Oder: Treiben im Erlebnisstrom
Beim Liveschreiben ist der Autor/die Autorin konsequent in den Erlebnisstrom eingebunden, ist sogar ein Teil davon. ProtagonistIn. Da der Erlebnisstrom nie abebbt, auch dann nicht, wenn sich der Protagonist/die Protagonistin nicht vom Fleck bewegt, muss der Autor/die Autorin ständige am Ball bleiben. Wie kann ich als live schreibender Autor, der, wie im vorliegenden Fall, eine Reise dokumentiert, den Erlebnisfluss bändigen in den Phasen, in denen es mir nicht möglich ist zu schreiben, oder ich es aus Faulheit für ein paar Tage nicht tue?
Kurz vor der schwedischen Grenze beschäftigt mich dieser Gedanke: „Eigentlich ist dir doch danach, jetzt direkt über dieses norwegische Radwegverbrechen zu schreiben, nicht?“ Ich stehe an einem Zubringer zur E6 in der Nähe von Halden, schon seit Minuten. Die Radwegeschilder haben mich hier her geführt. Zweispurige Straße, permanenter Verkehr, keine Lücke im steten Autostrom in Sicht. Fast ist es wie der Erlebnisstrom, in dem ich mich befinde. Das gegenwärtige Erlebnis, Protagonist will E6-Zubringer überqueren und ärgert sich über die katastrophale, lebensgefährliche Radwegeauszeichnung, drängt geradezu, direkt geschrieben zu werden, ohne auch nur im leistesten die letzten beiden Tage zu erwähnen.
Jenen friedlichen Morgen in Borre auf dem Zeltplatz – Kenneth, der Owner, hatte über Nacht meinen Zusatzakku in der Rezeption gelanden und während wir zum Abschied über den Fjord und die großen Pötte reden, die darauf fahren, Wunder aus Stahl, erwacht rings um uns der Platz. Gerne könnte er belebter sein, sagt Kenneth. Er ist winters über Sozialarbeiter in Fredrikstad. Im Sommer hier in Borre auf dem saubersten, hochtechnisiertesten Platz, den ich bisher je in meiner Camperkarriere gesehen habe.
Solche Erlebnisse, die schon Tage zurück wie Treibgut im Erlebnisstrom schwimmen, könnte man als live Schreibender theoretisch und unter Auferbietung allen Fleißes chronologisch runternudeln und einen ellenlangen Text basteln – wäre da nicht die goldwerte Homebase, die im Prinzip das Skelett der Tour allabendlich Wirbel für Wirbel zusammensetzt, die Strecke skizziert und aus den Telefonaten, die sie mit dir, dem Liveschreibenden, führt sämtliche Infos extrahiert und an deiner Statt bloggt.
Dieser verflixte E6-Zubringer! LKW sind zum Glück rar, aber eine beidseits wie eine Schere auf Dich zurollende Kette von Autos, lässt verflixt nicht zu, dass Du diese Straße überqueren kannst. Ich verfluche den norwegischen Verkehrsminister. Der ist doch persönlich dafür haftbar, dass hier womöglich in Kürze größere Zeltlager beidseits der Straße entstehen, von verzweifelten, ungepflegten Radlern, die allesamt hier hängen geblieben sind, weil die Verkehrsplaner im Ministerium den Radweg auf die dicht befahrenste Straße Norwegens leiteten ohne eine Ampel oder einen Zebrastreifen einzuplanen. Stattdessen schieben sie den Leuten bei Larvik, diesem Lustvolk der modernen E 18-Mobilität, kilometerweise Wurst in den Hals. Wie viele Zebrastreifen kann man malen für einen Kilometer Bockwurst?
8. Juni 1974. Hantelsskole Sarpsborg, dritte Klasse. Der Bub steht an der Tafel und weint und weint. „Sieh genau hin, was haben wir denn letzte Stunde gelernt?,“ sagt der Lehrer. Mit Daumen und Zeigefinger knetet er das Ohrläppchen des Buben, so dass es knallrot wird, zieht seinen Kopf ganz nah an die Tafel, auf der eine Straße in Fluchtpunktperspektive gemalt ist mit einem Radweg nebendran. „Der Radweg soll nach links abzweigen, Bub! Nach Links! Du bist der Radler. Du weißt nicht, wo er weitergeht. Also? An welcher Stelle stellst du das Hinweisschild auf?“ Unsicher deutet der Junge auf einen hingekritzelten Baum links der Straße. „Neeiiin“, schreit der Lehrer, „Nein, nein und nochmals nein! Was haben wir denn gelernt? Hmm? Der Blick des Suchenden, Orientierungslosen führt stets nach rechts. So schreibt auch schon Ibsen. Rechts, rechts, rechts vom Radweg müssen die Schilder angebracht werden, sonst sieht sie keiner!“ Der Junge, Sverre K., soll nicht ahnen, dass er kaum dreißig Jahre später zum norwegischen Verkehrsminister ernannt wird.
Ich muss an all die Stories denken, die kleinen und die größeren, die ich seit drei Tagen im Kopf mit mir rumschleppe, unaufgeschrieben – Horten. Ich warte auf die Fähre, besuche ein Einkaufszentrum und finde in einem Gartencenter im zweiten Stock doch tatsächlich die nötigen Schlauchbinder, um meinen Gepäckträger zu flicken. Der Verkäufer hadert ewig mit dem Computer, um den Preis rauszufinden, nennt schließlich unglaubliche 130 Kronen, fast 20 Euro für zwei kleine Metallstücke. Insgeheim setze ich mir bei jeder Transaktion eine Schmerzgrenze von Preis, die ich bereit bin zu zahlen. Es soll mir nicht so gehen wie mit dem Öl, das fast 12 Euro gekostet hat und dass ich willig wie ein Schaf einfach bezahlt habe. 130 Kronen sind 65 über der Schmerzgrenze. In einer Mischung aus Trotz und Stolz sage ich nein. Später kann ich die Dinger in einer Autowerkstatt direkt beim Mechaniker für 30 Kronen kaufen.
„Stuck at the E6 – beautiful end of the Tour“, titele ich scherzhaft – dieser unüberquerbare Zubringer bei Halden ist geradezu prädestiniert, ihn als Aufhänger für einen Artikel zu benutzen, in dem ich die Situation schildere wie ich dort so vor mich hin stehe und versuche die Straße auf dem offiziellen Radweg nach Schweden zu überqueren. Kann ich mirnichtsdirnichts ganz salopp all das bisher nicht nieder geschriebene aus dem Erlebnisstrom reinpacken, boa eh, genial. Dem Norwegischen Verkehrsminister, den ich vor ein paar Minuten erfunden habe, kann ich eigentlich nur dankbar sein. Danke, Sverre K., jede Ähnlichkeit mit echten norwegischen Verkehrsministern ist rein zufällig.
Ein rotes Auto gefolgt von einem silbernen Auto und zwei Lastern macht den Anschein, für mich zu bremsen, mich hinüber zu winken, überlegt es sich aber anders, weil die Gegenspur ungerührt weiter dahin treibt. Wie so ein Radler wohl aussieht, von der Straße aus, die unüberquerbar ist?
Der Nummer 1-Radweg ist ab Moss vermutlich nur noch eine Theorie. Ab und zu ein Hinweisschild, das ins Nichts führt. Ich verirre mich bis Fredrikstad, wann war das? Mittwoch? Nehme zum Schluss einfach die stark befahrene 118, von der ich wenigstens weiß, wohin.
Tone, Jostein und Jon-Olaf, die Freunde von Hanne, erwarten mich schon. Herzlich der Empfang. Es ist wie heimkommen. Tusen Takk, Ihr Lieben! So genieße ich zwei Tage Ruhe ganz in der Nähe von Gamlebyen, der alten Festung von Fredrikstad.
Tone macht Sightseeing mit mir. Sie übernimmt die Organisation eines Pressetermins – zwei Journalisten interviewen und fotografieren uns. Die schlechten Radwege mit lebensgefährlichen Schlaglöchern sind ein heißes Thema dieser Tage. Tone hilft auch beim Handeln mit dem Fahrradhändler. Das Tretlager gibt seinen Geist auf. Da ist nichts mehr zu machen. Die modernen gekapselten Dinger kannst Du nur austauschen. Nix Fett rein und Kugeln tauschen. Wenn ich hochrechne, dass die Schlauchbinder das zehnfache kosteten, müsste das Tretlager auf ungefähr 400 Euro kommen. Ich fühle mich wie ein kleiner Bub, den man am Ohrläppchen zur Tafel zerrt. Die Schmerzgrenze für die Reparatur bei Gaarder Sykkelsport lege ich auf 800 Kronen, wenn teurer, lasse ich es darauf ankommen und radele das Lager vollends zu Schanden.
Herr Gaarder guckt grummelnd das Rad und zeigt mir ein federleichtes neues Lager für 450 Kronen, plus Einbau würde es 1000 kosten. Tone insistiert auf norwegisch, erklärt meine Kunstmission und erwähnt auch noch den Zeitungsartikel, der bald erscheinen wird. Gaarder grummelt und reibt sich das Kinn. Okay: 600. Ich bin baff und schlage ein. Ein beinahe mitteleuropäischer Spottpreis. Im Überschwang setze ich Gaarders Sykkelladen auf die Sponsoren der Herzen-Liste und verspreche, ihm ein Kunstposter zukommen zu lassen.
Abends gibts Pizza, eingeladen by Tone, Jostein und Jon-Olaf im ältesten Pizzarestaurant der Stadt, dem Pizzanini. Auch hier ein schmerztreibender Preis, so dass es mir schon fast unanständig vorkommt, eingeladen zu sein. Ich beschließe, mein Konzept der großen Geben- und Nehmenspirale auszubauen und in ähnlichen Fällen zu Hause, noch größeres Augenmerk darauf zu legen, zu geben, einzuladen, zu helfen, denn ist es nicht so, dass sich der Kreis aus Geben und Nehmen in der Regel schließt, irgendwo und irgendwann und dass es kontraproduktiv ist, alles was an guten Taten in dieser Welt fließt, direkt und 1:1 auszugleichen zu versuchen. Wir müssen die Kreise größer machen, wir müssen uns erlauben, uns selbst zu verlieren.
8. Juni 1974, 14:35. Seit Minuten steht Sverre K. an der Landstraße direkt gegenüber dem Haus seiner Familie. Der Verkehr ist so dicht, dass es keine Möglichkeit gibt, hinüber zu kommen. Der Schultag war schlimm. Sein Ohr ist noch immer knallrot. Schon überlegt der Bub, einfach drauflos zu laufen, die werden schon bremsen. Erstmal bis in die Mitte, dann weiter sehen, da kommt ihm die Idee: Im Verkehrserziehungsunterricht haben sie doch gelernt, dass man an Zebrastreifen einfach die Hand nach vorne hält, um den Wunsch zu signalisieren, dass die Autos endlich anhalten.
Mein Blick schweift über den E6-Zubringer. Die schwedische Grenze ist nur zwei Kilometer entfernt. Und hier nun soll es enden? Wegen zu vielen Autos auf mies ausgewiesenem Radweg! Ha! Beherzt tue ich das, was ich im Verkehrserziehungsunterricht gelernt habe, damals in der vierten Klasse. Halte die Hand nach Vorne, warte. Und tatsächlich, nach wenigen Sekunden stoppen beide Verkehrsströme, um mich hinüber zu lassen auf die andere Seite des Radwegs. So muss sich Moses gefühlt haben, als er einst das Rote Meer teilte, um die Kinder Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft zu führen.
(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)
„Wir müssen die Kreise größer machen, wir müssen uns erlauben, uns selbst zu verlieren.“ Ein Satz der nachdenklich macht …
Wunderbar beschrieben der Erlebnisstrom des Fließens, des erzwungenen Anhaltens und der Lösungssuche. Metapher zum „richtigen“ Leben. Stömen, fließen, mitreißen lassen und an Hindernissen stecken bleiben.
Eine hindernisfreie Fahrt, Zebrastreifen an den richtigen Stellen und gutes Radelwetter wünsch ich dir. Vor allen Dingen aber ein gut beschildertes Radwegenetz in Schweden.
Liebe Grüße, Szintilla
Szintilla, ich hab gestern schon vier Radwegschilder gesehen mit der Aufschrift Cykelspåret :-)
Aber die Straßen sind breit und mit Karte navigierend und dem Instinkt vertrauend finde ich gute Strecken.
Hi, lieber Irgendlink, obwohl ich voll sauer bin, weil der Sturm meine großen Artischocken im Garten umgeworfen hat, wollte ich dir doch noch ein MorgenHallo sagen. Der Verkehrsstrom und der stream of consciousness … Well, da der Bloomsday sich nähert (dazu nächste Woche mehr auf meinem Blog http://kbvollmarblog.wordpress.com) habe ich noch einmal James Joyce zu Hand genommen. Die Klassiker haben es eben drauf, super mit welchem Einfallsreichtum und welcher Sprachgewalt er den ewig fließenden Verkehrsstrom im Kopf gestaltet. Da du gerade aus Norge kommst, der gute Hamsun hat schon vor Joyce mit diesem stream of consciousness experimentiert, aber huch, so düster.
Ich schreibe gerade den Reisebericht meiner Expedition in die Hoch-Arktis als Roman um. Dafür schaute ich mir unter anderem Fontanes elegant milde ironisch geschriebenes Reisetagebuch „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ an (lohnt sich, da er technisch perfekt schreibt), naja und die Klassiker der Reiseliteratur von Bruce Chatwin über Australien und Patagonien, die vom Stil her nicht so spontan sind. Da liegt dir sicher mehr Jack Kerouac, dessen Naturschilderungen brillant sind – und der Rest … naja.
Huch, da kam meine Germanistenseele hoch, sorry! Aber mich interessieren Reisebeschreibungen, mehr jedoch Logbücher und Expeditionstagebücher. Und da sind wir wieder bei Norwegen. Ein Reisebericht, der mich fasziniert hat, war Nansen „In Nacht und Eis“, ein Werk, das schon Freud der kleinen Anna vorlas. Die Mischung von Philosophie, Traum, Erinnerung und Reiseerlebnis ist perfekt gewählt (ganz im Ggs. zu Adalbert von Chamissos „Reise um die Welt“ – ein Reisebericht, der das Mittel der Wahl für Leute mit Einschlafstörungen ist).
So, jetzt geht`s aber ab in den Garten und du radelst und philosophierst fein weiter.
Klausbernd und seine Buchfeen Siri und Selma wünschen dir bessere Radwege, wenig Autoverkehr und überhaupt alles, was dir gut tut.
Hab`s fein!
Klausbernd, das sind mal wieder gute Anhaltspunkte für die Zeit nach der Tour. Kerouac mag ich ja auch sehr zwiegespalten. Am Besten finde ich die letzte Seite in meiner Taschenbuchausgabe: „Wie schreibt man moderne Prosa“.
Handelt es sich bei den Artischocken um Artischocken?
die Hand nach vorne zu halten um den Strom zu stoppen ist eine echt gute Idee- das mach ich auch mal….
Ich hatte auf meiner Reise ein Tretlager und auch das Werkzeug dabei, eine gute Voraussetzung um gar nicht erst in Verlegenheit zu kommen. Und siehe da, mein Tretlager hat durchgehalten. Später habe ich gedacht, wenn ich noch einmal so eine Reise machen sollte, werde ich mich mit meiner schweren Werkzeugtasche nicht wieder belasten, ich hatte fast keine Schäden.
Als sich einmal mein vorderer Gepäckträger wegen einer zu schwach dimensionierten Schraube gelöst hatte, brachte das Gewicht der Packtaschen den Bowdenzug der Forderbremse schlagartig auf Spannung und veranlasste mein Fahrrad zu einer Vollbremsung. Eine passende Schraube hatte ich natürlich nicht dabei und so klingelte ich direkt bei dem Haus, vor dem ich gestoppt wurde. Der Hausherr fand zwar keine entsprechende Schraube in seiner Hobbywerkstatt, dafür besaß er aber ein Fahrradgeschäft im nächsten Ort, fuhr sofort los und holte die passende Schraube. Nachdem ich mein Fahrrad repariert hatte, gab es auch noch Kaffee und Kuchen und ich radelte glücklich weiter mit dem sicheren Gefühl, dass meine Reise unter einem guten Stern steht.
Ich bin mir ganz sicher, dass das Geben und Nehmen am Besten funktioniert, wenn man aufhört darüber nachzudenken ob sich alles ausgleicht. Ich glaube, dass ich alles bekomme was ich brauche und das nichts verloren geht, egal wo oder wem ich etwas gebe. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich das verstanden habe und dass es bei mir funktioniert.
Klar doch, echte ARTi schocken – die du wahrscheinlich in meinem Garten gesehen hast hinten in der NW-Ecke. Zu viel ART und da tat der Wind sie schocken und so kam das i hinzu, im nu.
Schönen Abend dir :-)
wünschen Klausbernd und Selma und Siri :-) :-) :-)
Auch von mir schönen Abend, lieber Irgendlink. Schade um die Artischocken, lieber Klausbernd. Die Artischocken haben eine fantastische Blüte. (Die ich im Renates Bild leider nicht erkannt habe, shame on me;
Schönes Wochenende!
:-)