meine Route entlang. Also kurbele ich zur nächsten eingezeichneten Fähre, aber da ist keine. Ja ja, da ist tatsächlich keine Fähre, erklären mir Leute auf der Straße, das ist ein Tunnel. Jetzt erst erinnere ich mich, dass ich mit der Liebsten da mal durch bin. Drüben auf der Südseite Wasser bei einem WC im Park. Dann hoch zur Kimber und zu meinen Schleswig-Holsteinischen Alpen. An einer Stelle in einem Dorf hoch oben hat man einen kurzen weiten Blick über grünes, meist bewaldetes Tiefland. Ich habe umgeroutet zu einem näheren Zeltplatz westlich von Neumünster. Bereitgestellt von einem Kanuverleih. Stelle mir vor, das es belebt sein könnte, dass eine Kanugruppe dort übernachtet, Naturschutzgebiet Aukrug. Im Ort zuvor gibts mehrere Campingplätze und mit ihnen Campingplatz-Amüsementsvolk. Viele Leute auf der Straße. Im Kopf sehe ich mich ohne Ruhe unter Menschen, doch schon zwei Kilometer nach dem Dorf herrscht Stille, bin ich mitten in der Natur, kann das Navi den Zugang zum Platz erst im zweiten Anlauf berechnen, radele ich einen Waldweg bis zum Fluss, der sich zu einem Pfad verjüngt und dann bin ich da, ein winziges Wieschen, kaum 50 qm groß am Rand eines frisch keimenden Maisfelds. Nur ein Schild: Sei willkommen, Wander und Radel und eine Sitzbankgarnitur mit Tisch. Ich bin alleine und das ist gut so.  Im Wald tutet eine  Bahn. Der Wind zaust heute sehr laut in den Bäumen. Ich weiß nicht, woher er kommt.                                                                                                                                                                                                                                                                                                        

Die Wischhafen-Künstler-Abgabe und ein künstlich angelegter, wässriger Wegbegleiter des Herzens – Tag 14, 13 und 12einhalb

Am Tisch sitzen. Die Tastatur ausgebreitet. Komfort. Mags auch kühl sein oder heiß wie vor ein paar Tagen, mögen die Insekten einen plagen. Ich bin alt geworden. Das Schneidersitzbüro erwachsen oder in Rente geschickt. Die Zeiten, in denen ich im Zelt saß, Kaffee schlürfend, sinnierend, schreibend, die Tagesgeschehnisse notierend, sie sind vorbei. Nein, nicht ganz. Sie sind anders. Sie sind nicht mehr so wie auch schon. Letzter Schreibstop irgendwo nahe Hemmoor. Noch zwei drei Stunden Fahrt bis Oelixdorf zu Freund Fliegerhorst, S., auch Itze genannt, weil er lange in Itzehoe lebte.

Praforceritt entlang der Bundesstraße. Irgendwann gibts kein Halten mehr für mich und ich habs satt, mich durchs Radwegegetümmel kreuz und quer lotsen zu lassen, schalte das Navi ab, folge dem schmalen Bundesstraßenradweg, der holprig ist. Im Gestank von Dieselruß, was zum Glück wegen Winds von Nordwest sich verweht und ich mir einbilde, da kriegste nicht so arg viel ab. Aber der Lärm! Ich setze Kopfhörer auf. Ann Clue at Cercle. Technozeugs oder Trance oder was auch immer. Es beruhigt und hält den Straßenlärm ab. Aber es geht natürlich auch viel von der Umgebung verloren. Volle Konzentration aufs Ohr, das widerum sich voll auf die musik konzentriert, um die Hintergrundgeräusche und das schneidende Singen der Straße zu dimmen, es nicht wahrzunehmen, es hinzunehmen. Wischhafen neun Kilometer, acht, fünf, vier, Richtungswechsel der Straße, mehr Feinstaub, Lunge kotzt. Nase noch immer lädiert vom Schnupfen. Radele an einem kilometerlangen Auto- und LKW- und Wohnmobilstau vorbei. Arme Teufel. Anderthalb Stunden Wartezeit, sagt deren App, erzählt mir ein Wohnmobilist, den ich auf der Fähre nach Wartezeit frage. Aber das Warten sei immer noch besser als der Elbtunnel,  sagt er. Alles ist besser als der Elbtunnel. Ich radele natürlich am Stau vorbei. Viele Motoren laufen wegen Klimaanlage oder aus Vergesslichkeit. Dass ich von dem Benzin, also dem Geld, das es kostet, das in dem Stau für Klimaanlage oder aus Vergesslichkeit oder aus Ignoranz verbraten wird, prima leben könnte. Ha! Das wäre mal eine Abgabe für arme Künstler wie mich. Die Wischhafen-Künstler-Abgabe, ein guter Blogtitel eigentlich.

Auf der anderen Seite der Elbe folge ich wieder dem Navi bis das Handy sich wegen Strommangels ausschaltet. Zehn Kilometer vorm Ziel habe ich keine Karte mehr. Was tun? Mich durchfragen wäre eins, eine echte Karte, zum Beispiel an einem Infopunkt in einem Dorf etwas anderes. Man verhilflost im Nutzen von Apps und Technik, denke ich. Ich hätte kaum eine Telefonnummer parat ohne das Handy. Keine Karte, kein Wetter, kein Nichts.

Lade über den Pufferakku und bin nach kurzer Zeit wieder da. Das Handy startet, zeigt Akkuladung null Prozent. Wie ein rohes Ei schalte ich Apps ein und aus, bloß nicht zum erneuten Absturz bringen. Ein Prozent, zwei, drei, ich wage den Blick ins Navi, ahja, das kann ich mir ungefähr merken. Sind ja nur noch zehn Kilometer bis Oelixdorf.

Tag 13. Ein Tag bei Fliegerhorst im Garten. Wunderbar. Zelt steht fast ganztägig im Schatten. Es ist superheiß. Nachdem S. einen Arbeitseinsatz erledigt hat, machen wir eine Tour nach Itzehoe, etwa 15 Kiloemter hin und zurück, essen Eis. Telefonisch löse ich ein Webseitenproblem für Herrn Traumspruch. Tat gut, so unkompliziert helfen zu können. Spätnachmittags kommt Freund R. hinzu, Künstler, Autor, Journalist und klasse Mensch. Leider ziemlich angeschlagen wegen Chemotherapie. Er nimmts trotzdem gelassen und was bleibt einem auch übrig?

Tag 14. Wow. Mittwoch, der zweite Juli. Schon 14 Tage im Sattel und ich muss sagen, die Tour entwickelt sich bestens. Als hätte ich den Resetknopf gedrückt, gerät sie erneut zur Irgendwohin-Tour im kleinen Raum. Morgens noch peile ich ein strenges Tageszierl etwa 100 Kilometer entfernt nördlich von Husum an, da sagt Fliegerhorst, fahr doch so und so. Und so mache ich es denn auch, radele erstmal Richtung Wilster und Brunsbüttel. Dort kommt der Nordostseekanal aus der Elbe. Es ist unendlich heiß – achja, am frühen Morgen half ich Fliegerhorst noch bei der Montage seiner Anhängekupplung und der Stoßstangen an seinem historischen Auto. Weils ja besser ist, das nicht so in der Hitze … und nuja, geht auch alleine nicht so gut. Gegen Mittag also los. In einem Supermarkt, in dem es Lebensmittel mit kyrillischem oder snskritischem Etikett zu kaufen gibt, ich meine Mühlendorf, gleich einmal das Nötigste gekauft: Bananen, Dosenfisch, Haferflocken. Brot und Marmelade hatte mir Fliegerhorst mitgegeben. Fliederbeerenmarmelade. Hab sie noch nicht angebrochen, bin gespannt.

Ohne  Navi kann ich nicht fahren. Entweder habe ich es verlernt, vermutlich aber liegt es daran, dass ich das Beschilderungskonzept nicht verstehe. Oft ist ein Ort ausgeschildert, zum Beispiel Brunsbüttel und wenn es keine Verzweigungen gibt, gibts nur Radwege-da-lang-Plaketten wie ich es auch von daheim kenne. Bloß eben, dass ich mich dann trotzdem verirre und irgendwann ist eben Brunsbüttel nicht mehr auf dem Wegweise und das Schild zeigt ins Nachbardorf in 1,5 km Entfernung. Woher soll ich denn wissen, ob das richtig ist. Die Wege, meist auf winzigen Sträßchen, führen ohnehin zickzack.

Das ist gut. Gibts keinen konsequenten Gegenwind. Das ist schlecht, neigt man dazu, im Kreis zu fahren.

In Burg überquere ich den Nordostseekanal. Am WC bei der Fähre nässe ich T-Shirt und Haube und fülle Flaschen auf. Wie ich es zuvor in mindestens zwei Supermärkten gemacht habe. Bei den Leergutabgaben gibt es meist auch einen Wasserhahn. Irgendwo kriege ich auch endlich Briefmarken zu kaufen. Die Post in einem Reweladen hat tatsächlich geöffnet. Fehlen noch die Ansichtskarten, die ich in einem touristischen Ort besorgen werde.

Wo er schon da liegt, der Kanal, und beidseits Radwege führen, denke ich, dem folgste jetzt mal. Er führt zwar nicht zur Nordsee, denn da kommt er her, aber er führt inländisch nordwärts und ich hab keine Lust mehr auf Nav und Zickzack und Suche und Orientierung. Er ist mein Rhein-Rhône-Kanal des Nordens, mein künstlich angelegter, wässriger Wegbegleiter des Herzens. Zwei Betonspuren für Autos, gut verlegt, dazwischen Gras. Direkt am Kanal. Der Kanal ist etwa acht Mal so breit wie der Rhein-Rhône-Kanal (gemessen auf der Karte: etwa 150 Meter). Ab und zu kleine Boote, motorisierte Segler auf dem Weg von See zu See. Ein Raddampfer voller Touristen, der eine oder andere große Pott. Ich filme, denke nicht, folge nur dem Kanal. Hochbrücken und Fähren – das könnte man vergomringisieren. Hochbrücken und Fähren und ein Radler, der daran und darunter vorbei und hinweg … ach lassen wirs.

Irgendwann hab ich das Kanalradeln doch satt, schaue in die Karte. Zwar wäre jenseits von Rendsburg etwa 45 km entfernt ein Shelterplatz von Wildes SH, aber es gibt ja noch mehr. Mein ursprünglich angepeilter Platz nördlich Husums ist mit 65 km zu weit weg. Zu heiß und es wird Unwetter geben. Man sieht das Schlechtwetter nun auch schon ohne App. Ich orte einen Shelterplatz in Drage an der Eider, nur noch 40 km entfernt. Fast in Richtung Husum, rufe bei den Leuten an, die ihn betreiben, melde mich an. Steuere darauf zu. Parforce reitend plötzlich, denn der Himmel wird immer düsterer. Fast schon so verbissen, dass ich nicht wage, fürs Pinkeln mal kurz anzuhalten. Kurbelnd und dennoch ruhig und entspannt sinniere ich, was denn nun dabei ist, sich das zu verkneifen, wegen der halben Minute. Es kommt wieder das uralte Problem des zuerst das, dann das und um irgendeine fiktive, selbst gebastelte Ideallinie zu finden. Bedingungslos geht anders. Das wäre auch impulsiver und vermutlich auch natürlicher, mehr im Fluss, denn der Fluss, den ich gerade lebe mit der Prämisse, so lange wie möglich im Trockenen und un-geunwettert zu radeln, der ist künstlich. Das ist das Nordostseekanal-engstirnig kapitalistischen Denkens, sinniere ich, stoppe, pinkele in die Hecken, lasse den Blick übers Weite Land schweifen, erstaune, als ich feststelle, da ist gar kein garstiger, Unwetter ankündigender Wind. Das was ich die ganze Zeit bedrohlich im Ohr hatte, was mich schneller treten und hasten ließ, das war mein eigener Fahrtwind. Ich habe die Maschine gebaut. Ich habe sie erfunden. Ich trieb sie an, auf dass sie mich drangsalieren möge und mich schneller, schneller, schneller werden lies.

Dann doch. Einzelne Tropfen. Mehr Wolken, mehr Rumpel, aber auf die Idee, dass einen das Kleingeistige erst dies, dann das und dann … auf diese Idee muss man erst einmal kommen, dass einen das zu einem Getriebenen Selbstversklaver macht.

Ich überquere die Eider über eine urige Schleusenpassage südlich von Drage, nur noch zwei Kilometer bis zum Platz. Weiß nicht, was mich erwartet. Das macht es aufregend. Der Platz ist am Dorfrand. Ich folge wieder dem Track des Navis bis zu einem Schild, Hof Drage. Noch hundert, fünfzig, dreißig Meter, bin da. Haustür offen. Handy fummeln, Track ausschalten, schon steht U., die Betreiberin vor der Tür, begrüßt mich herzlich, zeigt mir alles. Gerade noch vorm Regen und Gewitter kann ich das Zelt aufstellen, koche im Zelt, sinniere über Metall in der Nähe, denn es blitzt und donnert, aber Host S., zeigte zuvor auf die Blitzableiter des nahen Hauses: Da schlägt er ein, wenn er einschlägt. Sollte er zumindest, fügt er hinzu und sollte er besser auch nicht, lachen wir beide.

Morgens kommt S. zum Zelt, interviewt mich, macht ein Foto, klärt mich auf, dass einst u. A. Robert Habecksich für die Initiative fürs Wildzelten in Schleswig-Holstein stark machte und das wärmt mir doch gerade mal wieder das Herz für den eigentlich einzigen Großpolitiker meines Herzens.

Wie zum Hohn lese ich quer in den Kurznachrichten, dass der jetzige Kanzler mal wieder eine Entgleisung verbaler Natur hatte. Traue mich gar nicht, die Nachrichtenseiten zu schauen. Und du, das mache ich auch nicht!

Nun am Bänkchen des Trekkingplatzes dies tippend. Das Zelt trocknet hinter mir. Wind rauscht in den Bäumen. Der Platz ist so liebevoll angelegt. Neben der Bank gibt es eine Betonplatte, auf der man den Trangia zum Kochen aufstellen kann. Im Haus Dusche und WC. In der halbmeter hohen Wiese ist eine Art Labyrinth gemäht zu einzelnen Zeltaufbaumöglichkeiten. Mindestens drei schöne individuelle Alkoven gibt es.

Und im Haus sei auch eine Ferienwohnung verfügbar, erzählen mir Ute und Jörg aus Sachsen. Die Beiden kamen gestern per Zug nach Husum und wollen nach Radebeul zurück radeln. Sind auch neu im „Wilden SH“.

Von der Weser zur Elbe – Tag elf

Ein Sonntag. Ich hatte umsichtiger Weise eingekauft, vorgesorgt für den geplanten Abreisetag auf dem Woldhof. Der Pausentag hat gut getan, war jedoch, das weiß ich nun, da ich dies schreibe, nicht genug. Die Erkältung und das Dauerradfahren, täglich im Schnitt 100 Kilometer haben mich massiv erschöpft. Merkwürdiger Weise merke ich das nicht, wenn ich im Sattel sitze und kurbele. Dann könnte ich immer so weiter machen. Es ist faszinierend. Ich spüre auch nicht, dass ich erkältet bin. Mein Steißbein tut nicht weh. Vor ein paar Tagen noch dachte ich, es sei endlich ausgeheilt, der Druckschmerz, den ich seit bald zwei Jahren habe beim Sitzen, war weg. Bzw. ich sitze ja nicht wie sonst auf Sofas oder Stühlen. Also war nicht der Schmerz weg, sondern die Position, in der man ihn spürt. Da mal drüber nachdenken. Okkulte Irgendwas-Vorgänge im eigenen Körper.

Etwa acht Kilometer bis Oldenburg. Ich versuche Freund Schlager anzurufen, der mal hier gewohnt hatte und den wir, Kollege T. und ich mit dem LKW abholten, ihn und seine Habseligkeiten zurückzogen ins Saarland. Ich glaube, ich bin durch seine Straße geradelt oder eine Parallelstraße. Genau weiß ich es nicht mehr. Vor den Häusern standen überall kleine Gratis zum Mitnehmen- Kisten. Bücher, Tassen, Krempel. In einer unglaublichen Menge. Ein Phänomen, das ich sonst nur aus der Schweiz kenne, aber nicht in dieser Dichte. Beim Woldhof hatte ich B. eine schwarze Tasse dagelassen, die ich auf einem Regal bei einem Reiterhof, Bossel oder so ähnlich, dort wo ich das Gewitter ausgesessen hatte, südlich von Bremen, ja, genau dort, die ich also dort gefunden hatte zusammen mit einer weiteren Tasse und einem Hasenfigürchen mit Krokodilklemme daran. Weiß auch nicht, was mich geritten hat. Nicht nur, dass ich viel zu viel Zeug mitschleppe, ich lade mir unterwegs auch noch Dinge obendrauf. Wenn ich wieder daheim bin, werde ich mal eine ultimative Minimalpackliste machen für eine ultimativ minimal gepackte Tour.

Die Hängematte könnte ich auch daheim lassen. Obschon ich sie schon benutzt habe und nuja, da stellt sich die Frage, was ist wichtig. Was braucht man wirklich und worüber freut sich das Gemüt. Die Kaffeemaschine, die mir die Liebste schenkte etwa. Ich nutze sie täglich mehrfach, aber es ginge auch ohne. Auch nur einzelne Teile des Maschinchens, die nicht unbedingt nötig sind, um Kaffee zu kochen, könnte ich tatsächlich weglassen.

Aber man möchte ja auch ein bisschen Komfort. Die Kladde habe ich nicht benutzt. Dafür diese Tastatur, auf der ich dies tippe. Ein einziges Handy wäre auch okay, wenn alles darauf laufen würde (die Tastatur lässt sich nicht mit dem Shift koppeln).

In Oldeburg versucht, einen Bummel durch die Stadt zu machen, aber weil eine Veranstaltung war, überall Leute und Polizei, bin ich umgedreht und dem Hunte-Radweg gefolgt. Und wie üblich, ihn verloren, umher geirrt, das Navi wieder eingeschaltet. ich weiß nicht, was nicht stimmt mit der Gegend. Nein, mit dem Radwegekonzept. Das ist es. Die Gegend kann nichts dafür. Mehr oder weniger rankend rund um den Hunteradweg komme ich zur Weserfähre. Fahre an den Autos vorbei bis vorne. Es gibt keine festen Abfahrtszeiten. Motorradfahrer kommen auch nach vorne. Einer sagt, dass anderthalb Stunden Wartezeit sei für die Schlange und, gell, als Motorrad darf man doch vor, fragt er andere. Sag das den Autoleuten, die hinten zwei Fähren abwarten müssen, denke ich. Wir Radler? Nuja, im Grunde ist mein vollgepacktes Radel ähnlich voluminös wie ein Motorrad. Die Fähre kommt, nimmt fast alle mit. Ich bin übrigens wieder im Bundesland Bremen. Vielleicht habe ich deswegen wieder das Stadtgefühl? Gefällt mir nicht, navigiere mich nordostwärts und erst nach zehn Kilometern wird die Gegend schön und zwar so richtig schön. Wälder, uralte Bäume, seltsame Wurzeln und Verwucherungen. Felder, Hügel. Das Navi schickt mich auch auf Wald- und Kieswege und obschon das sicher nicht die schnellste Methode ist, voranzukommen, bin ich zufrieden. Freund Fliegerhorst ruft irgendwann an. In dem Dorf, in dem ich mit ihm telefoniere, steht ein Bücherschrank in einer Telefonzelle, also gehe ich in die ehemalige Telefonzelle zum Telefonieren. Wann ich komme und dass alles vorbereitet ist will er wissen. Ich nehme aus der Bibliothek noch drei Taschenbücher mit. Alexander Puschkin der Postmeister, einen Krimi und ein Buch, das eine Neonlichszene einer Tankstelle in den USA als Titelbild hat. Als Geschenk für Fliegerhorst.

Unterwegs immer wieder Wasser erfragen von Leuten am Straßenrand: Haben sie einen Wasserhahn in der Nähe und ja, natürlich. Eine Frau füllt mir sogar Eiswürfel in die Flasche. Herrlich. Spät abends noch bei einem Friedhof gefüllt und schließlich hinter einem Wald namens Falle auf einer Wiese gezeltet. Nicht ganz sicher, ob es ein Naturschutzgebiet ist. Vom Gefühl her und nach dem wilden Aussehen könnte die ganze Gegend ein Naturschutzgebiet sein.

Nun Tag zwölf schon. Das Zelt stand so am Waldrand, dass die aufgehende Sonne nicht gleich drauf knallte. Ich bin hin und hergerissen, ob das gut war. Einerseits kam ich dadurch erst spät los, andererseits taten die zwei Stunden Schlaf bis fast acht Uhr auch ganz gut. Neun Uhr im Sattel. Den Schlenker über Cuxhaven lasse ich aus. ich komme dann zwar immer noch nicht ans Meer, aber zu Fliegerhorst wären es über Cuxhaven bald 150 Kilometer. Auf dem direkten Weg sind es nur etwa 90 und man weiß ja, zu welch Irrwegen das Navi und die beschissene Radwegelage hier in der Gegend in der Lage sind. Je nach Verirrungslage kann ich womöglich etliche Kilometer mehr radeln müssen. Der Morgen fängt schon mit dem ersten Verirrungs-Problem an: Das Navi leitet auf einen Sandweg. Da kann ich nicht fahren. Da kann niemand fahren und schieben ist auch nicht, also muss ich ummodeln. Auf einer Brücke eines Kanals treffe ich zwei Radlerinnen. Aus Rheinland-Pfalz vom Nürburgring. Sie seien gestern der Hitze entflohen, erzählen von ihren frühen Touren von Insbruck nach Venedig etwa und an der Müritz, und noch einigen Schmankerln und wir sind uns einig, dass Radeln ein Heilsbringer ist. So gehts in den Tag. Irgendwann große Freude, dass ein Schild den Ort Hemmoor, der auf meiner Route liegt, weit ausschildert. 30 Kilometer. Navi aus. Schildern folgen. Für sieben Kilometer gehts gut. Dann ist Hemmoor von den Hinweisschildern verschwunden und ich müsste mich wieder von Dorf zu Dorf hangeln. Tue ich auch in Kombination mit Navi. Ein kurzes Stück auch entlang der Bundesstraße. Bis Wischhafen an der Elbe sinds nur 30 km über die Bundesstraße. Ich könnte ja … aber Lärm und Gestank. Brauche Pause. Tausche Leergut in einem Edeka in Lamstedt, kaufe einen Trinkkefir. Zahle an der Selbstzahlerkasse, weil an der richtigen Kasse zu viel los ist. Bloß: Die Selbstzahlkasse erfordert Kassenpersonal, wenn man einen Leergutbon scannt. Also doch warten auf Kassenpersonal. Zu guterletzt verschussele ich den Bon, den ich scannen mus, um durch die Schleuse ausgelassen zu werden und muss dann doch durch die andere Kasse. Ey. Mistdinger. Ich kenne die Selbstzahlerdinger ja schon, aber sie sind nie einheitlich und mal so, mal so, Alterskontrolle hier, Leergut da und finaler Zahlungsbelegbon vor Schranke dort.

Missmutig raus. Musik im Kopfhörer entlang der B und nun bei einem schönen Bänkchen schon seit über einer Stunde. Geschlafen. Hühner gackern wo. Wind nur leicht, kühlt. Solarzelle lädt das Shiftphone. Hab das Puschkin-Buch drauf gelegt, dass die Sonne es nicht verbrutzelt.

Tag sieben – Glückliches Gedenken, friedlich im Fahrradsattel voran kurbelnd

4:45 Uhr. Perversfrüh. Gut geschlafen auf einer Wiese nördlich von Nienburg in der Nähe von Drakenburg. Die Autobahn, etwa einen knappen Kilometer entfernt südöstlich rauschte die ganze Nacht. Ein komisches Konzert untermischt mit Vogelzwitschern, das ähnlich vehement aber in anderer Frequenz den Raum beherrscht. Ab und zu gebrochen vom Bellen eines Rehs. Blök blök. Die wiederum hätten das Potenzial, es mit den schneidenden Geräuschen aufgemotzter Motorräder und Automotoren aufzunehmen. Schienengeräusche. Die Bahnlinie hinter mir scheint stiilgelegt. Das hatte ich bei der Lagerplatzsuche am Abend schon vermutet. Ab Nienburg schuftete ich mich den D9 und Weserradweg hinaus, entlang des Flusses vorbei an Hafen, Sportanlagen, lungernden Menschen in Grünanlagen. Ein Polizeiauto blockierte den Weg, zwei Polizisten, ein Junge mit Fahrrad. Darf ich vorbei? fragte ich, ja, schieben sie. Was nicht einfach war, denn zwischen Auto und Zaun und Hecken waren nur ein knapper Meter Platz. Hundert Kilometer-Marke geknackt. So „fleißig“ war ich glaube ich noch nie auf einer Radeltour. Sieben Tage, nur der erste und der sechste Tag mit jeweils 90 und 97 km lagen unter der magischen Marke, die dennoch nichts bedeutet.

Jaja, ich glaube, ich habs im Griff, ich bin nicht verbissen, will nichts, habe kein Ziel und habe dennoch immer wieder Ziele. Markierungspunkte, die sich ergeben im Laufe des Tages. Oft wäre ich auch gerne daheim. Oft bin ich gerne da wo ich gerade bin. Im Sattel ist mein Daheim, denke ich, richte mich von einem Wohlfühlpunkt des Lebens zum nächsten Wohlfühlpunkt des Lebens neu ein. Immer im Jetzt ist genau richtig. Sei es in einer Stadt an Fachwerk vorbei flanierend, vor einer alten Mühle, sie bestaunend, neben einem Spielplatz rastend und ja, gestern sah ich das erste Reet gedeckte Dach. Ich bin nun der Küste recht nah. Im Kopf oft nichts oder sich wiederholende, mantrische Worte. Unfug manchmal. Kaum Böses, Schimpfworte oder gar Wut, eher rein nüchtern kommentrierendes oder Wortspielereien. Manchmal denke ich eine Einkaufsliste: Brot, Bier, Bananen, Nudeln, Tütensuppen, fünf Dinge und später in einem der meist kleinen Edeka- oder Rewe-Läden vergesse ich dann doch das eine oder andere. Ich kaufe oft ein. Zwei drei Mal am Tag bin ich in einem Laden. Das Radel sperre ich meist nicht mehr ab, weil das alte Schloss hakt und ich Angst habe, dass es nicht mehr aufzubringen ist. 25. Juni gestern. Seit vier Tagen ist der Neffe der Liebsten gestorben bei einem Tauchunfall und das nimmt mich auch mit. Der Tod reist immer mit, oft denke ich an längst gestorbene, meinen Vater, Stefan (Journalist F.), Hagen, der IT-Tausensassa; denke ans Übel der Welt, den miserablen Zustand im großen Konflikt, von dem ich nun gar nichts mitkriege und auch die Menschen um mich. Ich halte mich zurück mit näheren Kontakten, denn vertiefende Dialoge brächten mir die schiefe Weltenlage ins Gemüt. Eine Lullifulli-Einfachreise ist das ohne bösen Input. Der große Konflikt heißt die gefühlt massive Zunahme von Kriegen, und die Berichte darüber. Das macht etwas mit der informierten Gesellschaftsmasse, lässt sie sich polarisieren, Stellung beziehen ohne Ahnung zu haben. Als träte man in jeden Straßenstreit zwischen Wildfremden ein und würde Partei für den einen oder anderen nehmen. Der Junge bei den Bullen auf dem Radweg gestern: Was hat er getan? Weshalb halten sie ihn fest, kontrollieren ihn. Ist er böse? Oder ist es Routine? Oder haben sie den Falschen? Keine Ahnung, worum es geht und doch ein Bild, das einfachste im Fall:  Drogenverkauf, Drogenbesitz, Drogenkonsum. Oder: ein Spanner, ein Exhibitionist, ein mutmaßlicher Räuber? Oder: Opfer eines Überfalls?

Ich weiß es nicht und trotzdem entstehen Bilder und sie machen mich sehen, genau so und so ist die Welt.

Ich arbeite wieder. Gutso. Schreibe diese Zeilen. Grob gehacktes Zeug. Eigentlich habe ich vor, die Tage eins bis vier auch noch zu rekonstruieren. Sitze im Schneidersitzbüro. Blick durchs Gaze des Zelts. Eine Stechmücke umsurrte mich, hab sie verscheucht und den Reißverschluss zugezogen. Die Wiese ist perfekt. Uneinsehbar. Hinter einer Hecke zum Radweg, der etwa 100 Meter weiter westlich liegt. Im Osten ein Weizenfeld, nicht reif genug, als dass heute früh die Mähdrescher anrücken könnten. Keine Ballen auf der Wiese, so dass auch der Abräum-LKW nicht auffährt. Ein verwaister Hochsitz, okay, Jäger sind immer eine Gefahr in der panoptischen Welt – Tag vier, der noch zum Aufschreiben wäre mit dem Thema: die panoptische Welt an der Fulda. Merks dir – im Norden die vermutlich verwaiste Bahnlinie mit der so merkwürdig sinnlos wirkenden Brücke, die über die Felder führt und im Süden die lästige Autobahn. Der Lärmpegel nimmt zu mit jeder Stunde in den neuen Tag.

Vier Tage möchte ich noch schreiben und einen Artikel für den Metalabor-Reader 10. Hab mich gewundert, warum Büttner zur Einreichung von Artikeln aufrief, obwohl das Labor doch erst im September ist (Nachtrag, 1. November 2025: vielleicht hatte ich mich geirrt mit dem Metalabor-Call for Entrys). Tag drei wird der Artikel. Freundlichkeit kann die Ursache für alles Mögliche sein. Wo war ich an Tag drei? War es nicht Tag vier oder fünf, an dem Freundlichkeit die Ursache von etwas war? Oder bin ich nicht immer freundlich, jeden Tag, so gut es geht. Außer in aufbrausenden Momenten. Wenn Lärm zu lästig.

Gestern früh beim Fährhaus schrieb ich geschützt vorm strengen Westwind in der dortigen Schutzhütte. Auf der Wiese beim Anleger liegt ein überdimensionierter Rettungsring aus Beton, eine weiß rot bemalte Betonskulptur, die immer wieder Leute anlockt für Fotos. Vier Radlerinnen und Radler, die mir in Beverungen schon begegnet sind. Ich erkannte sie, weil sie über das Selfie auf der großen Bank redeten. Eine der Frauen hatte Knieprobleme und musste sich hinaufwuchten lassen auf die Touristenattraktion in Beverungen.

Nach schreiben bis fast elf Uhr endlich los. Keine Ahnung wie weit kommen wegen Winds und irgendwie auch einer gewissen Erschöpfung. Kein einziger Pausentag bisher. Aber wie erwähnt, ich bin entspannter denn je bei einer Tour. Raspel schickte seine Adresse und Telefonnummer in Oldenburg. Das mache ich wahr. Ein Fediversumskontakt und wohl auch ein Interner fürs jährlich stattfindende Fedicamp im Wendland. Ich werde es dort hin wohl nicht schaffen. Das Fedicamp ist Mitte Juli und ich liebäugele, schon gegen übernächstes Wochenende wieder in die Pfalz oder Schweiz  zurück zu kehren. Wegen? Der Liebsten, des Tods ihres Neffen, wann wird er beigesetzt? Frau Mama. Garten. F.s Tod. L.s Gedenktag. Es gibt viele gute Gründe. Dennoch: Gedenktage werden die Zeit in Stücke zerlegen. Dabei ist Gedenken doch immer und überall möglich. Und wo ist Gedenken intensiver, wenn nicht glücklich im Fahrradsattel voran kurbelnd.

Im Gegenzug stehen den zerlegten Zeiten unformatierte zukünftige Zeitabschnitte entgegen mit weiten Visionen wie etwa rauf nach Dänemark. Eine Nacht auf Fünen, einmal zum großen Strand von Römö, nach Skagen und zum versunkenen Leuchtturm und ja, auch das Herz Norwegens (eine etwa 600 Kilometer lange Radtour im Süden Norwegens. Ich hatte sie so getauft, weil die Route in etwa der Form eines Herzens entspricht) und letztlich das Kap.

Ein Kap-Erlebnis gabs gestern: Unterm Kanal, also der Kanalbrücke in Minden, die sehr breit ist eine Art Nordkaptunnelgefühl. „Mensch unter etwas von Menschen Gebautem, das Wasser obendrauf hat“, um es mal salopp zu sagen. Und eigenlich sind es sogar zwei Kanalbrücken, eine alte aus Stein und eine neue aus Stahl. Unter der Brücke stelle ich das Radel ab und steige die Treppe hinauf, die zwischen den beiden Kanalbrücken nach oben führt. Mal eben kurz zur Aussichtsplattform. Man sieht: Kanal. Jemand sagt: da gehts nach Berlin.  Wegen des Winds, der in diese Richtung weht, bin ich verlockt, den Kurs zu ändern. Zum Glück steht das Radel unten vor der Treppe und müsste erst da hoch. Ein feiner Kipppunkt der Reise ist das. Es fehlt wenig. Das bedeutet aber auch Freiheit. Später lässt der Wind nach und ich irre auf den vielen Radwegen umher, verliere den Weserradweg, bzw. es gibt verschiedene Routen und ohne Brille erkenne ich die Symbole nicht. Es fehlt ein Konzept, finde ich. Fernpunktangaben. Nienburg ausgeschildert hätte ich mir gewünscht. Stattdessen hangele ich mich von einem 15 Kilometer entfernten Ort zum nächsten, vielleicht 12 Kilometer entfernten Ort. Ein Rennradler erklärt mir grob den Weg nach Nienburg und das Geheimnis scheinen die wenigen Brücken zu sein, die man nutzen kann. Letztlich nehme ich am Abend die Bundesstraßenradwege, was zwar laut und dreckig ist, aber es fühlt sich nicht mehr so schlimm an wie tagsüber im Vollverkehr.

Dieser Lagerplatz: Hab etwas länger gesucht. Wie so ein Hund, der sich, bevor er sich hinlegt ein paar Mal im Kreis dreht. Oder machen das Katzen? Ein erster guter Platz war nahe der Autobahnbrücke. Kaum einsehbar, Fluss nah und zugänglich, was gut gewesen wäre, denn ich fühlte mich klebrig, hätte gerne den Duschsack gefüllt und mich gewaschen. Aber der Lärm. Hier weit weg vom Fluss, gibt es kein Wasser. Aber egal: nachts hab ich mich wohl selbst gereinigt. Fühle mich jedenfalls recht gut jetzt. Gegen acht soll es regnen. Bin froh, dass ich den Hintern hochgekriegt habe und gleich das Zelt noch trocken abbauen kann. Sonne sollte es vielleicht noch auf ein kurzes Hallo schaffen durch die seichten Morgendunstwolken.