Straße nach Gibraltar 010

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Mittwoch, 19. April 2000

In der Kleinstadt Champlitte setzte Regen ein. Ich beschloss, trotzdem weiter zu fahren. Der Radreisende kennt unzählige verschiedene Arten von Regen. Die Intensität des Regens lässt sich am besten an den Scheibenwischern der entgegen kommenden Autos ablesen. Wenn sie auf Intervall geschaltet sind, kann man getrost weiter radeln. Die Hitze, die der Körper abstrahlt verdunstet die wenigen Spritzer in Windeseile. Der eigene Schweiß nässt mehr als die Außenwelt. Es macht also keinen Sinn, Regenklamotten überzustreifen und somit die Verdunstung der körpereigenen Ausdünstungen zu verhindern. Selbst bei langsam geschalteten Auto-Scheibenwischern ist das Radfahren oft noch erträglich. Ich kurbelte einen Berg hinauf. Der Regen wurde stärker. Mit der allgemeinen Parole: „Was nass wird, wird auch wieder trocken“, hielt ich mich bei Laune. Fräulein Smillas Gepür für Schnee kam mir in den Sinn. In diesem Buch von Peter Hoeg gibt es eine Passage, die sich ausschließlich mit Schnee beschäftigt. Die Grönländer kennen hundert verschiedene Arten von Schnee. Genau wie ich hundert verschiedene Arten von Regen kenne.

Mittlerweile waren meine Hosenbeine bis zum Knie nass. Die Jacke beförderte das Wasser auf den Beckenbereich. Die Hose leitete auf die, an sich wasserdichten, Schuhe ab. Das Wichtigste ist: warme Füße. Ich stoppte bei einem Unterstand an einer Überland Bushaltestelle, die wohl einige verborgene einsame Gehöfte an den öffentlichen Nahverkehr anschloss. Aß ein Stück Baguette, trank einen Schluck. Das Wasser war eiskalt. Ich fror. Da es leicht bergan ging und der Regen nachzulassen schien, fuhr ich weiter. In Chazeuil war der Spuk dann vorbei. Die Gegend unmittelbar nördlich von Dijon wird intensiv landwirtschaftlich genutzt, was ihr im Frühling kaum bis gar keinen Charme verleiht. Ein Geschwader Tiefflieger raste mit Überschallgeschwindigkeit über mich hinweg. Der Gegenwind zerrte an den Nerven. Die Aussicht, schon bald in die doch recht große Stadt Dijon einzureiten machte mich nervös. Als Ortsunkundiger ist es schwer, eine geeignete Fahrradroute zu finden. Einige Jahre zuvor war ich schon einmal mit dem Fahrrad in Dijon. Ein einziges hektische Grauen. Um mich zu beruhigen, dachte ich an Paris, welches ich 1996 mit dem Fahrrad durchquerte. Von der Kleinstadt Meaux führt über 60 km ein prima Radweg entlang des Canal de l’Ourcq bis hinein in die Stadt.

Auf meiner Michelinkarte, Maßstab 1:200000, konnte ich einen ähnlichen Weg für Dijon erkennen, nur führte der in die falsche Richtung: Der Canal de Bourgogne verlässt nach Westen die Stadt. Es wäre also anzunehmen, dass es dort auch einen Radweg gibt. Ich befand mich Nordöstlich, als ich nach 392 Kilometern das Ortsschild von Dijon passierte. Stark befahrene Einfallstraße, weshalb ich mächtig reintrat und mit über 30 Sachen stets den Schildern Richtung Centre Ville folgte.

Der Spirit des Jazz

Schon spät. Der Ofen ist aus. 9 Grad. Komme soeben vom Jazzfestival in der Nachbarstadt S. zurück, wo ich die letzten 12 Stunden den Backstageraum bewacht habe und den Künstlern beim Zurechtfinden behilflich war. Kein übler Job, auch wenn er recht anstrengend ist. Servicekraft sein ist immer anstrengend. Gegen Ende machte sich ein Rudel Alphasaarländer zum gemütlichen Plausch im Backstageraum breit, was nicht weiter schlimm wäre, doch ausgerechnet der Bassist, welcher zuvor durch unflätiges Benehmen meinen Unmut auf sich gezogen hatte, verlangte spät um 1 noch nach Bier. Er sagte: „Im Kühlschrank ist nur noch Kinderbier, Bier mit Cola, das trinke ich nicht, gebt mir Bier für über Zwnazig.“ Ich ignorierte ihn, doch die Chefin, welche sich bei den offensichtlichen Alphamusikern liebkind machen wollte, fragte: „Bier über Zwanzig, Bier über Zwanzig, was meint er denn?“ Der schwedische Trompeter erklärte: „Richtiges Bier.“ Also orderte die Chefin: „Irgendlink, ordere doch noch eine Kiste Bier beim Caterer.“ Ich verließ den Backstageraum. Im Flur standen die Hausmeister und schauten auf die Uhr. Sie fragten, ob sie bald zuschließen dürften. Ich sagte, „die Chefin will trinken“, und orderte beim Caterer eine Kiste Bier auf Kosten des Steuerzahlers. Zurück im Backstageraum löschte ich demonstrativ die Teelichte unter den warmen Platten. Brandschutz muss ein. Dann kam der Wirt und sortierte das Bier in den Kühlschrank. Sofort bestellten sie noch eine Flasche Wein, es soll uns an nichts mangeln. Ich überlegte, ob es gut sei, auf Kosten des Steuerzahlers den Alphatrinkern beim Besaufen zuzusehen, immerhin redeten sie über die männliche Brust, Östrogen und wie schlimm es doch sei, dass wir Menschen nicht wie die Hunde an unseren eigenen Geschlechtsteilen lecken können. Im allgemeinen Gelächter nutzte ich die Chance zur Flucht..

Straße nach Gibraltar 009

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Mittwoch, 19. April 2000

Nach der unruhigen, weil zu ruhigen, Nacht wurde mir bewusst, dass es nun nicht mehr so einfach wäre, an einem Tag per Muskelkraft umzukehren. Fast 300 km von zu hause entfernt. Die wohlige Wärme der heimischen Wohnung war in eine gewisse Ferne gerückt. Die Nervosität, die mich in den voran gegangenen Tagen direkt nach dem Aufstehen ergriffen hatte, war nicht mehr ganz so schlimm. Ich entwickelte einen gehörigen Hunger, was zum Einen auf die körperliche Anstrengung zurück zu führen war, aber auch zu einem guten Teil durch den Aufenthalt an der frischen Luft, 24 Stunden am Tag, gefördert wurde. Der Körper braucht mehr Energie, wenn er de, noch recht frischen Temperaturen des Frühlings trotzen muss. Ich frühstückte Baguette vom Vortag, welches ich auf dem Spirituskocher in der Pfanne toastete. Schmierte Butter darauf und belegte es mit Camembert. Ein Schluck eiskalten Trinkjoghurt der Marke Yop, Parfum Framboise, das heißt Himbeergeschmack. An den Aufdrucken meiner Lebensmittel, bemerkte ich, wie meine Umgebung von Tag zu Tag französischer wurde. Auch die Orte trugen nun echte französische Namen, in denen das U als Ü gesprochen wurde und bei deren Aussprache man das CH kehlig sprechen musste, das A, das O und das E zu differenzieren wäre eine Aufgabe für Fortgeschrittene. Die Sprache bereitete mir keine Probleme. Es ist wie so oft das kindliche Gemüt des Fernreisenden, welches einen mirnichtsdirnichts mit den Menschen in Kontakt kommen lässt, heyda, wohin des Weges, und so radebricht man über Landmarken, das Wetter, die Schönheit der Gegend. Die Menschen in den kleinen Dörfern nördlich von Dijon besitzen einen ganz eigenen Stolz.

Das Wetter hatte sich gebessert. Ab und zu schien die Sonne, gefolgt von Wolken aus Westen, welche nichts Gutes ahnen ließen. Ich kurbelte auf winzigen, kaum befahrenen Departementsstraßen dahin und redete mit mir selbst auf französisch, um meine Aussprache zu verbessern. Immer wieder las ich mir leise murmelnd die Namen der Dörfer vor, die ich durchquerte: „Morey, Saint Julian, Suaucourt“ gut auch ein Dorf namens Pisseloup, welches ich lapidar mit Wolfspisse übersetzte. Bei einer Kirche, außerhalb von Molay legte ich eine Rast ein, aß Schokoriegel. Putzfrauen standen gebückt auf dem kalten Boden. In der kräftigen Frühlingssonne schwirrte ein Schwarm Mücken.

Von der Mystik des Ortes angetan, phantasierte ich mich in eine antike Welt, in der die Straßen noch nicht geteert waren und man sich langsam und bedächtig mittels von Ochsen gezogener Karren von Ort zu Ort bewegte. Es war eine Welt der Bauern und Marketender. Von der Ortsgemeinde bezahlte Reinigungskräfte gab es damals noch nicht. Fromme Mägde reinigten die Kirche in ehrenamtlichem Dienst, Gott zu gefallen war ihr anliegen. Menschen wie ich, die aus Abenteuerlust oder weil sie keine andere Wahl hatten, das Land zu Fuß durchquerten, kehrten ein in dieser Kirche am Weg, bekreuzigten sich, sprachen ein Gebet und zogen ihres Weges. Ich zerknautschte das bunt bedruckte Papier, in welches der Schokoriegel gewickelt war und steckte es in die Hosentasche. Was damals das handgeschnitzte Kreuz, das ist heute der, im letzten Supermarkt erworbene Konsumartikel. Diese Welt geht vor die Hunde. Es gibt keine Treue mehr. Alles ist verbraucht. Und das was nicht verbraucht ist, muss erst noch produziert werden, um es dem Kreislauf dieser gottlosen Konsumwelt anheim zu geben.

In einem Anflug von Sentimentailtät kullerte so eine Art Träne. Ich stemmte mich wieder in den Rahmen und zuckelte mit wenigen Metern pro Sekunde dem Wind entgegen.

Straße nach Gibraltar – Zwischenbemerkung

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Alle Blogtexte entstehen in kürzester Zeit und werden in keiner Weise lektoriert. Die Schreibe folgt dem Credo: „Wenn ich warten würde, bis die Rahmenbedingungen perfekt sind, würde ich nie beginnen.“

Vielleicht wird das Buch holprig und ungelenk, aber es wird.

„Und so sehet die Alpenstraßenbauer: wagten sie nicht alles, ein zwei Jahrhunderte zuvor, um in serpentinösen Pässen den Eselskarrenfahrern eine Überquerung des Gebirges zu ermöglichen? Seht an, seht an, das Alpental, wie es geziert von den Wunden vorangegangener Trassen nun im vollklimatisierten Tunnel verschwindet.“

Guten Morgen. Viel passiert die letzten Tage. Montags rief Journlist F. an in seiner Funktion als Jazz-Festival-Organisator. „Wir brauchen einen Programmhefteverteiler für Saarbrücken, es soll dein Schaden nicht sein.“ Ich sagte ja. Montagsabends um Acht ist Saarbrücken eine gottverlassene Landeshauptstadt. Glänzende Kirchen und geschlossene Geschäfte, die Kneipen am St Johanner Markt noch kaum belebt, was das Verteilen von Programmheften rauchfrei und recht fix gestaltete. Am St Johanner Markt befindet sich eine Kneipe neben der anderen. Edelster Chromglanz, Ledersessel, Tresen wie geleckt, sowie pommadierte Bedienungen von wohlgeformter Statur. Allesamt freundlichst bis überherzlich. Eine Blase aus Traum, die in den dunkleren Seitengassen gesäumt wird von den armen Teufeln der Stadt. Wie ein engmaschiges Netz schnüren sie den Kneipenkern ein. Junkies, Bettler, Greise, Menschen, die irgendie irgendwann irgendwo mal eine Chance verpasst haben. Nun auf der Straße leben. Offensiv bitten sie mit Bechern in der Hand um Geld. Sie wenden dabei eine Art Treibjagd-Taktik an. Zu zweit oder zu dritt schnüren sie die Straße ein und bitten einjeden der ihnen begegnet, Auge in Auge um Geld. ich leerte meinen Kleingeldbeutel restlos bis auf den einen Euro, den ich für die Parkplatzgebühr benötigte. In gewisser Weise, so dachte ich, kommt auch der den armen Teufeln zu. Die Stadt muss wohl horrende Summen an Armengeld aufbringen.

Rückweg auf der Autobahn: es ist nur eine gute halbe Stunde Fahrt bis zum einsamen Gehöft. Nachts Autobahn fahren macht mich sentimental. ich überdenke mein Leben: „solltest wieder in die Stadt ziehen. Das wäre doch schick?“ Der Glanz und Glitter und Glammer des St. Johanner Markts hat eine unbeschreiblich reizvolle Wirkung, die einen wohl erst dann abzustoßen vermag, wenn man tagein tagaus dort verkehrt, sei es auf der einen oder auf der anderen Seite.