Wurmloch nach Welchenhausen | #UmsLand Tag 5

Was für ein Frühstück. Berge von Wurst, Käse und Marmelade. Ganze Kanne Kaffee. Als einziger Gast im Posthotel in Arzfeld werde ich richtig verwöhnt. Was auch bitter nötig ist für die bevorstehende Etappe. Von Arzfeld nach Pronsfeld sind es nur fünfzehn Kilometer über die alte Bahntrasse. Aber ich möchte einen Abstecher zum kleinsten Museum von Rheinland-Pfalz machen, zur „wArtehalle“ in Lützkampen-Welchenhausen. Sechzehn Kilometer querab vom Bahnradweg. Problem: sechzehn Kilometer Eifelradeln, das weiß ich von einer Tour vor dreißig Jahren, ist kein Zuckerschlecken. Nach nur fünf Kilometern muss ich dort wo der Weg vom Bahnradweg wegführt in Üttfeld eine Entscheidung treffen. Mittlerweile erhalte ich aus der Tweetosphäre Information, dass das Höhenprofil sich sehen lassen kann: 290 Meter rauf und runter bis zum Museum. Im ehemaligen Bahnhofsgelände von Üttfeld ist jetzt ein Raiffeisenmarkt. Autos fahren ein und aus. Bushaltestelle zur belgischen Grenze? Fehlanzeige. Das wäre eine Lösung, per Bus rüberfahren. Aber es gibt keine Busse, erzählt mir eine Frau. Ich beschließe eine Art Gottesurteil: wenn mich innerhalb einer Viertelstunde niemand mitnimmt zur belgischen Grenze, dann radele ich weiter auf der Rheinland-Pfalz-Radroute. Der erste, den ich frage, nimmt mich mit. Auto mit Anhänger, ein paar Säcke Hühnerfutter, ruckzuck liegt das Radel auf dem Hänger. Mein Chauffeur ist Imker, liebt die Windkraft und das kleine Museum kennt er auch. Natürlich. Es scheint in der Region berühmt zu sein und nicht nur da. Der Mann nimmt mich mit bis Lützkampen. Ab da geht es nur noch abwärts ins Tal der Our, dem Grenzfluss zu Belgien. Und wie steil! Erst jetzt wird mir klar, dass ich ja auch wieder zurück muss. Verflixt. Aber egal. Erst einmal kleinstes Museum. Das Buswartehäuschen ist vielleicht vier Meter lang und knapp zwei Meter breit und es hat keine Tür. Etwa zehn Kunstwerke im Wert von je 1300 Euro hängen, Tag und Nacht für jedermann frei zugänglich, an den Wänden. Noch nie sei da etwas weggekommen, hatte mein Trampfahrer gesagt. Wie auch. Der Ort mit den 35 Einwohnern ist so klein. Jeder kennt jeden und es würde garantiert auffallen, wenn jemand die Kunst rauben würde. Seit Oktober ist eine Ausstellung von Luc Ewen zu sehen, die sich auch an anderen, „kunstüblicheren“ Orten gut machen würde. „The Zeppelin Story“ erzählt in verfremdeten Bildern surreale Zepplingeschichten, wie etwa in einem Bild, das ein Paar beim Abendspaziergang zeigt. Der Mann trägt einen Regenschirm. Im Hintergrund stürzt ein Zeppelin ab. Garniert ist das Bild mit dem Schriftzug „What an Amazing Sunset, Darling“. Geradezu Monty-Pythonesker Humor. Monty-Pythonesk ist auch meine Situation. Vor einer halben Stunde bin ich einen abartig steilen Waldweg herunter-, ja was? – heruntergebremst, könnte man sagen. Beide Bremsen am vielleicht vierzig Kilo schweren Radel zugekeilt und noch die Füße eingesetzt. Da will ich nicht mehr zurück. Ich weiß gar nicht, ob sich so eine Steigung schieben lässt. Ein Ausweg scheint mir der Ourtalradweg zu sein, der auf der belgischen Seite des Flussidylls über ein schmales, kaum befahrenes Landsträßchen führt. Er mündet in einen anderen Radweg, der wiederum in den Eifel-Ardennen-Radweg mündet und der kommt schließlich, nach vielleicht vierzig Kilometern auf meine Radroute bei Pronsfeld. Gedacht, getan. Die Route erweist sich als Glücksgriff. Ich radele ein Stück auf einer alten Bahntrasse, die bis nach Aachen führt – gut hundert Kilometer durch das Venngebirge -, zweige schließlich vorher auf die Bahntrasse Eifel-Ardennen ab und, voilà, um 14 Uhr nachmittags bin ich nach vierzig Kilometern Umweg da, wo ich morgens um zehn gewesen wäre, jedoch um einige Schönheiten reicher.

Ich schaffe sogar noch mein Tagesziel Stadtkyll jenseits der Wasserscheide zwischen Prüm und Kyll. Unterwegs phantasiere ich vom Arzfeld-Basistunnel mit einem Aufzug in mein imaginärtibetanisches Posthotel. Der Tunnel führt bis zur wArtehalle. Unten im beleuchten undbeheizten Tunnel gibt es Souvenirshops, Kinos etc. Okay, okay, mein Phantastenhirn hat ein bisschen Freigang. Das darf so stehen bleiben.

Wie auch immer. Wer die Rheinland-Pfalz-Radroute radelt, dem empfehle ich einen Abstecher ins Ourtal. Vielleicht bildet sich ja am Raiffeisenmarkt Üttfeld eine Art inoffiziele Radlermitfahrzentrale?

Geschrieben nachts um drei Uhr im frostigen Europennerzelt auf einem Landal Camping am rauschenden Bach. Brrr.

Mitten in einem imaginären Tibet voller Wunder und Fremdheiten | #UmsLand

Tourtag 4 – von der Mosel nach Arzfeld.

Die Klospülung rinnt. Superweiche Matratze. Schneidersitz. Gelber Frotteebezug. Tastatur und Handy vor mir. Gelbes Licht aus einer uralten Nachttischlampe mit Messingfuß und einem Lampenschirm, der aussieht wie eine umgedrehte, abgeschnittene Eistüte. Pechschwarze Nacht. Der Mond ist verschwunden. Auf der Hauptstraße, die man durch das zugige Fenster gut hören sollte, herrscht Stille. Sehr selten rauscht ein Auto vorbei. Das Hotel ist ein Labyrinth. Ich bin im Südflügel untergebracht. Überall in den Fluren stehen alte Möbel, Regale, Nippes, Dekoration. Weiche Teppichböden. Als ich eintraf, musste ich dem Besitzer erst einmal helfen, zwei Sofas aus dem Flur zu räumen, rüber in die alte Kegelbahn, damit mein Radel durchpasst. Der Mann ist schon im Rentenalter. Seine Frau auch und der unglaublich dicke, pelzige Hund sieht auch nicht mehr jung aus, wie er sich sonor bellend hinter dem Tresen hervorschleppt, wenn Fremde kommen.

Das Haus ist in den 1970er Jahren stehen geblieben, wenn man so sagen kann, wenn Häuser stehen bleiben können. Generationen von Mobiliar machen einen eigenartigen Designmix. Die Heizung ist abgestellt. Das Wasser ist eiskalt. Ein kleiner Elektroheizer bringt mein Zimmer auf vielleicht fünfzehn Grad. Mir macht das nichts aus, denn so ist es bei mir daheim ja auch. Ob Gäste kommen? Und wenn ja, ob sie bleiben? Das Haus entspricht ganz und gar nicht den Standards. Aber es hat einen wunderbaren Charme, was so manchem hochgezüchteten Hotel, das den sogenannten Standards entspricht, fehlt. Ein geradezu kultiger Ort. Wie maßgeschneidert für Vagabunden wie mich, oder für Hostel erprobte Weltenbummler, die von weither nach weithin unterwegs sind. Und irgendwie passt das. Ich komme mir nun, gut zweihundert Kilometer von Zweibrücken entfernt und noch über achthundert Kilometer bis wieder daheim, ein bisschen wie auf Weltreise vor. Hab die Seidenstraße des kleinen Mannes gemeistert, wenn man so will und befinde mich mitten in einem imaginären Tibet voller Wunder und Fremdheiten. Da kommt der Funken Wärme meines Backpacker-Hostels zur Post gerade recht.

Die Etappe von der Mosel hier herauf ist ein Erste-Sahne-Stückchen auf der Rheinland-Pfalz-Radroute. Fast durchgängig auf Radwegen oder kaum befahrenen Sträßchen, geht es stets bergauf entlang der Flüsse Mosel, Sauer, Prüm, ein kurzes Stückchen Nims bei Irrel und dann über eine Landstraße und eine Kuppe hinüber ins Enztal. Einige Kilometer vor Neuerdorf radelt man schließlich in eine felsige Minischlucht und hinterm Tunnel Neuerdorf auf dem zehn, fünfzehn Meter hohen Damm einer alten Bahntrasse etwa zwei drei Prozent steil bis nach Arzfeld.

Die Route verläuft in Grenznähe zu Luxemburg.

Frühmorgens frage ich einen Mann am Moselufer nach einem Frühstückscafé. Er erklärt mir den Weg: zur Brücke, ins Dorf, bei der Kirche. Da gibt es Kaffee für einen Euro, sagt er. Der Dialekt klingt fremd und vertraut zugleich. Kehlig kindlich witzig. Es ist schwer zu beschreiben. Der Mann hat ein Feuer angezündet, in dem er die Gartenabfälle verschürt. Das dürfe er zwar nicht, aber was soll man machen, sagt er und zeigt mir die Himbeeren, die er freigelegt hat. Der Garten ist direkt am Radweg. Manchmal kommen Frauen vorbeigeradelt und bedienen sich an den Himbeeren und wenn er sie erwischt, sagt er: Erste Hand gratis, zweite Hand Hütte. Er grinst durchtrieben. Später im Café, das ein Salon de thé ist, so steht es über der Tür, werde ich Zeuge von einem seltsamen Sprachengewirre. Die Bäckerin begrüßt mich auf Luxemburgisch „Moie“, was fast klingt wie bei uns in der Westpfalz, schaltet aber auf Hochdeutsch, als sie merkt, dass ich alles andere nicht verstehe. Nahe beim Verkaufstresen setze ich mich. Andere Menschen, andere Sprachen. Ein Mann mit amerikanischem Akzent gefolgt von Leuten aus dem Dorf, dann Franzosen und schließlich eine Engländerin – ein wunderbarer Sprach-Pingpong. Immer grüßt die Bäckerin fröhlich „Moie“ und schaltet dann in die Sprache ihres Gegenübers um. Ich würde wetten, sie kann alle Sprachen der Welt.

Der Supermarkt ist geöffnet, obwohl Sonntag ist. Am Fenster kleben Werbeplakate für Kaffee. Alles ist viel günstiger als auf der anderen Seite der Grenze und durch die schimmernde Scheibe kann man Regale voller Kaffee und Zigaretten sehen. Natürlich gibt es auch stinknormale Lebensmittel.

Unterwegs, den Flüssen folgend, bereue ich es ein bisschen, nichts gekauft zu haben. Auf den kleinen Dörfern auf der deutschen Seite herrscht Sonntag. Vor den Kirchen parken Autos. Glockengeläut. Sonntagsstaat. Alles zu. Es gibt ohnehin kaum Läden. In Holsthum, kurz vor der Wasserscheide zwischen Prüm und Enz mache ich Mittagsrast. Stiller Ort. Zwei Gasthöfe, von denen einer geschlossen ist, bzw. er ist schon geöffnet, aber es gibt vorsaisonbedingt noch kein Essen. Stattdessen Dart, viele Menschen aus der Umgebung, man darf sogar rauchen und: ein Hund namens Mozart.

Holsthum scheint ein guter Ort als Basis für Wanderferien. Die Teufelsschlucht sei nah, viele Wanderwege, die mich ein bisschen ans Tessin erinnern. Schmale Pfade, ab und zu eine lange, steinerne Treppe. Felsdurchwirkter Laubwald, Vorfrühlingslicht und ich könnte mir vorstellen, dass ich bei den Prümkaskaden kurz vor Holsthum schon in der Teuelsschlucht radelte. Aber vielleicht liegt die ja an einem ganz anderen Ort.

Über Hunsrück und Hochwald zu Mosel, Saar und Ruwer | #UmsLand

Birkenfeld, Tag drei der Reise. Samstagfrüh. Am Ortsrand arbeitet ein Mann mit Axt und Kettensäge, was ist auf dem Gelände?, frage ich und weise über den Stacheldrahtzaun, an dem in regelmäßigen Abständen Schilder hängen, Militärisches Irgendwas, aber das Gelände scheint verlassen. Syrer? fragt der Mann zurück, zögert, fragt weiter: Nichts mehr? Okay, das Militär ist weg und zwischendurch war es eine Auffangstelle für Asylbewerber, rekapituliere ich. Im Hinterstübchen flimmert noch ein Funke Erinnerung, dass Zweibrücken und Birkenfeld zu Hochzeiten der Flucht große Auffanglager waren. Nun herrscht wieder Stille in dem kilometerlangen Areal. In Birkenfeld ist samstagfrühwenig los. Nur in der Bäckerei an der Hauptdurchgangsstraße hat sich eine Menschenmenge gebildet. Frischbrötchengieriges Volk. Ein junger Papa mit zwei Kindern vor mir. Der kleinere der Buben fällt aus unerfindlichen Gründen hin und fängt an zu plärren, was der Vater beflissentlich ignoriert. Ist der Bub vielleicht gar nicht sein Sohn? Ich bin perplex. Er steckt das Wechselgeld ein und sagt zu dem vielleicht Dreijährigen: Komm jetzt, oder willst du alleine hier bleiben? Der Bub schreit. Der Vater geht zur Tür und lässt ihn zurück. Irgendwann rafft sich das Kind auf und rennt hinterher. Alle in der Bäckerei sind wie paralysiert.

Später, wieder auf dem Rad, mache ich mir Vorwürfe, dass ich nicht reagiert habe. Ich hätte das Kind aufheben müssen, es trösten, als Stellvertretender einfühlsamer Mensch. Warum kommt einem in Krisensituationen nie der richtige Gedanke, warum immer zu spät? Wer weiß, vielleicht ist das Erlebnis in der Bäckerei ein Schlüsselerlebnis für das Kind, das ihn ein Leben lang prägen wird? Vielleicht hat er diese Schlüsselerlebnisse aber auch täglich und sie liegen auf ihm wie Mist.

Jenseits von Birkenfeld führt der Radweg durch einen Mix aus Kuhweiden und Wald hinüber zum Traunbach, der einen schließlich in die Berge, zu seiner Quelle hin entführt. Die Gegend ist spannend. Es gibt ein Buddhistenkloster und viele große Anwesen, in denen womöglich viele faszinierende Menschen wohnen. Es folgt eine schier endlose Steigung auf geteertem Waldweg.

Plötzlich fast auf dem Erbeskopf. Ein Hinweisschild sagt, dass es nur 7,7 Kilometer sind bis zum Thron des Hunsrücks. Das GPS zeigt 726 Meter. Kalter eisiger Wind. Das verschwitzte T-Shirt fühlt sich beim Abwärtsradeln nach Thiergarten an wie ein kaltes Korsett.

Thiergarten hieß nicht immer so, erzählt mir ein Mann, der auf Morgenspaziergang ist. Er trägt Filzpantoffeln, stützt sich auf einen Stock und empfiehlt mir, zum Baumarkt zu fahren zum Mittagessen. Da gäbe es das halbe Hähnchen für 2,50 und überhaupt wäre es besser über den Baumarkt zu radeln, anstatt runter nach Hermeskeil. Günstigeres Esses, weniger Schwitzen weil nicht runter und wieder rauf müssen und die alte Bahntrasse mit dem Radweg sei in der Nähe. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Nicht nur wegen des Hähnchens, sondern auch wegen des Zauberworts Bahntrassenradweg. Sags noch einmal, Bahntrassenradweg. Das heißt Tunnel und Brücken und kein Straßenverkehr und Picknickbänke und Idyll. Hier oben in Thiergarten ist es recht garstig. Kahle Wiesen und Felder, umgarnt von Fichtewäldern. Dazu pfeift der Wind. Irgendwo auf einer Wiese steht ein alter Bitburger Bierlaster, umfunktioniert zum Hühnerstall. Thiergarten sei das höchste Dorf der alten Rheinprovinz, sagt der Mann mit den Filzpantoffeln. Bevor die Fürsten kamen und hier ihre Tiere weideten oder jagten, was genau, weiß er auch nicht, hieß der Ort Tranken. Tranken wie Trinken, nur mit A. Mit dem Kinn weist er nach unten ins Neubaugebiet. Dort gab es einst eine Quelle. Die Nikolausquelle. Die Leute im Dorf trieben Handel mit dem Wasser. Aber dann kamen die Jungen und wiesen ein Baugebiet aus und die Quelle, die man sich wie eine wässrige von Rinnsalen durchzogene Wiese vorstellen muss, wurde zugebaut und überall liegen Drainagen. Das Wasser fließt nun in die Prims. Futsch. Für immer. Und er wettert über die Verantwortlichen, da muss man doch zweimal blöd werden. Wie bitte, frage ich, haben Sie eben zwei mal blöd werden gesagt? Ja, zweimal blöd werden. Der Spruch gefällt mir. Auf dem Weg durch den Wald lasse ich mir die Worte im Hirn zergehen. Plötzlich eine Rakete, senkrecht in den Himmel ragend, bereit zum Start, so scheint es. Und Flugzeuge. Sogar eine Concorde steht auf dem Gelände praktisch mitten im Niemandsland. Ein Schild am Eingang erklärt, dass es sich um die Hermeskeiler Flugzeugausstellung handelt. Die Ausstellung öffnet aber erst am 1. April.

Weiter zum Baumarkt. Samstagliches Treiben. Zwei Fressbuden. Keine Grillhähnchen, aber die hätte ich mir wohl sowieso nicht angetan. Stattdessen gibt es eine Currywurst und Smaltalk mit einem Gästepaar am Stehtisch. Ein scharzer Kleinwagen fährt vorbei mit offenem Fenster und sol-chen Bässen. Die Anfangssequenz von Pink Floyds Wish You Were Here dröhnt aus den Lautsprechern. Das macht mich ganz melancholisch. Der Himmel trübt ein. Solllte Wikipedia recht behalten wollen und extra für mich nun Regen über Hermeskeil machen? Immerhin sei es einer der regenreichsten Orte Deutschlands.

Es regnet nicht. Ab Hermeskeil folgt die Rheinland-Pfalz-Radroute dem Ruwer-Hochwald-Radweg. Gut dreißig Kilometer bis zum Dörfchen Zerf. Dann geht es durch Felder, vorbei an Höfen und Viehweiden hinauf zur Wasserscheide, um schließlich kilometerweit steil abwärts ins Saartal zu führen. Weinberge. Hände tun weh vom Bremsen. Ich verpasse Saarburg, dessen Wasserfall ich mir so gerne angeschaut hätte. Als ich an der Saar stehe, folge ich dumm wie ein Schaf der Beschilderung nach Konz, statt den Schlenker nach Links durch Saarburg zu machen. Es ist bald dunkel. Ich bin müde und unaufmerksam. Nur noch knapp 15 Kilometer. Dort ist ein Campingplatz, der offen hat, und auf dem ich übernachten möchte. Drei Feuerwehrmänner, die für die Webseite Fotos von ihrem Feuerwehrauto machen, erklären mir den Weg: über die Saarbrücke (unter der wir gerade stehen) nach Konz, da, schau, da kannst du ihn schon sehen. Die machen auch Essen und es gibt Wohntonnen, die man mieten kann, ist ja noch recht kalt und als Essen empfehlen sie Hähnchenflügel mit Pommes, das sei eine Spezialität und typisch für diese Gegend. Wieder läuft mir das Wasser im Mund zusammen und im Geiste miete ich eine der Tonnen, dusche heiß und ewig. Die Männer erzählen mir auch von einem kuriosen 24 Stunden-Lauf, der als Wohltätigkeitslauf für ein Trierer Hospiz jährlich stattfindet. 198 Kilometer von Koblenz die Mosel hinauf bis hierher. Schon acht Läufer, die es tatsächlich geschafft haben, die gesamte Strecke in 24 Stunden zu laufen. Ein Kollege von ihnen sei einmal mit einem uralten Rad von Morbach im Hunsrück nach Koblenz geradelt und habe anschließend noch am Hospizlauf teilgenommen. Der Mann war siebzig.

Halboffenen Mundes ob so viel Leistungswillen verabschiede ich mich. Neunzig Kilometer in den Beinen.

Der Camping ist zu. Eine Telefonnummer am Eingang. Die Campingwartsfamilie erlaubt mir, dennoch mein Zelt aufzuschlagen und eine Flasche Wasser schenken sie mir auch. Ohnehin habe der Kaufland im Ort bis 22 Uhr auf und das Schwimmbad, falls ich mich waschen möchte, sei bis 21 Uhr auf. Egal. Ich bin glücklich. Nur laut ist es hier, umringt von Straßen.

Die Geschichte vom Mann, der einen Hunsrück-Bach bezwingt | #UmsLand

Ein Bach, ein Waldweg, ein Mann, ein Fahrrad. Sonne streicht durch lichten Vorfrühlingswald. Buchen blecken weiß. Der Mann schiebt. Er schwitzt. Der Weg ist steil und schmutzig. Ab und zu bleibt der Mann stehen, beobachtet den Bach, holt tief Luft. Stoßweiser Atem. Der Bach fällt über zahlreiche Kaskaden mühelos immermahlend. Es scheint, als fiele er ihm entgegen. Na warte, dir werde ich es zeigen, denkt der Mann. Höher und höher ächzt er, durchwatet andere Rinnsale, die dem Bach zuströmen. Je höher der Mann klettert, desto leiser wird der Bach, desto schwächer, so scheint es. Das beflügelt den Mann. Der Weg ist nicht mehr so steil. Der Wald lichtet sich. Wiesen tun sich auf. Oben jenseits der Quelle auf der Wasserscheide überkommt den Mann ein heroisches Gefühl. Ich habe den Bach bezwungen, denkt er innerlich jubilierend, eine imaginäre Siegerpose einnehmend.Ist das schon Hunsrück? Ich habe völlig die Orientierung verloren. Seit Kusel kenne ich die Dörfer und Städtchen nicht mehr. Die Gegend ist ohnehin kaum besiedelt. Die Rheinland-Pfalz Radroute führt abseits des Fritz-Wunderlich Radwegs, der mich auf einer alten Bahntrasse von Kusel nach Thallichtenberg brachte, nun über schmale Sträßchen, Feld- und Waldwege. Und es ist ziemlich bergig hier. Mein Hirn bettelt innerlich, gib mir Bahntrassen bis Hermeskeil und einen Ruwertalweg bis zur Saar, ich will Tunnels und Viadukte. Aber die Gegend kennt kein Erbarmen, so dass ich oft schiebe.

Zwischen dem Breitsesterhof und dem Eschelbacherhof erreiche ich den höchsten Punkt der gestrigen Etappe. Irgendwo steht ein Schild 550 m NN. Ein Mann erklärt mir, dass man auf dem Breitsesterhof sieht, wann der Winter kommt. Es sei hier oben immer drei vier Grad kälter als in Thallichtenberg. Windräder. Ziegenherde. Endlich ein touristisches Schild. Ich bin im Gebiet der oberen Nahe. Hier gibt es mediterrane Pflanzen. Über den Saarlandradweg, den ich bis in diese Gegend schon erkundet habe, wäre ich weit schmerzloser hier angelangt. Er führt durch Täler mit sanften Steigungen. Hier habe ich Sägezahnprofil.

Aber wie ich schon gestern erwähnte, die Auf- und Abschinderei lohnt sich. Sei es nur wegen der kleinen Bäckerei in Heimbach, wo ich am einzigen Kaffeetisch mit zwei alten Damen schwadroniere, ob der Bach hinter den Häusern nun der Unnerbach ist oder der Reichenbach. Ein Dorf weiter liegt immerhin Reichenbach. Dort gibt es zwar ein Ofenmuseum, aber weder Laden, noch Pension. Ich solle es im Oldenburger Hof in Birkenfeld probieren, sagen mir zwei Leutchen. Dreizehn Kilometer. Im Kopf schneidet die Sägezahnerinnerung. Es dämmert schon. Wenn ich nochmal auf 550 Meter hoch muss, schaffe ich das nie. Wieder eine Brrr Grad kalte Zeltnacht. Wieviele Sägezähne passen auf dreizehn Kilometer? Viele, fürchte ich, als ich einen Serpentinenweg abwärts radele nach Kronweiler im Nahetal. Bahnlinie. Bed & Breakfast. Zu. In der Hauptstraße stehen welche neben einem brennenden Fass. Wie in der Bronx, nur mit viel mehr Stil. Das Fass scheint ein Designergrill zu sein. Ich bin versucht, stehenzubleiben, mir die Finger aufzuwärmen, aber ich muss eine Unterkundt suchen. Vorm Dorfladen zwei Männer. Ist der noch auf, frage ich. Einer macht die Tür auf und ruft, Marina, ist noch auf? Na gut, komm rein. Ich kaufe ein Kirner Pils und vier Brötchen für den Fall, dass ich zelten muss. Kronweiler gefällt mir. Frau Marina sucht mir ein paar Telefonnummern raus von Ferienwohnungen in der Nähe. Kein Erfolg. Also weiter weiter weiter, die schmale Straße entlang eines Hunsrückbächleins aufwärts. Oldenburger-Hof-Sehnsuchtsgedanken. In Niederbrombach frage ich weiter nach Pensionen und siehe da, im alten Gasthaus an der Straßenkreuzung verrät man mir Familie Hagemeister. Die knappe Wegbeschreibung lautet: zum Schulhaus, Fußweg rechts, zweites oder drittes Haus auf der rechten Seite. Das ist sicher eine gewöhnungsbedürftige Methode, eine Unterkunft zu finden, mit echten Menschen reden, sich den Weg erklären lassen, statt wie normale Menschen, im Internet danach zu suchen, du solltest mal einen Artikel über Internet schreiben und was wir bei all dem Guten, das es uns bringt auch verlieren, denke ich auf dem Weg zur Pension, die ich auf Anhieb ohne Navi finde.

Nun sitze ich im Schneidersitz auf dem schönen weichen Bett, Tastatur und Handy vor mir, diese Zeilen tippend – eine eigenartige Geschichte habe ich mir ausgedacht von einem Mann, der einen Hunsrückbach bezwingt und in tausenden von Jahen wird der Bach die Geschichte erzählen von dem Mann, der einst neben ihm spazierte und sein Fahrrad zur Quelle schob.

Auf ins Level zwei | #Umsland

Du musst erst die sieben Hügel überwinden, die beiden dunklen Tunnel durchqueren, eine Weile mit einem autistischen Jungen radeln, in den Tag plaudernd, dich öffnend für die Fülle der Welt. Und was er alles bemerkt, der zaghafte Junge mit dem Dreigangrad: dass deine Wasserflasche fast leer ist und dass deine Klamotten in Fetzen vom Leib hängen, der Reißverschluss deiner Jacke kaputt ist, alles will er wissen über dich und er begleitet dich noch bis zur Mitte des zweiten Tunnels, schalt das Licht ein, sagt er, fasziniert vom immersurrenden Nabendynamo. Dann kehrt er um und du bist alleine.Thallichtenberg. Längste Spornburg Deutschlands. Ein vierhundertnochwas Meter langer Trümmer auf einem Bergsporn. Bitte mach, dass ich da nicht hoch muss, denke ich noch, und schon weisen die Radwegschilder hinauf zur Burg. Erster Gang schwitzend. Seit gesern fünfzehn Uhr habe ich gut 70 Kilometer in den Knochen. Schon gleich hinter Zweibrücken begann die Kletterei hinauf zur Sickinger Höhe, runter ins Wallhalbtal, wieder hinauf auf die Sickinger Höhe und runter zum Lambsbach. Ein kleiner Hüpfer noch und der Homburger Bruch bei Vogelbach endlich Flachland. Simultankirche, im Dämmerlicht irgendwie nach Schönenberg-Kübelberg, wo ich neben dem Glan-Blies-Radweg zeltete, genau an dem Platz, an dem ich auch vor anderthalb Jahren meine erste Nacht auf dem Weg zum Nordkap verbracht hatte. Über den Saarlandradweg wäre es viel kürzer gewesen und ich hätte kaum Steigungen gehabt. Aber die Rheinland-Pfalz Radroute steht nunmal auf dem Prüfstand meiner Mission Ums Land.

Und ich muss sagen, der Weg durch die Tälchen und über die Höhen lohnt sich. Wunderschöne Landschaft. malerische Dörfchen, Bemerkenswert der achteckige Kirchturm zu Labach. Labach hat auch eine persönliche Bedeutung für mich. Mein Vater erzählte mir vom Krieg, wie man die Familie 1939 in das kleine Dorf evakuierte, weil sich die Truppen auf den Frankreichfeldzug vorbereiteten und wie sie 1945 ebenso evakuiert wurden, weil die Städte zerbombt wurden. Labach ist der ideale Zufluchtsort. Man sieht das Dorf im kleinen Bachtal kaum.

Die Nacht war frostig. Das Zelt gefroren. Vorhin kurbelte ich auf dem Glan-Bliesweg nach Kusel und dann auf dem Fritz Wunderlich Radweg bis nach Thallichtenberg. Da begegnete mir der seltsame Junge, mit dem ich gerne weitergeradelt wäre. Er hatte etwas Heiliges an sich. Unschuldig. Erdverbunden.

Erstgangschwitzend zur Burg. Mittagessen im Burgrestaurant. Das hatte mir Freund Joseph spendiert, den ich morgens besucht hatte. Auch so ein Erdverbundener Allesversteher, über den ich mal einen Blogartikel schreiben müsste. Oder ein Buch.

Sonne. Die Burg liegt hinter mir. Eine gelbbraune Bank mit Tisch unter Baum stellt sich mir in den Weg. Der ideale Ort zum Bloggen. Ich muss mich aus dem Radelvorwärtskommflow rauszwingen, denke ich. Fast ist es wie ein Computerspiel, bei dem man sich in bedingten Abläufen den Raum schafft, um ins nächste Level zu kommen, erst über die sieben Berge, vorbei am Galgenturm, der heute ein Picknickplatz ist, begleitet vom autistischen Jungen durch die beiden Tunnels, dann die Burg, die Bank, die Tastatur und nun dieser Text. Level zwei.