In einem zeitfreien Land jenseits der Hopplahopp-Gesellschaft – #Umsland

In den 1980er und 1990er Jahren gab es eine Legende von einem Indianervolk, die man sich erzählte. Die Menschen arbeiteten in kleinen Gruppen zusammen auf ihren Feldern. Einzelne Familien lebten, Tagesmärsche voneinander entfernt, in unwegsamem Gelände. Wenn eine Familie eine andere besuchen wollte, machte sie sich irgendwann auf den Weg über Stock und Stein, bis sie am Ziel war, wo die Freunde auf den Feldern arbeiteten. Die Ankömmlinge setzten sich am Rande der Felder auf Baumstämme und warteten, bis die Arbeitenden mit ihrer Arbeit fertig waren. Erst dann begrüßten sich die Menschen. Das Fest begann.
Die Legende hatte mir ein Gefühl des in sich Ruhens vermittelt. Des so sollte es seins. Des du befindest dich in einem schönen, zeitfreien Land jenseits der Hopplahopp-Gesellschaft, in der man immer und überall für jeden verfügbar sein muss. Menschen, die andere Menschen in ihrem Kontinuum bestehen lassen, ohne sie zu überfallen und aus ihrer natürlichen Tätigkeit herauszureißen. Genauso muss Schaffen sein. Einswerden mit dem Moment, dachte ich mir.
Ich weiß nicht, ob diese Geschichte wahr ist. Mit dem Abstand jahrzehntelangen westlich zivilisierten Gesellschaftsgebarens kommt sie mir mittlerweile ziemlich hanebüchen vor. Wir leben in einer streng getakteten Hopplahopp-Welt, in der alles und jedes gezählt wird, berechnet, vergolten, und in der es eigentlich kein einziges unbezahltes Ding mehr gibt und auch keine einzige unterminierte Lebensminute. Wir sind kollektiv eingebunden in ein Zeitkorsett, aus dem es kein Entrinnen gibt. Immer wenn ein Ereignis stattfindet, ist in einer Bedingungsschleife schon das nächste Ereignis vorprogrammiert. Der Lebensfahrplan im Streckennetz der Gesellschaft ist streng getaktet und erlaubt keine Verspätung.
Irgendwann früh am heutigen Tag gibt es Komplikationen und ich muss den Tagesplan ändern, ein paar Pufferminuten habe ich, aber um 14 Uhr bin ich verabredet. Ein Team des Südwestrundfunks hat sich angesagt, um mehr über meine Reise – per Fahrrad rund um Rheinland-Pfalz – zu erfahren und eigentlich sollte die Reise ja heute starten, so will es mein selbst auferlegter Plan, zu sehen zwei Blogartikel zuvor.
Dann kommt alles anders. Morgens muss ich zwei Mal runter in die Stadt, rennen, takten, telefonieren, hetzen, aber es gelingt mir, Ruhe zu bewahren und die Erinnerung an die alte Legende wird plötzlich wach. Bildlich sehe ich die beiden Indianerfamilien, wie sie sich besuchen und ganz behutsam ihre Zeittaktungen einander angleichen, bis sie beide ähnliche Geschwindigkeiten haben, bereit sind füreinander. Ja, so sollte es sein, sage ich mir, stelle die Parkscheibe, verlasse das Auto, erledige etwas und fahre wieder nach Hause. Gerade so schaffe ich es, ins Atelier zurückzukehren und das Fernsehteam hat sich auch ein paar Minuten verspätet. Unser Zeittakt ist synchron. Purer Zufall. Glück.

Es regnet. Ohnehin kein gutes Omen, um mit dem Fahrrad aufzubrechen. Der Termin mit dem Fernsehteam dauert länger als erwartet. Plötzlich ist es fünf Uhr nachmittags, viel zu spät, um noch loszuradeln und eigentlich auch gerade recht. Überall spritzt Wasser. Bei überall spritzendem Wasser eine Radreise zu beginnen, wäre pure Selbstkasteiung.
Den lieben langen Tag schwingt die Legende mit vom indigenen Volk, das sich die Zeitblasen ihrer jeweiligen Kontinuen beobachtend (ist das richtig, Mehrzahl von Kontinuum?) Baumstamm sitzend, einander angleichend wartet. Ich habe gar kein so schlechtes Gewissen, dass das richtige Leben vom insgeheim geplanten Leben ein bisschen abweicht.
Der Fernsehdreh war ungemein entspannt – an dieser Stelle herzlichen Dank Euch drei Rackern und Rackerinnen, H. und A. und E. aus Mainz. Es hat mir große Freude gemacht und ich habe viel gelernt.

Facts about Kunststraßen 7

Kapschnitt Konzeptkunst Ausstellung

Eine Vernissage ohne Licht. Ausgerechnet vor der ersten Ausstellung einer Kunststraße fiel der Strom in der Galerie aus. Im knapp 150 qm großen Galerieraum im zweiten Kellergeschoß der Galerie Walpodenstraße war es im Dezember 1995 zappenduster, als der erste, verfrühte Gast auftauchte. Künstlerkollege Sven Schalenberg bekam kurzerhand eine Taschenlampe in die Hand gedrückt und konnte an der über hundert Meter langen Konstruktion, auf der die Straßenfotos von Mainz nach Norwegen montiert waren den ‚Kapschnitt‘ zu Fuß erkunden.

Dem Hausmeister gelang es erst wenige Minuten vor der offiziellen Eröffnung, den Stromausfall zu beheben.

Facts about Kunststraßen 6

In den ersten Jahren des konzeptuellen Kunststraßenbaus führten die Strecken über lange Distanzen auf Fahrradreisen kreuz und quer durch Europa und Deutschland. Norwegen, Schweden, Finnland, Irland und Spanien waren die angepeilten Ziele. In Abständen von zehn Kilometern fotografierte ich die bereiste Strecke, stets den Blick Richtung Reiseziel gerichtet.

Die kurzen Strecken kommen.

Was in der Ferne geht, geht auch daheim, dachte ich mir irgendwann und begann auf Spaziergängen, etwa von Mainz nach Wiesbaden, Fotostrecken zu erwandern. Die Bildabstände schrumpften von zehn Kilometern auf zum Beispiel 120 Doppelschritte (ca. 80 Meter). Auf zahlreichen Postrouten in Rheinhessen fotografierte ich den Weg in 1 Kilometer-Abständen. Einige dieser Konzeptkunststraßen wurden in Mainz und Wiesbaden ausgestellt, viele liegen noch heute unveröffentlich im Negativarchiv.

2001 entstand die Kunststraße 11 (Kelf) als Rauminstallation auf einem eigens reservierten Parkdeck in einem Zweibrücker Parkhaus. Sie dokumentiert den Weg vom Flugplatz Zweibrücken zur Fachhochschule. Die beiden Gebiete waren Konversionsprojekte. Ehemalige militärische Objekte wurden in zivil nutzbare Gebiete umgewandelt. Das Projekt Kelf wurde vom Kultursommer Rheinland-Pfalz und der Stadt Zweibrücken unterstützt.

Facts about Kunststraßen 5

Die Einladungskarten zu den ersten Kunststraßen-Fotoinstallationen waren Handabzüge im Format DIN lang. Je drei unterschiedliche Motive passten auf ein Stück Fotopapier. Ich nutzte Negativstreifen aus der Kunststraßenserie, die mit Tesafilm auf bedruckte Folie geklebt wurden. Der Einladungstext wurde zuvor per Tintentstrahldrucker drei mal an die entsprechenden Stellen gedruckt. Logischerweise musste ich drei verschiedene Negativstreifen benutzen, um einen Kontaktabzug zu bestücken. Die einzelnen Karten wurden per Schlagschere aus dem etwa A 4 großen Blatt geschnitten.

Somit gibt es von den drei wichtigsten Ausstellungen der ersten Jahre eine geringe Stückzahl von handabgezogenen echten Fotos, die als Einladungskarte verschickt wurden. Die Rückseiten waren mit Etiketten aus Papier versehen.

Es würde mich interessieren, ob der ein oder andere die Einladung aufgehoben hat.

Einladungskarte schwarz-weiß mit Datum und Text zur Ausstellung Kapschnitt und Kontaktabzügen von fünf Straßenfotos
Motiv 1/3 für die Einladungskarte zur Konzeptkunstausstellung Kapschnitt in der Galerie Walpodenstraße (Mainz) 1995. Der Negativstreifen ist auf dem Rennsteig, nördlich von Oberhof entstanden. Bei einem Remake des Kapschnitt 2015  – zwanzig Jahre später – radelte ich nicht die Landstraße, sondern Radwege bis hinauf zur ‚Höhe des Gebirgs‘. Die beiden anderen Versionen der Einladungskarte zeigen Kunststraßenfotos aus Mittelschweden (km 1200 etwa) und aus Lappland (km 2400 etwa). Die Tour ‚AnsKap‘ im Jahr 2015 wurde in diesem Blog live geschrieben und fotografiert. Sie finden Sie verlinkt unter dem Menüpunkt ‚Projekte‘.

Facts about Kunststraßen 4

Die Idee, eine Reise künstlerisch fotografisch umzusetzen, indem der bereiste Weg in regelmäßigen Abständen fotografiert wird, entstand im Sommer 1994. Geplant war, die Strecke Mainz – Berlin in 10-km Stücke zu zerlegen und Fotos stets in Richtung Reiseziel, dem Fluchtpunkt des bereisten Weges folgend zu fotografieren. Der Plan scheiterte und nur ein etwa 300 km langer Rundkurs per Rad über Frankfurt und Fulda um den Vogelsberg schlummert seither in den Schwarz-Weiß Archiven.

Was wie eine Vorwegnahme von Googles Streetview anmutet, sollte sich in den folgenden Jahren zu einem europaweiten „Kunststraßennetz“ entwickeln und in konzeptuellen Rauminstallationen in verschiedenen Galerien in Mainz, Köln, Wiesbaden, Fürth gezeigt werden.

Liste der Kunststraßen seit 1994

1. Vogelsberg-Schnitt. Per Rad zusammen mit Paul Esser-Kukulka (genannt QQlka), Co-Künstler auf zahlreichen Kunststraßen und Galerist. Etwa 300 km rund um den hessischen Vogelsberg.
2. Kapschnitt 1995. Von Mainz nach Alta per Fahrrad. 360 Fotos im Abstand von 10 km, realisiert als Rauminstallation in der Galerie Walpodenstraße in Mainz
3. Murphy’s Pub Schnitt 1996. Von Mainz über Paris zu den Cliffs of Moher in Irland. Ausgestellt in mainz und auf der Kölnmesse Intercycle Cologne. (Anmerkung: der Begriff ‚Schnitt‘ ist der Bauplanung von Straßen entwendet. Eine Straßenplanung besteht u. A. aus sogenannten Schnittzeichnungen, Längs – und Querschnitten, die ein Höhenprofil der geplanten Strecke zeigen).
4. Mainz-Weikersheim-Fürth 1996. Entlang des Mains nach Franken per Rad. Abstand der Fotostandorte 5 km. Ausstellungen in Mainz, Weikersheim und Fürth bei Nürnberg.
5. Mainz-Dijon 1997. Radtour zwischen den Partnerstädten Mainz und Dijon. Bildabstand unregelmäßig. Unveröffentlicht.
6. Mainz-Wiesbaden 1998. Fußweg, Bildabstand 80 Doppelschritte. Ausgestellt im Kulturzentrum Schlachthof und im Kultureck.
7. Postrouten in Rheinhessen 1997-1998. Diverse Postrouten rund um Mainz vom Beifahrersitz eines Postautos in Abständen von 1km. Unveröffentlicht.
8. Zweibrücken-Andorra. Nach dem Umzug von Mainz nach Zweibrücken radelt Jürgen Rinck quer durch Frankreich bis nach Andorra. Bildabstand 10 km. Erstveröffentlichung im Jahr 2010 zusammen mit einem Remake der Reise.
9. Kelf – Kunststraße 11 im Kultursommer 2001. Für „Stadt Land Fluss“, Motto des rheinland-pfälzischen Kultursommers realisiert Rinck eine 9 km lange Kunststraße zu Fuß mit Bildabständen von 80 Doppelschritten quer durch seine Heimatstadt. Die Strecke verbindet die beiden Konversionsgebiete Flugplatz (ehemlige Kanadische Airbase) und Kreuzberg (ehemalige US Kaserne). das Projekt wird gefördert durch den Kultursommer Rheinland-Pfalz und die Stadt Zweibrücken. Die Konzeptausstellung ist im Mai 2001 im Parkhaus hallplatz als Drive-In Ausstellung zu sehen.
10. Rund um die Schweiz 2001. Auf dem gut ausgebauten schweizer Fernradwegenetz von Travers im Jura über Lausanne, Brig, Chur bis nach Basel. Fotoabstände 10 km. Unveröffentlicht.
11. Zweibrücken-Travers 2002. Per rad durch Vogesen und Jura zu besuch bei dem Schweizer Künstler und Mentor Marc Kuhn. Fotoabstand unregelmäßig. Unveröffentlicht
12. Travers-Zweibrücken 2004. Unterwegs per Rad zusammen mit Co-Künstler QQlka. Unveröffentlicht
13. Landau-Zweibrücken 2005. Per Rad an Queich und Schwarzbach. Bildabstand 1 km. Erstmals werden die Fotostandorte mit GPS markiert. Ausstellung im Rahmen des Kultursommers Rheinland-Pfalz (Förderung zum Thema Kunst und Wissenschaft). Zusammen mit dem Pariser Künstler Stephane Jeanneau.
14. Bliestallabyrinth 2007. Ein 42 km langer Fußweg durch die Saarpfalz. Bildabstände sind so gestaltet, dass man im jeweils vorigen Bild den Standort des nächsten Bildes erkennt. Die Ausstellung wurde auf Einladung der Galerie M. Beck in Homburg Schwarzenacker realisiert. Anlässlich ihres 40jährigen Bestehens. Sie stellt die direkte Fortzsetzung von Zweibrücken-Landau dar. Zur Ausstellung ist eine limitierte Edition erschienen (Anfragen per mail oder bei Galerie M. Beck). http://europenner.de/blieslab (Login „gast“ / „ingweiler“)
15. Zweibrücken-Andorra 2010. Zehn Jahre nach der ersten Radreise folgte ich meiner eigenen Spur, versuchte die alten Fotostandorte, die ich im Jahr 2000 noch händisch in einem Notizbuch beschrieb, wieder zu finden und Fotos an ähnlichen Positionen zu machen. In einer Dual-Ausstellung wurden die beiden Kunststraßen gegenüber gestellt. 10 Jahre Reisefotografie und technische Entwicklung. iPhone trifft Nikon Analog-Fotografie, milliardenteure Satelitennavigation versus liebevolle handschriftliche Notizen.
16. Jakobsweg 2.0 November/Dezember 2010. 800 km von den Pyrenäen bis nach Santiago de Compostella? Rinck ist ein Newbie auf dem Gebiet des Langstreckenwanderns. Sowohl die immense Strecke, als auch die Ungewissheit, was ihn auf dem wohl berühmtesten Pilgerweg der christlichen Welt erwartet, stellen eine neue Messlatte für den Kunststraßenbau und das Live-reisen dar. Und in der Tat, gelingt es dem selbst gebastelten Protagonisten in nächtlichen Live-Blog Berichten aus verschnarchten Pilgerherbergen, nicht nur die Leserschaft seines Weblogs zu überraschen, sondern auch sich selbst. Was 1994 als rein bildnersiches Projekt begonnen hat, gipfelt in einer literarisch-fotografisch-künstlerisch-virtuellen und unmittelbaren Reiseberichterstattung.
17. Ums Meer 2012. Von Zweibrücken in die französische Partnerstadt Boulogne sur Mer und einmal rund um die Nordsee (London, Norwich, Edinburgh, Inverness, John O‘ Groats, Shetland, Bergen, Kristiansand, Göteborg, Varberg, Grenaa, Skagen, Esbjerg, Husum, Glückstadt, Wilhelmshaven, Bremerhaven, Emden, Groningen, Den Haag, Nieuwpoort, Boulogne) und zurück nach Zweibrücken. Während der viermonatigen Reise entstand ein komplexes Blogbuch, in dem sich verschiedene Erzählebenen überlagern. Fiktive und groteske Elemente mischen sich mit Reiseberichten und informativen Teilen.
18. Bilder für die Ewigkeit 2013
19. Gotthard 2014
20. Ans Kap 2015
21. Gibrantiago 2016 (externes Blog)

Fast ein kleines Lebenswerk – Mit dieser Reise geht eine Trilogie zu Ende. Ums Meer 2012, Ans Kap 2015 und Gibrantiago sind die Rohdaten für eine Europenner-Trilogie. Ich kann endlich beruhigt heimkehren und auch da bleiben und mich auf ein Leben als Schriftsteller freuen. In Gedanken fabuliere ich, dass mit diesen drei Reisen und den Kunstfotos daraus auch fast schon ein kleines Lebenswerk fertig geworden ist.

Ich bin sehr zufrieden.

22. Flussnoten 2016 (externes Blog)
23. Radlantix geplant voraussichtlich Juni/Juli oder August/September 2017 (externes Blog)

24. Von Zweibrücken nach Zweibrücken auf dem Rheinland-Pfalz-Radweg. 1040 Kilometer Liveblog– und Twitterreise.

Seit 2016 sind die Kunst- und Literaturprojekte in eigenen Blogs als live verfolgbare – tja, wie nennt man denn sowas? – angelegt. Mit der jeweiligen Reise endet das Blog- und Kunsterlebnis und bleibt als Archiv im Netz erhalten. Auf Basis der Texte und Biler kreiere ich nach und nach Bücher aus den Kunststraßenreisen.