Von Verirrungen, Ideen und ’nicht meinen‘ Gegenständen

Ich verliere den Überblick. Es bleibt mir nur, durch die Gänge meines Lebensgemäuers zu streifen, hie und da erinnernd, suchend, findend, staunend, von einem Stapel voller Dinge etwas zum anderen Stapel voller Dinge zu schichten, in der Hoffnung, es ordentlicher zu gestalten. Übersichtlicher. Logischer. Das Leben kennt aber keine Logik, also nicht in dem Sinn und nicht so, dass die Logik für den selbst in dem Leben steckenden verständlich wäre.

Wenn ich es recht bedenke, so muss ich mich als denjenigen betrachten, der an der Spitze seines Lebenswegs tapfer voranschreitet und erlebt. Leben und erleben. Dulden und erdulden. Denken und erdenken. Muten und vermuten.

Vermutlich stehe ich nahezu still. Bewege mich auf engstem Raum. Verliere mich in einer fetten Spur vergangener Dinge wie eine demente Spinne, die sich in ihrem eigenen Netz verfängt.

Immer wieder blicke ich zurück dieser Tage, ein paar Monate bis zu einem Jahr. Der Zustand ist nicht gut, wenn ich es mit dem Vergleiche, woran ich mich erinnere. Dass ich vor einem Jahr mächtig was wegschrieb mit Blogexperimenten, reisend ohne zu reisen und dabei eine Art wikipediabasierte Art entwickelte, Geschichten zu schreiben, die so klingen wie echt. Ich denke, das war schon ein bisschen revolutionär, also für meine Verhältnisse. Könnte mir denken, dass die Art Fiktives mit Wiki- und anderen Informationen zu vermischen und etwas Neues daraus zu gestalten, schon längst im Gange ist. Schließlich ist man nie alleine mit seinen Ideen. Ideen sind wie Pilz, der sich unsichtbar in Form von Sporen über weite Strecken ausbreitet, fruchtbaren Untergrund findet, günstige Bedingungen und der dann dort wächst in diesem oder jenem Hirn. Das Urheberrecht kann als eine Art ideeisches Fungizid betrachtet werden. Die Fußpilzsalbe der allgemeinen Einfälle, mit denen man die Flächen und Gehirne bestreicht, die nicht von der Idee befallen werden sollen.

Natürlich gibt es in seltenen Fällen auch einzigartige Ideen. Aber die Regel dürfte wohl sein, das ähnlich tickende Menschen in ähnlich durchlebten Zeiten auf ähnliche Gedanken kommen, aber nur, wer sich diese Gedanken schützen lässt oder als erster den Zeigerfinger reckt, ich ich ich Herrfrau Lehrerin, der darf die Früchte der Idee ausbeuten.

Es wäre vielleicht besser voranzukommen, gemeinsam und gut für alle, wenn man sich solidarisch zeigen würde, aber was weiß denn ich.

Nach einigen Aufräumtagen am Hof und etlichen Dreckecken weniger, gelang es, das Inventar aus Maschinen und Gegenständen und irgendwann von irgendwem Abgestelltem etwas besser zu verstehen. Ein Bild des eigenen Habs und Guts, das doch so ganz und gar nicht mir gehört, aber ich lebe darin und ich bin täglich damit konfrontiert, manchmal suchend, da war doch das und das, das könnte ich jetzt dringend gebrauchen, um dies und jenes, bloß wo liegt es, in der Werkstatt, der Garage, im Schuppen? In solchen Momenten muss ich mich immer bremsen, auf die Suche zu gehen, denn dann verliert man sich hier auf dem einsamen Gehöft ruckzuck. Lieber warten und finden, als suchen und enttäuscht irgendwann aufgeben. So lautet die Devise.

Vorhin sammelte ich einmal alle meine Publikationen. Neben echten gedruckten Büchern mit viel ISBN darauf, gibt es auch etliche Unikate Selbstdrucke. Ich brauche die Publikationen, um im September das offene Atelier etwas besser zu bestücken als letzten September.

Letzter September war schäbig. In der Durchfahrt der alten Scheune zwischen Staub und Abgestelltem hing die Kunst und konnte nicht so recht wirken. Zudem gab es wenige Besucherinnen, was mir aber gerade recht war.

War im letzten Herbst schon die Luft raus? Zweifellos ja. Ich hatte zwar noch zwei Kunst- und Literaturprojekte angezettelt, den Passfälscher und Circulum Vertikalis. Es fehlte aber an der Kraft, so dass ich sie nur halbherzig anging.

Ich bin zuversichtlich, dass es wieder besser wird. Ich weiß, dass mein eigentlicher Platz, bzw. die Position, von der ich am besten arbeiten kann und die besten Texte schreibe, an der Spitze einer aktiven Reise ist. Nur unterwegs läuft das Hirn auf Hochtouren, finde ich selbst den roten Faden, der mir nötig ist, um weiterzumachen. Daheim, im Stillstand, verzettele ich mich, lenkt mich zu vieles Artfremdes ab, verliere ich mich in den Vergangenheiten meiner Vorfahren, Freunde, Bekannten und zwischen deren Gegenständen, die sie allesamt hier auf dem Gehöft, das mir doch gar nicht gehört, dessen Hausmeister ich bestenfalls bin, abgestellt haben.

Manchmal, nein oft, frage ich mich, wer ich selbst bin, was mir gebührt, anhängt, welcher Gegenstand nur von mir stammt und dann komme ich zu der Gewissheit, dass das Wenigste mir gehört, ich am Wenigsten dafür Verantwortung übernehmen müsste und ich eigentlich so gut wie nackt dastehe. Zwei Schubladen voller Kleider, Schubladen, die nicht mir gehören, ein paar Fahrräder, ein Zelt. Selbst ein Blick in die Besteckschublade oder den Küchenschrank zeigt mir, dass sich darin keine Gegenstände befinden, die ich selbst gekauft habe.

Mein eigentliches Ich? Das Hirn mit den Gedanken und Ideen und den Plänen für die Bücher, aber ständig lenkt Äußeres ab, ständig dieses Gefühl erst einmal die Außenwelt in Ordnung zu bringen, die mich eigentlich nichts angehen müsste, ehe ich mit der eigenen Innenwelt anfangen darf. Daran krankt mein Vorankommen.

Bearbeitet und veröffentlicht am 25. September 2022. Eventuell als Vorwort nutzen für ein eventuelles Buchprojekt ‚Zweibrücken-Andorra‘.

Im Minenfeld europäischer Durchreisenotdürfte, oder ein neugieriger Reisender auf den Spuren eines einst gewesenen Ichs | #zwand20

Zwei blaue und zwei grüne Notizbücher aufgefächert wie ein Kartenblatt auf schwarzem Grund
Zwei blaue und zwei grüne Notizbücher aufgefächert wie ein Kartenblatt auf schwarzem Grund
Die beiden blauen Notizbücher der Reise Zweibrücken-Andorra 2000 und die beiden grünen (eins davon Clairefontaine) aus dem Jahr 2010.

Der Grenzübergang bei Mühlhausen ist ein unwirklicher, verlassener, ein bisschen verkommener Ort. Wo einst in den 1980er und 1990er Jahren dichter Trubel herrschte, sich der Reiseverkehr zwischen dem Breisgau und dem südlichen Elsass Autobahnspur für Autobahnspur in ein Nadelöhr fädelte, um von schwer bewaffneten Zöllnern beäugt, beargwöhnt, bestichprobt zu werden, befinden sich, beiderseits der Autobahn, neben den verlassenen ehemaligen Zollhäusern riesige Parkflächen, auf denen kaum ein Mensch anhält oder parkt. Nur hie und da ein einsamer Lastwagenfahrer, der seine Pause absitzt oder hinter den zugezogenen Vorhängen der Fahrerkabine den obligatorischen Nachtschlaf absolviert.

Im Jahr 2015 auf der Rückreise aus der Schweiz stoppe ich auf dem Gelände, um mir die Füße zu vertreten und, naja, die Blase drückt auch ein wenig, weshalb ich mich hinters Auto stelle und ins weite, flache Land der Rheinebene schaue, wasserlassend, ziemlich sicher, dass hier jegliche Überwachungstechnik längst abgebaut ist, außer Betrieb oder von Vandalierern zerstört. Irgendwo liegt ein bisschen Müll und hinter der kleinen Kuppe neben dem Parkplatz zieren verwitternde Toilettenpapierreste eine Art Minenfeld europäischer Durchreisenotdürfte. Etwas weiter im Süden erhebt sich ein Fabrikgebäude aus den Feldern, die zumeist mit Mais bepflanzt sind. Groß steht der Firmenname auf dem Klotz aus Blech und Beton und Stahl. ‚Clairefontaine‘.

Clairefontaine ist der Stoff, aus dem meine Notizbücher sind. Bunte, spiralgebundene Kladden im französischen Format 17 mal 22 Zentimeter, also ein bisschen größer als das hierzulande gebräuchliche Format DIN A 5. Der Stoff, in dem die Freiheit steht, denke ich und ich muss zurückdenken an meine beiden Reisen von Zweibrücken nach Andorra in den Jahren 2000 und 2010. Auf Eselpfaden und kaum befahrenen Departementsstraßen erforschte ich ein verschlafenes Frankreich bis runter zu den Pyrenäen und entdeckte ein postindustrielles Etwas mit geschäftigen Einsprengseln. Da die Reisen beide Male im Frühling stattfanden erinnere ich ein grünes, von Raps- und Schlehenblüten durchzogenes Bild. In die Büchlein notierte ich neben ganz normalen Tagebucheinträgen auch die wichtigen Notizen für mein Kunstprojekt, das ich während der Reise machte: alle zehn Kilometer ein Foto der Straße (la Dixkilometrie/ Zehnkilometrie) und überhaupt notierte ich grundsätzlich alle Bildstandorte in die Büchlein. Ungefähr so: 10 | 40 | OA Enchenberg -> Lemberg, beginn Regen‘. Also Bild Nummer 10 bei Kilometerstand 40.  Oder ’16 | 79,32 | Phalsbourg trocken!‘

Ich war mir im Jahr 2000 nicht im Klaren, was das sollte. Ich wusste nur, das Projekt, Frankreich per Fahrrad zu durchqueren und die Reise in Schrift und Text zu dokumentieren, will ich genau so durch führen. Ein Künstler, der sich mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln selbst eine Stimme gibt, egal, ob es jemand sieht oder nicht, egal, ob es jemand kauft oder nicht. Sogar die Null-Follower-Theorie, die ich später in Form dieses Weblogs kultivierte, steckte damals schon mit drin: Kümmere Dich nicht um Quoten und Erträge, tu‘ was du tust weil du das tust was du tun musst, um es zu tun, denn niemand sonst nimmt dir diese Arbeit ab. Unter rein wirtschaftlichen Aspekten betrachtet hätte das Projekt als Kunstprojekt nie stattgefunden. Es war keine Ausstellung geplant. Die Bilder würden, weil ich sie zufällig, unter dem Diktat der Zehnkilometrie machte, keine Glanzleistungen schön zu betrachtender Lullifulliebildchen werden, die man hätte im Nachhinein verkaufen können. Die brachialen Tagebuchtexte schwankten tagesformbedingt zwischen reinen Zwecknotizen und tauglicher Reiseliteratur. Das Konzept selbst, reisend, schreibend unterwegs zu sein war nicht mehr neu und ich, ein nur regional bekannter, im pfälzischen Hinterland lebender Künstler und Schriftsteller ohne akademisches Fundament, taugte auch nicht, um als personifiziertes Kunstwerk im Markt Fuß zu fassen.

‚Film 0‘ steht in der ersten Zeile der ersten Kladde. Daneben das Datum: 16.4.00. Im Bucheinband innen ist die Adresse vermerkt und die Worte ‚Gagnez 100 $ – send this Book et films/pelicules to […]‘. Für den Fall, dass ich unterwegs beraubt werde oder die Filme und die Tagebücher verlieren sollte.

Nun, zwanzig Jahre später, finde ich das ein bisschen drollig, aber auch höchst interessant. Ich versuche, mich dem alten Projekt ganz ohne Scham zu nähern, die man oft empfindet, wenn es um einen Selbst geht. Wenn man sich in den Dekaden seines Seins wieder findet und sich sagt, mein Gott, was für eine Frisur, was für Ansichten, welch‘ Naivität, wird den meisten Menschen etwas klamm und es kommt eine gewisse Scham auf … manchmal vielleicht auch positive Gedanken. Weder Scham, noch Stolz sollen diesen Versuch der Selbstrekonstruktion behindern. Ich möchte versuchen, die alten Tagebücher so zu lesen, als wäre ich ein fremder Forscher, der die Geschichte aufbereiten möchte. Ein neugieriger Reisender auf den Spuren eines einst gewesenen Ichs.

Höchst interessant finde ich zum Beispiel, dass ich schon auf den ersten Seiten des Reisetagebuchs eine sehr harte, ernstzunehmende Konsequenz zeige. Hundert Dollar Belohnung für den Fall, die eigenen Aufzeichnungen, die potentiell verloren gehen, werden gefunden und zurückgegeben. Damals und für mich viel Geld. Die ersten elf Blätter des ersten Tagebuchs sind aus einem anderen Buch herausgetrennt. Wurden sozusagen zusätzlich in die Kladde eingelegt. Vermutlich eine Mischung aus Sparen und nicht vergeuden wollen leerer Seiten in fast zu Ende geschriebenen Tagebüchern, doch das nur als Nebenbemerkung. Auch sollte ich erwähnen, dass von den beiden Tagebüchern der Reise im Jahr 2000 keines der Marke Clairefontaine ist und im Jahr 2010, in dem die Reise auf der eigenen Spur durch Frankreich ebenfalls in zwei Kladden notiert ist, ist nur das zweite ein Clairefontainebuch. Vielleicht habe ich diese Marke erst damals entdeckt?

Heute ist der offizielle Tourenstart für das diesjährige Radeltourenprojekt durch Frankreich. Fast zwanzig Jahre nach der ersten Reise und zehn Jahre nach der zweiten. Ein brillianter Frühlingstag. Die Vöglein zwitschern überm Dach der Künstlerbude. Sonne lacht. Ich fühle mich sehr sehr fit und könnte locker siebzig achtzig Kilometer radeln bis weit hinters lothringische Nachbarstädtchen Bitche. Auf dieser Karte habe ich ein noch blankes Board vorbereitet, in das ich von unterwegs die Strecke kopieren möchte und Bilder zeigen, sowie Anrisse der Blogtexte an den jeweiligen Übernachtungsplätzen zeigen möchte. Mein heutiges Tagesziel?, fragt vielleicht jemand. Nun, es wäre im Prinzip offen, aber ich hätte eine Schutzhütte bei den alten Schleusen unterhalb von Artzviller ins Auge gefasst. Etwa 90 Kilometer bis dorthin. Im Jahr 2000 verbrachte ich die erste Nacht auf dem Campingplatz außerhalb von Lutzelbourg im engen, von Güterzügen durchtosten Tal am Rhein-Marne-Kanal. 2010 schaffte ich es ’nur‘ bis ins Imsterfeld, der kleinen Mulde, in der , so glaubte ich bisher, das Flüsschen Ims oder Imster entspringt. Mitnichten! Die Google-Karte verrät, dass in dem Tal nördlich der Gemeinde La Petite Pierre ein Bach namens Niederbächel fließt. Ein Fluss namens Ims oder Imster ist im Eintrag französischer Flüsse auf Wikipedia nicht erwähnt.

Man sieht, wie arglos ich in die diesjährige Reise gestartet wäre und wieviele Rinnsale mit falschem oder unbekanntem Namen ich schon auf den ersten 100 Kilometern flankiert hätte.

Schon letzte Woche hatte ich vermutet, dass es wegen der Pandemie eventuell gar nicht möglich wäre, aufzubrechen (geschweige denn klug). Just heute Morgen wurde in Frankreich eine Ausgangssperre verhängt. Menschen dürfen nur noch mit triftigen Gründen das Haus verlassen: arbeiten, einkaufen, artztbesuchen und Sport alleine. Eine Europenner-Radeltour fällt leider nicht unter Letzteres.

Dieser Blogeintrag wurde in der Tourkarte als orangenes Symbol am Originalschauplatz der ‚Clairefontaine-Beobachtung‘ an der alten Grenzstation nahe Mühlhausen eingetragen.

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