Im Minenfeld europäischer Durchreisenotdürfte, oder ein neugieriger Reisender auf den Spuren eines einst gewesenen Ichs | #zwand20

Zwei blaue und zwei grüne Notizbücher aufgefächert wie ein Kartenblatt auf schwarzem Grund
Die beiden blauen Notizbücher der Reise Zweibrücken-Andorra 2000 und die beiden grünen (eins davon Clairefontaine) aus dem Jahr 2010.

Der Grenzübergang bei Mühlhausen ist ein unwirklicher, verlassener, ein bisschen verkommener Ort. Wo einst in den 1980er und 1990er Jahren dichter Trubel herrschte, sich der Reiseverkehr zwischen dem Breisgau und dem südlichen Elsass Autobahnspur für Autobahnspur in ein Nadelöhr fädelte, um von schwer bewaffneten Zöllnern beäugt, beargwöhnt, bestichprobt zu werden, befinden sich, beiderseits der Autobahn, neben den verlassenen ehemaligen Zollhäusern riesige Parkflächen, auf denen kaum ein Mensch anhält oder parkt. Nur hie und da ein einsamer Lastwagenfahrer, der seine Pause absitzt oder hinter den zugezogenen Vorhängen der Fahrerkabine den obligatorischen Nachtschlaf absolviert.

Im Jahr 2015 auf der Rückreise aus der Schweiz stoppe ich auf dem Gelände, um mir die Füße zu vertreten und, naja, die Blase drückt auch ein wenig, weshalb ich mich hinters Auto stelle und ins weite, flache Land der Rheinebene schaue, wasserlassend, ziemlich sicher, dass hier jegliche Überwachungstechnik längst abgebaut ist, außer Betrieb oder von Vandalierern zerstört. Irgendwo liegt ein bisschen Müll und hinter der kleinen Kuppe neben dem Parkplatz zieren verwitternde Toilettenpapierreste eine Art Minenfeld europäischer Durchreisenotdürfte. Etwas weiter im Süden erhebt sich ein Fabrikgebäude aus den Feldern, die zumeist mit Mais bepflanzt sind. Groß steht der Firmenname auf dem Klotz aus Blech und Beton und Stahl. ‚Clairefontaine‘.

Clairefontaine ist der Stoff, aus dem meine Notizbücher sind. Bunte, spiralgebundene Kladden im französischen Format 17 mal 22 Zentimeter, also ein bisschen größer als das hierzulande gebräuchliche Format DIN A 5. Der Stoff, in dem die Freiheit steht, denke ich und ich muss zurückdenken an meine beiden Reisen von Zweibrücken nach Andorra in den Jahren 2000 und 2010. Auf Eselpfaden und kaum befahrenen Departementsstraßen erforschte ich ein verschlafenes Frankreich bis runter zu den Pyrenäen und entdeckte ein postindustrielles Etwas mit geschäftigen Einsprengseln. Da die Reisen beide Male im Frühling stattfanden erinnere ich ein grünes, von Raps- und Schlehenblüten durchzogenes Bild. In die Büchlein notierte ich neben ganz normalen Tagebucheinträgen auch die wichtigen Notizen für mein Kunstprojekt, das ich während der Reise machte: alle zehn Kilometer ein Foto der Straße (la Dixkilometrie/ Zehnkilometrie) und überhaupt notierte ich grundsätzlich alle Bildstandorte in die Büchlein. Ungefähr so: 10 | 40 | OA Enchenberg -> Lemberg, beginn Regen‘. Also Bild Nummer 10 bei Kilometerstand 40.  Oder ’16 | 79,32 | Phalsbourg trocken!‘

Ich war mir im Jahr 2000 nicht im Klaren, was das sollte. Ich wusste nur, das Projekt, Frankreich per Fahrrad zu durchqueren und die Reise in Schrift und Text zu dokumentieren, will ich genau so durch führen. Ein Künstler, der sich mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln selbst eine Stimme gibt, egal, ob es jemand sieht oder nicht, egal, ob es jemand kauft oder nicht. Sogar die Null-Follower-Theorie, die ich später in Form dieses Weblogs kultivierte, steckte damals schon mit drin: Kümmere Dich nicht um Quoten und Erträge, tu‘ was du tust weil du das tust was du tun musst, um es zu tun, denn niemand sonst nimmt dir diese Arbeit ab. Unter rein wirtschaftlichen Aspekten betrachtet hätte das Projekt als Kunstprojekt nie stattgefunden. Es war keine Ausstellung geplant. Die Bilder würden, weil ich sie zufällig, unter dem Diktat der Zehnkilometrie machte, keine Glanzleistungen schön zu betrachtender Lullifulliebildchen werden, die man hätte im Nachhinein verkaufen können. Die brachialen Tagebuchtexte schwankten tagesformbedingt zwischen reinen Zwecknotizen und tauglicher Reiseliteratur. Das Konzept selbst, reisend, schreibend unterwegs zu sein war nicht mehr neu und ich, ein nur regional bekannter, im pfälzischen Hinterland lebender Künstler und Schriftsteller ohne akademisches Fundament, taugte auch nicht, um als personifiziertes Kunstwerk im Markt Fuß zu fassen.

‚Film 0‘ steht in der ersten Zeile der ersten Kladde. Daneben das Datum: 16.4.00. Im Bucheinband innen ist die Adresse vermerkt und die Worte ‚Gagnez 100 $ – send this Book et films/pelicules to […]‘. Für den Fall, dass ich unterwegs beraubt werde oder die Filme und die Tagebücher verlieren sollte.

Nun, zwanzig Jahre später, finde ich das ein bisschen drollig, aber auch höchst interessant. Ich versuche, mich dem alten Projekt ganz ohne Scham zu nähern, die man oft empfindet, wenn es um einen Selbst geht. Wenn man sich in den Dekaden seines Seins wieder findet und sich sagt, mein Gott, was für eine Frisur, was für Ansichten, welch‘ Naivität, wird den meisten Menschen etwas klamm und es kommt eine gewisse Scham auf … manchmal vielleicht auch positive Gedanken. Weder Scham, noch Stolz sollen diesen Versuch der Selbstrekonstruktion behindern. Ich möchte versuchen, die alten Tagebücher so zu lesen, als wäre ich ein fremder Forscher, der die Geschichte aufbereiten möchte. Ein neugieriger Reisender auf den Spuren eines einst gewesenen Ichs.

Höchst interessant finde ich zum Beispiel, dass ich schon auf den ersten Seiten des Reisetagebuchs eine sehr harte, ernstzunehmende Konsequenz zeige. Hundert Dollar Belohnung für den Fall, die eigenen Aufzeichnungen, die potentiell verloren gehen, werden gefunden und zurückgegeben. Damals und für mich viel Geld. Die ersten elf Blätter des ersten Tagebuchs sind aus einem anderen Buch herausgetrennt. Wurden sozusagen zusätzlich in die Kladde eingelegt. Vermutlich eine Mischung aus Sparen und nicht vergeuden wollen leerer Seiten in fast zu Ende geschriebenen Tagebüchern, doch das nur als Nebenbemerkung. Auch sollte ich erwähnen, dass von den beiden Tagebüchern der Reise im Jahr 2000 keines der Marke Clairefontaine ist und im Jahr 2010, in dem die Reise auf der eigenen Spur durch Frankreich ebenfalls in zwei Kladden notiert ist, ist nur das zweite ein Clairefontainebuch. Vielleicht habe ich diese Marke erst damals entdeckt?

Heute ist der offizielle Tourenstart für das diesjährige Radeltourenprojekt durch Frankreich. Fast zwanzig Jahre nach der ersten Reise und zehn Jahre nach der zweiten. Ein brillianter Frühlingstag. Die Vöglein zwitschern überm Dach der Künstlerbude. Sonne lacht. Ich fühle mich sehr sehr fit und könnte locker siebzig achtzig Kilometer radeln bis weit hinters lothringische Nachbarstädtchen Bitche. Auf dieser Karte habe ich ein noch blankes Board vorbereitet, in das ich von unterwegs die Strecke kopieren möchte und Bilder zeigen, sowie Anrisse der Blogtexte an den jeweiligen Übernachtungsplätzen zeigen möchte. Mein heutiges Tagesziel?, fragt vielleicht jemand. Nun, es wäre im Prinzip offen, aber ich hätte eine Schutzhütte bei den alten Schleusen unterhalb von Artzviller ins Auge gefasst. Etwa 90 Kilometer bis dorthin. Im Jahr 2000 verbrachte ich die erste Nacht auf dem Campingplatz außerhalb von Lutzelbourg im engen, von Güterzügen durchtosten Tal am Rhein-Marne-Kanal. 2010 schaffte ich es ’nur‘ bis ins Imsterfeld, der kleinen Mulde, in der , so glaubte ich bisher, das Flüsschen Ims oder Imster entspringt. Mitnichten! Die Google-Karte verrät, dass in dem Tal nördlich der Gemeinde La Petite Pierre ein Bach namens Niederbächel fließt. Ein Fluss namens Ims oder Imster ist im Eintrag französischer Flüsse auf Wikipedia nicht erwähnt.

Man sieht, wie arglos ich in die diesjährige Reise gestartet wäre und wieviele Rinnsale mit falschem oder unbekanntem Namen ich schon auf den ersten 100 Kilometern flankiert hätte.

Schon letzte Woche hatte ich vermutet, dass es wegen der Pandemie eventuell gar nicht möglich wäre, aufzubrechen (geschweige denn klug). Just heute Morgen wurde in Frankreich eine Ausgangssperre verhängt. Menschen dürfen nur noch mit triftigen Gründen das Haus verlassen: arbeiten, einkaufen, artztbesuchen und Sport alleine. Eine Europenner-Radeltour fällt leider nicht unter Letzteres.

Dieser Blogeintrag wurde in der Tourkarte als orangenes Symbol am Originalschauplatz der ‚Clairefontaine-Beobachtung‘ an der alten Grenzstation nahe Mühlhausen eingetragen.

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5 Antworten auf „Im Minenfeld europäischer Durchreisenotdürfte, oder ein neugieriger Reisender auf den Spuren eines einst gewesenen Ichs | #zwand20“

  1. Notdürfte, Gutwort! Konjuntivistisches Konstrukt.

    Ich freue mich auf deine Radtour im Konjunktiv. Vielleicht ein neues Literatur-Genre, das du da kreierst!?

    Gute Tour wünsch ich dir!

  2. Ach, schade. Bei der Frankreichtour hätte ich wieder gern mitgelesen. Aber irgendwann… Komischerweise habe ich gerade vor ungefähr einem Monat auch bewusst auf den Schriftzug „Clairefontaine“ geschaut und mich über die Hefte mit meinem Reisebegleiter unterhalten, als wir dort englangfuhren. Früher war er mir nie aufgefallen. Dann erstmal viel Spaß mit den alten Tagebüchern!

    1. Gell, das ist merkwürdig, wie einem die Dinge in den Blick kommen, so zufällig, scheints. Was die Reise betrifft, vielleicht mache ich es wirklich virtuell und dies war der erste Eintrag. Die Ideen kommen einem ja oft dann, wenn die Zeichen der Zeit sie erst ins Rampenlicht rücken. Die Grenze dort nahe Ottmarsheim dürfte übrigens jetzt wieder sehr bevölkert sein mit langen Staus.

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