Tag fünf – Birkenprassel-Lautmann-Kipppunkt

Von Dittershausen bis Wehrden.

Der Wind zaust die vier Birken, unter denen meine Hängematte baumelt. Weil die Bäume so nahe beieinander stehen, hängt die Matte entgegen meiner sonstigen Gepflogenheit, sie schön stramm aufzuspannen, ziemlich durch. Was sich als recht bequem herausstellt. Nicht, dass ich es nicht gewusst hätte. Immer wenn ich die Matte verlasse, um am Radel etwas zu kramen, den Kocher etwa aus den Packtaschen zu holen, oder die Brille zu suchen, bläht sie sich auf wie der Spinacker eines Schiffs. Ich döse ein, bin recht erschöpft. Schon seit Tagen im Sattel und kein Tag verging mit weniger als 100 Kilometern Tagesleistung. Seltsamer Weise macht mir das Radeln gar nichts mehr aus. Wenn ich nicht müde würde, könnte der Körper ewig so weiter fahren. Langsam verstehe ich die Menschen, die sich am Atlantik aufs Rad setzen und kreuz und quer durch Europa kurbeln und erst am Schwarzen Meer wieder aufhören. Ein Transcontinental-Racer wird trotzdem nicht aus mir werden. Mir reicht es oft, zu wissen, wie die Dinge funktionieren, wie es „geht“, wie dieser oder jener Mensch, der mir als Absonderling, als ein großer „Unvorstellbar“ erscheint, so und so sein kann.

Einfühlung? Die Windböen hier an der Weser sind heftig. Mein Lagerplatz bei einer Grillstelle mit drei Hütten und einem Kneippbecken bietet eigentlich alles, um das hier auszusitzen. Birkenäste prasseln herunter, verfehlen mich knappt. Ob es weh tut, wenn einem Schlafenden ein etwa fingerdicker Birkenreisig auf den Kopf fällt? Dieser hier hat mich nur um ein paar Zentimeter verfehlt. Ich schubse ihn aus der Hängematte. Bin zu müde, um mir einer eventuellen Gefahr bewusst zu werden. Vom Weg Stimmen, Radelgeräusche, Ebikemotoren. Ulkige Schalke suchen Schutz in der Hütte. Immer wieder ziehen Regenschauer vorbei, tun so als wollten sie die Welt untergehen, aber kaum hat man sich in Sicherheit gebracht, sind sie schon wieder weg. Die Kerle scherzen zu mir herüber, frotzeln, dass sie mich jetzt „endlich geweckt haben“ und das ist eigentlich kein so guter Beginn für einen Smalltalk. Normalerweise wäre ich vielleicht zu ihnen rüber gegangen und man hätte über das Woher und Wohin, das Warum geredet, aber so lächle ich und tue so, als sei ich fremd, bin ich ja auch, aber ich tue so als wäre ich noch viel fremder. So, als würde ich ihre Sprache nicht verstehen. Insgeheim bin ich Franzose oder Pole, denke ich, bloß was, wenn einer französisch oder polnisch spricht? Je regrette, isch spreche kein Deutsch. Ah qui, vous etes francais? Endlich haben wir sie geweckt. Egal. Einer kneippt im Becken, die anderen labern altmännerlaut höhö und hoho aus voller Brust … nein nein Herr Irgendlink, die wollen dich nicht provozieren, die sind von Natur aus so. Frequenzpotente Kerle mit Bäuchen und grauen Haaren.

Ich Misanthrop, ich.

Die Tour, ich habe sie die Irgendlinksche Irgendwohin-Tour getauft (in Anlehnung an Radlerfreundin Radltante aka Frau Laut, die solch eine Zickzack-Tour vor zwei Jahren und auch dieses Jahr durch Deutschland machte) – kurz Hashtag irlirwo. Alles klar? Die Tour fußt auf wieder einmal gescheiterten großen Plänen und ist sozusagen das Überbleibsel eines Vorhabens, das nicht durchführbar schien: Mit dem Fahrrad durch Norwegen ans Nordkap. Die Königsdisziplin. Hätte hätte Fahrradkette, hätte ich schon gerne gemacht, muss aber nicht und es gibt Gründe, dass ich nun auf einer ziellosen Irgendwohin-Reise bin, statt straight mit engem Blick das Ziel Nordkap zu fokussieren. Letztendlich eine reine Terminfrage. Der durch Termine zerhackte Alltag lässt einfach keine zwei bis drei Monate theoretischen Opend Ends zu.

Das Ende allen Birkenastprasselns. Ich packe zusammen, die Herren sind weg. Eine hustende Frau sitzt vor der Hütte. Kneippbecken verkneife ich mir, packe und stemme mich weiter gegen den Wind, der mich schon den ganzen Tag mal plagt, mal nicht. Die Fulda, der ich bis Kassel und darüber hinaus bis Hannoversch Münden folgte, macht nämlich zahlreiche Schleifen. Scherzhaft hatte ich einmal auf Mastodon getrötet, dass die Fulda aus tausend Saarschleifen gemacht wurde. Demeentsprechend habe ich immer mal wieder Gegenwind, mal Rückenwind. Oft seitlich. Es ist nicht mehr so heiß wie tags zuvor. Ein gutes Radelklima also. Bis zum Drei-laute-Herren-Kipppunkt, würde ich sagen, bin ich misanthropisch, nerven mich jedwede Menschen, halte ich mich wortkarg zurück, meide Kontakt. Ein kurzer Gruß hin und wieder, ein nettes Palim Palim für diejenigen, die die Fahrradklingel nicht hören. Mehr ist nicht drin an diesem Morgen. Die Stimmung entsprechend lethargisch. Ich bin nicht überzeugt vom Tag, von der Tour, von mir. Sinniere, was das Ganze soll, dennoch wachen Auges, Fotos und Filme mit der Gopro und auch ein paar Videologs. Am meisten sinniere ich, warum ich nicht darüber schreibe. Die Antwort: Das ist Urlaub. Echter Urlaub ohne Pflichten. Dennoch finde ich es schade, dass ich die vielen kleinen täglichen Erlebnisse eben nur erlebe, sie nicht festhalte in schriftlicher Form und mein Glaube an das Video-geloggte Wort ist noch nicht gefestigt. Es ist etwas anderes, ob du etwas schriftlich notierst oder es aufs Band sprichst.

Finde ich. Nach Birkenprassellautmänner-Kipppunkt gehts besser. Ich stemme mich gegen den moderaten meist Gegenwind nun. Seit Hann. Münden ist die Fulda zur Weser geworden. Scherzhaft frage ich mich, warum man nicht einfach eine Mauer zwischen der Werra und der Fuld gebaut hat, denn dann könnten beide ihre Identität bis zum Meer wahren und als Werra und Fulda dort ankommen. Analogie mit innerem Augenzwinkern zum menschlichen Hang, sinnlos Grenzen zu erreichten, jaja, darüber mal eine böse Kurzgeschichte schreiben, aber egal, bin doch Urlaub.

In Hann. Münden muss ich mich auch entscheiden, welche Seite des Flusses ich abwärts radele. Beide Seiten haben Radwege. An der Kreuzung sehen beide Möglichkeiten eher unverlockend aus, führen durch Industrie und Gewerbegebiete. Ich entscheide mich auf der Brücke über die Weser noch einmal schnell um und nehme den linksseitigen Radweg. Blick zurück nach Hann. Münden, das wahrscheinlich schön ist, aber meine Route hatte mich daran vorbei geführt. Eine Fußgängerbrücke aus Eisenfachwerk hinüber zu den Inseln zwischen Weser, kleiner Weser, Werra und Fulda war gesperrt und ich bin, wie erwähnt ja auch auf Misanthropietrip an diesem Tag. Da kann man nichts leiden.

Bundesstraßenradweg. Ich kenne es seit Hanau. Eine hessische Spezialität. Zumindest hatte ich bisher oft das Pech, zwar recht gute, aber direkt neben Bundesstraßen verlaufende Radwege zu erwischen. Ich schufte bis Lippoldstadter Fähre. Beim Anleger eine Bude mit Eisverkauf, Wurst in Dosen, Honig. Pause. Regenschauer. Ein Mann mäht, stoppt den Mäher, macht Kaffeepause. Er soll sich als Fährmann herausstellen und letztlich als Richtungsweiser, denn just radelt ein Paar heran, will zur Fähre, doch eine Tafel sagt unmissverständlich, dass die Fähre nur samstags verkehrt. Der Radlerpaarmann geht trotzdem zum Rasenmähmann, um sich zu erkundigen wie wo was und schon kommen sie zurück, ausnahmsweise würde er sie rüber bringen, ob ich mit will? Wo ists schöner zu radeln, frage ich, drüben sagen alle, nur gibts da eine 25 Prozent Steigung am Weg … na Herr Irgendlink, irgendwohin vielleicht?

Tu immer das, was fremde Radlerpaare und Fährmänner sagen. Ich fahre mit auf der schönen alten Seilfähre. Der Fährmann hat sie ein Leben lang betrieben. Nun ist er in Rente.

Der Radlermann versucht mich zum Abschied noch zum freichristlichen Glauben zu überzeugen – schon der zweite Mensch, Andreas, den ich zwischen Rüsselsheim und Frankfurt am Rheinradweg traf, wollte mich ebenfalls bekehren.

Drüben ists tatsächlich schöner. Keine Bundesstraße vor allem. Die 25 Prozent Steigung ist nur etwa 250 Meter lang. Alles andere geht als normal durch. In einem Dorf vor einer kleinen Traktorwerkstatt stehen noch zwei Oldteimer herum, die ich fotografiere. Wärste früher gekommen, hättste 25 Stück sehen können, sagt der Werkstätter. Es war nämlich Traktortüv heute. Nur die beiden sind noch nicht abgeholt worden. Einer der Traktoren ist ein Fahr, der andere eine Marke die ich nicht kenne, Typ Spessart.

Alle Traktoren haben übrigens bestanden.

Bad Karlshafen. Wasser bei einem Jungen geholt, der gerade sein Auto belud. Dann weiter und wieder auf die andere Seite. Die Lagerplatzsuche gestaltete sich insofern etwas kompliziert, dass es überall Campingplätze gibt. Zweischneidige Sache. Ich möchte nicht direkt daneben wildzelten, möchte aber auch nicht zwischen rumpelnden Wohnmobilen das einzige Zelt sein. In Beverungen beim Kanuclub sah es recht gemütlich aus, getrennte Plätze für die Zeltenden und die Campervans.

Dennoch radele ich weiter, Höxter nicht mehr weit. In Wehrden ein sauberes WC und 1,3 Kilometer weiter eine Hütte.

 

Männer, die nie ihr Geschirr selbst spülen mussten

Beitragsentwurf vom ersten Juni 2025, bearbeitet 21. Oktober 2025

„Die Welt krankt an alten weißen Männern, die im Stehen pinkeln …“, postuliere ich, „… und die ihr Geschirr nicht selbst spülen müssen und nie ein Klo geputzt haben.“ – „Nein nein, das ist abgeschmackt“, mildere ich mein Urteil, „nenn‘ sie nicht alte weiße Männer, denn das ist genau das, was sie wollen. Dann können sie schön in ihre Opferrolle schlüpfen, während sie röhrenden Auspuffs mit wehendem grauem Haar in ihren Cabrios in den Sonnenuntergang brausen. ‚Typen‘ reicht vollkommen. Ignorante Autoritaristen. Und ja, es sind fast immer Männer.“

Meine Hände im warmen Wasser der Spülschüssel. Licht in der Küche schummert. Das Becken ist voller Geschirr. Wasser schäumt. Zwischen Schüsselchen, Tellern, Besteck und ein paar Konservengläsern schwimmt eine Bürste und ein Schruppschwamm. Ich weiß gar nicht, was ich zuerst spülen soll. Greife ein Messer, dann einen Kaffeelöffel, dann die hölzerne Kelle, an der die Nudelreste vertrocknet sind, scheitere an der Kelle, lege sie zum Einweichen zurück, nehme eine kleine gläserne Schüssel, in der eingetrocknetes Mehl sich noch nicht lösen will, scheitere auch damit, greife ein paar weitere Gegenstände vom Spülstapel, der seit Tagen steht, lege sie ins Wasser und erkenne.

Genau so sieht mein Hirn aus. Voller Gedanken, die alle gleichzeitig als Ketten von Seins und Tuns laufen. Im Hintergrund ein geheimisvoller cerebraler Peitschenschwinger, der die Herde antreibt, los, voran, macht schon, ohne zu erkennen, das ein jedes dieser zarten Gedankentierchen, die den Karren ziehen, seinen Raum braucht, seine Zeit, seine Aufmerksamkeit, um aus dem Chaos erlöst zu werden, um zu Ende gedacht zu werden.

Ich kann mich nicht konzentrieren. Beginne einen Blogartikel zu denken über alte weiße Männer, die ihr Klo nie selbst putzten, stelle mir diese Männer vor wie frisch Gewählte, die ihr Hitlerbärtchen frei auf der Stirn tragen, schmunzele, da kommt mir die unverputzte Wand im Keller der Frau Mama in den Sinn, „Mann, Mann, Mann, da müsstste doch auch mal dran arbeiten!“ Stelle mir vor, wie ich das Spezialgemisch an isolierendem Schlämmputz anmische, zuvor mich in Schutzkleidung, Brille, Staubmaske etc. gehüllt habe, die Mischung genau abwiege … herrjeh, dieser Gedankengang verliert sich auch wie so viele, ohne dass der dazu nötige Körper je in Betrieb genommen würde. Ein Reisekunstprojekt im Sommer drängt sich nach vorne, will geplant, gedacht und auf Möglichkeit geprüft werden. Auch dieser Gedankengang reißt ab. Zu groß. Ebenso wie verwaltungstechnisches Zeug, das mich ohnehin anekelt zu denken und zu tun. Dann schon lieber Geschirr spülen.

Zeit Zeit Zeit. Alles kostet Zeit. Kostet, schreibs in Anführungszeichen „KOSTET“, so weit ist es schon, dass du rechnest, Mann.

Wozu wozu wozu? Lass fließen. Hab Geduld. Nur so kannst du dem Chaos in deiner cerebralen Spülschüssel Herr werden. Wie auch in der echten.

Männer, die nie ihr Geschirr selbst spülen mussten. Geschweige denn den Tisch abräumen. Arrogante Kreditkartenzücker, die sich mit anderen arroganten Kreditkartenzückern auf Restauranttoiletten treffen, um sich stehend an Urinalen zu vergleichen: die Güte ihrer Anzüge. Armbanduhren blitzen. Scharf klingt ein Autoschlüssel in der Jackentasche, womöglich. Oberflächliche Gespräche zwischen Waschtisch und Toilette. Und dann zurück zum Tisch, wo das Frauchen wartet oder die Geschäftspartner, die Geliebte, ein Kreditgeber oder ein paar arme angestellte Hansels, die man mal beeindrucken wollte.

Mittlerweile ist das Spülwasser nur noch lauwarm. Ich werde es wechseln müssen. Es taugt bestenfalls noch als Vorspülwasser. Nehme in den eingetrockneten Töpfen je ein bisschen des Wassers, und entledige mich des Geschirrs, das ich als sauber gelten lasse rüber auf das Abtropfgestell. Bevor ich weiter mache, muss der Boiler erst aufheizen, kann ich ein bisschen abtrocknen und Platz schaffen auf dem Gestell, kann das lauwarme Spülwasser in den schwer zu bewältigenden, eingetrockneten Töpfen wirken, kann ich eigentlich auch unterbrechen und das finale Rettungsspülen auf ein Andermal vertagen.

Wie so ein Parallelgedanke über eine zu verputzende Wand, der Hand in Hand läuft mit einem Gedanken zu sommerlichem Reisekunstplan und anderen wichtigen Gedanken.

Mein Hirn ist eine Spülschüssel, in der das Wasser schmutzt und kühlt und es funktioniert deshalb nicht mehr richtig und ich muss alles rausräumen und neu einrichten und das geht am besten beim Radfahren, beim Ausüben einer linearen Tätigkeit, in der Eins aufs Andere folgt, Kilometer um Kilometer, Kreuzung um Kreuzung, Bergetappe um Bergetappe.

Dies ist der Beginn meiner Radeltherapie. Paar Tage her, dass ich die Spülschüssel leerräumte, ein paar Töpfe nur noch stehen ließ, das Radel sattelte und längere Tagestouren machte. Die erste, ringst um Pirmasens, war hektisch, Vatertag wars, die Welt ohnehin grundaggressiv, alkohlgetränkte Bollerwagenarmada, die aber mitten im Pfälzer Wald sich verlor oder gar nicht existierte. Je pfälzer der Wald, desto freundlicher die Menschen, postulierte ich.

Kehrte abends heim mit 140 Kilometern in den Beinen, erschöpft glücklich. Diagnostizierte da erst mein Spülschüssel-Hirn-Syndrom, beschloss, weiter zu machen und über allem gaukelte das Mies der Welt, die falschen am Ruder, aber daran kann ich ja nichts ändern. Betonköpfe, die rückwärtsgewandt eine fossile Ära hochleben lassen und alles Neue abwürgen. Typen, nenn sie Typen, die im Stehen pinkeln und sich des feinen Urinsprühs nicht bewusst sind, der die schneeweißen Hochglanzfliesen ihres Badezimmers benetzt und der sich zu einer klebrigen Kruste schichten würde. Typen, die nie Geschirr spülen mussten, weil sie arme Teufel dafür bezahlen, den Schmutz zu beseitigen. Das Geschirr. Die Urinsteine …

 

Lebenszeichen – Akte Irgendlink

Herrje, ein Lebenszeichen: Ich bin noch am Ball und denke über das Bloggen nach.

Momentan ist viel Arbeit angesagt im und ums heimische Atelier. Garten, Brennholz. Aufräumen. Wände verputzen, Türen einbauen. Johannisbeeren beim Wachsen zuschauen. Die Welt in Ordnung bringen.

Das Nichtverzweifeln ob der Großweltlage kostet auch Kraft.

Positives: Eine Künstleredition der Galerie Beck habe ich vorgestern signiert. Mann Mann Mann, drei Stunden lang den eigenen Namen schreiben und mit der Nummerierung der 45 mal 25(?) Einzelblätter nicht verhaspeln – ich hatte ernsthaft überlegt, mir den Künstlernamen Bo zuzulegen, damit es ein bisschen schneller geht mit Signieren. Und beidhändig schreiben lernen wie die Fernsehkommisarin Marie Brand.

Eine Retrospektive meiner 30-jährigen Kunstarbeit gibts nächstes Jahr im März. Arbeitstitel „Akte Irgendlink“.

Ans Kap werde ich wohl auch dieses Jahr nicht reisen können.

Blogartikel folgen wenn das Wetter wieder schlechter wird oder ich doch noch den Hintern in den Fahrradsattel schwingen kann.

Nachtrag: Ich wusste, dass da mal was war mit „Bo“, lange ist’s her: Nenn mich Bob für 8,50 die Nacht

 

Dieser Tage – Verbuddeln des seit Jahren Unverbuddelbaren

Dieser Tage. Also Anfang März, das sei für die Akten gesagt, falls Zukunft A eintritt. Dieser Tage fiel die Entscheidung für eine Radreise mit Open End und Open Ziel. Grob ist die Richtung, nordwärts, angedacht. Grob ist der 17. Juni als Starttag angedacht. Nein, ziemlich exakt.

Der 17. Juni ist ein besonerer Tag für den Radareisenden in mir. Er ist die Wiege meiner Radtouren- Leidenschaft. Die ersten Radreisen von der Nordpfalz zum Bodensee, gemeinsam mit meinem Vater und Freunden, starteten wir meist in der 17.-Juni-Woche, also um jenen ehemaligen Feiertag der BRD, der sich Tag der Deutschen Einheit nannte.

Der 17. Juni ist eigentlich zu spät, um mein – grob – geliebäugeltes Ziel zu erreichen, den Polarkreis bei Mitternachtssonne zu überqueren. Aber egal. Ich habe in den letzten Monaten geübt, suboptimale Lebens- und Arbeits- und Vorankommensbedingungen zu durchstehen. Ein Springen über den inneren Schatten des Perfektionismus, der mich mein Leben lang schon ausbremst. Und wenn es nicht der 9. Mai werden kann, die Tour ohne Ziel und mit offenem Ende nordwärts zu starten, so bin ich auch mit dem 17. Juni zufrieden und ich bin sogar damit zufrieden, einfach daheim zu bleiben. Denn ich habe genug erlebt. Alle Ziele sind erreicht. Es gibt eigentlich nichts mehr zu tun für mich als das Leben so gut es geht zu genießen. Und Neugier. Aber ohne Gestaltungswillen.

Das Ende des Gestaltungswillens ist auch ein Neuanfang, in eine Laissez-faire Phase einzutreten und sich von der Gegenwart überraschen zu lassen. Ja, vielleicht ist so das echte, tiefe, unillusorische, nicht von anderen Zeitmodi verstellte Erlebnis von Gegenwart erst möglich? Ich weiß es nicht.

Ich glaube, ich bin seltsam in einem Zustand guten Vorankommens. Selbst wenn ich auf der Stelle trete und mich an Kleinigkeiten aufhalte, treffe ich Entscheidungen oder lasse sie einfach fallen und handele danach, mache dabei Abstriche an mein Selbst an meine im Lauf der Zeit angewöhnten Ansprüche, an die So-sollte-es-seins. Das ist gar nicht mal so übel. Im Tausch Schluderei-und-weiter gegen stehen-bleiben und grübeln, wie ich dieses oder jenes Problem am einfachsten löse, komme ich unversehens voran. Es fühlt sich gut an, längst liegen Gebliebenes einfach zu erledigen.

Letzte Woche war sicher ein Meilenstein. Seit Jahren steht ein Wassertank im Hof der Frau Mama, den wir schon immer mal eingraben wollten. Also eigentlich sollte ich das tun. Ein 6,5 Kubikmeter großes schwarzes Monster. Die Modalitäten, wie es begraben wird, sind schon seit Anbeginn klar: Bagger mieten Loch graben, Monster rein, zuschaufeln. Aber mach das mal, wenn du es noch nie gemacht hast und nur eine vage Idee hast, wie es geht. In Gedanken habe ich das Ding schon hundert mal vergraben.

Dieser Tage zog eine wandernde Baustelle am Hof der Mama vorbei. Fünf Männer verlegten Glasfaser mit zwei Baggern, Rüttler, kleinen LKWs. Brachiale Kerle, die ordentlich ranklotzen. Also frag ich mich samstags zum Polier durch, ob sie nicht Kapazität hätten, mal eben schnell ein Loch …? Zack. Nachmittags nach der Schicht rücken sie an, und verbuddeln das Ding.

Das Verbuddeln der großen scharzen Monsters, des seit Jahren Unverbuddelbaren bringt eine Art Lawine ins rollen. Von Fleiß und Ehrgeiz gepackt nehme ich weitere kosmetische Operationen am einsamen Gehöft vor, und auch in der Künstlerei bin ich fleißig. Schneide einen Kunstfilm, räume Datenspeicher auf, rette den PC der Liebsten und und und. Ich kann gar nicht glauben, wie flott das alles geht. Fast gerate ich in einen Schaffensrausch. So müssen sich Bluthunde fühlen, wenn sie das Eisen im Saft riechen. Runter zum Waldrand, zwei im Winter bereit gelegte Eichenstämme hochschleppen, Brennholz, Brennholz, Brennholz immer wieder.

Ich will nicht zu sehr ins Detail gehen. Wichtig ist, dass vieles geschieht auf engstem Raum und in engster Zeit und auf einer zweiten Schicht meines Daseins gaukelt auch wieder die Reisekunstlust. Ja ja. Anfang März wurde der Grundstein gelegt, so vermerke ich es hiermit als Aktennotiz. Der Sommer wird zeigen, ob ich tatsächlich aufbreche.

Vermutlich bin ich gerade in einem quantenphysischen Wechselzustand, in dem mehrere Zustände gleichzeitig stattfinden, bis sich einer am Ende durchsetzt?

Wichtig ist, einfach drauflos, merke ich.

Das gilt auch für diesen Artikel, den ich nicht beabsichtigte zu schreiben, der mir eigentlich zu grob und unreif scheint, aber im Nachhinein muss ich sagen, klar wird der veröffentlicht! Wichtig ist doch auch, für die eigene Dokumentation zu arbeiten. Falls einem doch einmal etwas Bahnbrechendes gelingt, man plötzlich gefragt wäre auf dem Markt, sind die Chronistinnen und Chronisten froh, auch solche Tagebucheinträge zu finden?

Ich hab nichts zu verlieren. Das Blog ist frei. Niemand muss es lesen und nur einer, nämlich ich, muss es schreiben.

Dir, der Du bis hierher last, sei gedankt.

 

Das Skagen des desolaten Gemütszustands | Von Morgenangst und Abendmut

Die Träume sind wild dieser Tage. Ich glaube, irgendwann trete ich die endgültige Flucht ins eigene Ich an und komme nie wieder raus. Ich bleibe im Traum. Das Leben im Traum ist jedoch selten leicht. Oft erwache ich mit einem unheimlichen Schwerlastdruck, einem Kratzen an kryptonisch harter unüberwindbarer Mauer mit einem Schuss Gewissheit, dass das große Ganze da draußen eine Allmachtsposition angenommen hat. Ich nenne es die Morgenangst. Im Traum selbst ist die Angst zwar auch real, aber es gibt im Traum keine Nichtangst, die man als Messlatte verwenden könnte.

Ein bisschen erinnert mich das an die Zeit des kalten Kriegs. An das ewige Ausbleiben der finalen Katastrophe, von der man ab den 1990er Jahren erleichtert das Gefühl hatte, es ist vorbei, nichts kann mehr passieren. Die Welt ist marod, aber wir können sie reparieren. Ich glaube, es gab ein zwei Jahrzehnte Hoffnung. Unbeschwertheit.

Wenn man in Dänemarks Norden, in Skagen ein paar Kilometer durch die Sanddünen läuft bis zur äußersten nördlichen Spitze Jütlands, blickt man auf ein beeindruckendes Schauspiel zweier Meere, die sich nicht vereinen können. links, im Westen die Nordsee, rechts die Ostsee. Die Wellen schwappen von hie nach da und von da nach hie, aber wegen des unterschiedlichen Salzgehalts fällt es den beiden Wassern schwer, sich zu vermischen. Ein wunderbares Bild für mein Gefühl der Morgenangst, das sich tagsüber mit dem auch existenten Gefühl des Abendmuts mischen will. Halbherzig, schwer mischbar, unneutralisierbar, so dass ein Status Quo zwischen diesen meinen beiden Gemütszuständen nicht möglich ist. Seltsam, dass mir das erst jetzt klar wird. Ich bin dieser Tage wie in den 1980ern. No Future auf gutbürgerlichem Fundament, nicht frech genug Punk zu sein, nicht angepasst genug, im sicheren Schwamm der Gesellschaft aufgesogen zu werden. Ich bin eine Chimäre, ein unmögliches Halbwesen.

Als Irgend Link eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einer ungeheuren Oma gegen Rechts verwandelt.

Ganz ehrlich? Im Nachhinein scheint mir der Kalte Krieg mit Wettrüstung und stets über uns gaukelnden, damoklesken Atombomben wie ein Theaterstück, dem man zuschaut, es endet und man geht mit gemischten Gefühlen raus.

Ja, man ging raus und man hat überlebt. Die Katastrophe blieb aus. Mag sein, dass ich das nur nachträglich schöne und deshalb die jetzige Situation mit ebenso damoklesk gaukelnden Atombomben um so bedrohlicher erscheint.

Ich vermute jedoch, dass jetzt und heute ganz anders ist. Unberechenbarer Autoritarismus, gedeckt von milliardenschweren empathielosen Egoisten, die die Weltbevölkerungen als ihr Melkvieh ansehen, das sie über die Jahrzehnte auf leicht beeinflussbaren Konsumdrang eingeschworen haben. Ganz ehrlich, machmal wünsche ich mir einen weltweiten solidarischen Konsumstreik, der die Sümpfe der Weltenmelkenden ein für alle Mal trocken legt. Welch schöne Utopie? Illusion? Na, jedenfalls ganz und gar unrealistisch. Selbst ich, der fast ohne Geld lebt, habe es schwer, es zu 100 Prozent umzusetzen. Wer verzichtet schon gerne auf seine Krankenversicherung, seinen Mobilfunk. Die Blogs hosten sich leider auch nicht kostenlos …

Im Skagen meines allgemein desolaten Gemütszustands spaziere ich jeden Tag hinauf zu Spitze wo sich die Meere der Morgenangst versuchen zu mischen mit den Wassern des Abendmuts. Vergebens. Dieses mein Skagen des desolaten Gemütszustands ist ein dystopischer Ort. Am Ostmeer des Muts stehen alte Betonbunker, sieht man die Tanker auf dem Weg zu fremden Häfen, Mut und Aufbruch, uralte Bunker, die im Sand versinken, die seit bald einem Jahrhundert keinen Krieg mehr gesehen haben und an deren Wänden sich Tang verfängt, Einsiedlerkrebse verlassen ihre zu klein gewordenen Muscheln und schlüpfen in alte Getränkedosen, toter Fisch, Netz und Strandgut, die See ist blaugrün. Eine gerade Linie nordwärts zeichnet sich ab. Beide Wasser züngeln. Links die kalte, salzhaltige Nordsee. Nordwestwind wirbelt Sandwolken über die Meerzunge, vernebelt die Sicht. Schemenhaft fahren von Pferden gezogene Touristenkutschen so weit es geht über einen festgefahrenen Weg durch die Dünen. Die Menschen steigen aus, frösteln, schießen ihr Foto, gehen zurück zur Kutsche, die sie zum Infozentrum bringt. Ansichtskartenkauf und Leckeis. Ich verloren da draußen.

Der Abendmut, muss ich sagen, ist vorzüglich. Ein wirklicher und echter und wahrhaftiger und kraft spendender Mut. Er bringt Weitsicht. Er teilt den Nebel. Er macht den Beobachter in mir zum Akteur. Jaja, der Abendmut dieser Tage ist wirklich etwas Feines.

Ich bin zwei Öltanks. (*)

Zwei Ichs überlagern sich in mir. Das kann ich nicht erklären. Ich lebe in Spaltung.

* Der Satz fiel mir ein, weil ich kürzlich mit der Bahn am Dorf Gensingen in Rheinhessen vorbei fuhr. Damals in den atomar damoklesken 1980er Jahren gab es ein großes Öltankgebilde am Ortsrand, auf dem der Schriftzug „Ich bin zwei Öltanks“ zu lesen war. Damals wunderte ich mich. Heute denke ich nach.