Zack und weg

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Jøssefjord, 27. Mai 1918. Zwei Ingenieure aus Haugesund reißen mich jäh aus dem Schlaf. Höhnisch begrüßen sie mich mit: „Na, Junge, unter welchem Stein hast du dich denn verkrochen?!“

Was ist das für eine intolerante Welt, in der man nicht sein darf, wie man will. Vor dem großen Krieg habe ich mich hierher zurückgezogen. Der Felsen, der vielleicht einmal hoch oben auf dem Helleren gelegen hat, ist so glücklich gefallen, dass er eine kleine Höhle bildet, direkt am Bach. Den Fjord erreicht man nur über das Meer, oder über einen waghalsigen steilen Pfad, den man mit Maultieren gerade so begehen kann. Die Suche nach Ruhe hat mich hierher getrieben. Das Geknatter der neuartigen Dieselmaschinen in Oslo und den großen Städten war nicht mehr auszuhalten. Die Kriegshetze in der ganzen Welt, die Zeitungen voller schlechter Nachrichten, Revolution in Russland. Die Aristokratie steht kopf. Entweder geht die Welt bald unter, oder sie wird sich grundlegend erneuern. Durch radikale Maßnahmen.

Ich habe meine kleine Höhle mit Stroh gepolstert, lebe von Fischen aus dem Meer und pflücke oben in den Bergen Blaubeeren. Die Fischersleute in den beiden Hütten unter dem Helleren geben mir manchmal etwas ab. Einfache Leute, die weder lesen, noch schreiben können, aber sie haben das Herz am rechten Fleck. In der Enge ihrer Welt sind sie dennoch tolerant. Und nun diese beiden Fatzkes von Ingenieur. Ha! Eine Straße wollen sie bauen. Mit Tunneln und Serpentinen, damit man mit den Dieselmaschinen die Küste erschließen kann. Wozu?

Schon in drei Jahren, sagen sie, soll das Jahrhundertprojekt fertig sein. Da interessiert es doch niemanden, ob du kleiner Mysil Bergsprekken dich zum Nachdenken unter diesem Stein verkriechst, höhnen sie, auf dem Felsen wird die Welt tanzen, wenn du längst vergessen bist.

Beauty, beauty, beauty! Die etwa sechs Kilometer lange Strecke des Vestlandske Hovedveien, an dem ich übernachtet habe, lässt sich wohl kaum toppen. Da rüttelt auch die schwere Beradelbarkeit mit vollbepacktzem Rad nichts dran. Steigungen von vielleicht dreißig Prozent, für ein-, zweihundert Meter, machen mich immer wieder absteigen und der lose Split, in den die Reifen einsinken, macht auch die Abfahrten zum Wagnis.

Nach einer halben Stunde erreiche ich bei Hegrestad das andere Ende dieses Wurmlochs der Pittoreskizität. Die Strecke ist als Wanderweg empfohlen, dauert zweieinhalb Stunden pro Richtung. Meine Empfehlung pur.

Das war noch nicht alles. Nach kurzer Passage auf der Küstenstraße 44 schwingt sich die Radroute auf der Trasse eines alten Bahndamms Richtung Egersund. Auch hier Steigungen von bis zu dreißig Prozent, da der Bahndamm nicht konsequent genutzt werden konnte und man eine Ersatzroute entlange von glasklaren Seen durch feine Birkenwäldchen bauen musste. Egersund.

In einem Café kaufe ich Softeis, lade iPhone und Akku. Vor der einzigen Steckdosengruppe sitzt ein Mann mit schwarzem T-Shirt und Computer. Auf dem Tisch liegt eine Baseballmütze mit der Aufschrift Jesus loves you. Er lächelt mich an und bedankt sich, als ich ihm mein iPhone reiche. „Das wäre doch nicht nötig“, grinst er. Aus der Tasche kramt er vier alte Handys, legt sie auf den Tisch, erzählt seine Lebensgeschichte, während er mich sogleich an meinem Akzent als Deutschen identifiziert, er spreche Französisch, Englisch, Deutsch, Mandarin und Japanisch und in der Schule habe seine Lehrerin ihn gerügt, weil er amerikanisches Englisch gesprochen hätte, woraufhin seine Mutter einen Brief geschrieben habe, in dem sie die Lehrerin aufgeklärt habe, dass sie ihn bitte nie wieder deswegen rügen solle, weil das ein gleichwertiges Englisch sei und er es bestimmt besser könne, als sie ihr mühsam auf der Unis zusammen gestoppeltes englische Englisch.

Ein fünftes Handy klingelt in seiner Brusttasche, er liest die SMS, da stünde nämlich der Preis drin für die Gitarre, die er kaufen wolle. Puuh. Trotz all dem Speed werde ich langsam müde, sinke ab, kaufe am Tresen Kaffee, das iPhone und der Zusantzakku hängen sicher hinterm Sitzplatz meines neuen Freunds. Wir schweigen.

Später erzählt er mir, dass er schon zwei Mal tot war. Herzinfarkt. Und als Folge kurze Zeit später ein Schlaganfall. Ich muss unwillkürlich an den amerikanischen GI denken, den ich in Wheems auf den Orkneys getroffen hatte. Tot, zurück im Leben, umso vitaler, umso genüsslicher, umso kostbarer wird alles um uns herum. Als ob ich das in gemilderter Form nicht auch schon erlebt hätte. Auf dem Klo sei es passiert, plötzlich konnte er seine linke Körperseite nicht mehr spüren, seine Beine nicht bewegen, der Arm hing schlaff. Er ganz alleine im Haus, das Handy nur wenige Meter entfernt im Flur. Mit der rechten Hand habe er sich festgehalten und erst einmal überlegt, wie er ans Handy komme. Er hatte nur eine Chance, musste sich den Weg, die wenigen Meter zur Rettung von dem, was vielleicht übrig bleiben würde von ihm, zurechtdenken. Schritt für Schritt einen gewagten präzisen Sturz durch die Klotür zum Handy vorausplanen, als wäre er Trapezkünstler. Der Dreifachsalto rückwärts des nackten Überlebens. Nach fünf Minuten war die Ambulanz da, nach 39 Minuten war er in der Stoke Unit des örtlichen Krankenhauses, die Polizei sei vor dem Krankenwagen hergejagt mit Blaulicht. Packend, das gebe ich zu. Seither glaube er an Gott. Seither hinke er, genau wie Jakob, der Vater Israels.

Nach einer Stunde verlasse ich das Café. Egersund ist ruhig geworden. Flaggen hängen vor den Häusern. Die Läden schließen. In einem Supermarkt kaufe ich das Nötigste. An der Kasse liegt eine Zeitung, auf deren Titelblatt von Herzkammerflimmern die Rede ist und den hohen Gefahren, die damit einhergehen. Diese seltsamen Fingerzeige wie aus dem Nichts machen mir Angst, der Mann im Café und nun das – will mir das etwas sagen?

Auf den nächsten Kilometern über die alte Küstenstraße 44 radele ich sehr bedacht, bloß nicht anstrengen, steige an starken Steigeungen vom Radel, atme tief und ruhig. Trotzdem nimmt der Handel mit Unwahrscheinlichkeiten einen gewissen Raum ein: was wäre, wenn mir unterwegs das Herz flimmern würde? Mutterseelenallein, zack, weg! Tut es aber nicht. Hat es noch nie getan, beruhige ich mich. Und wenn, vielleicht wäre es wie mit dem geplatzten Reifen. Er hätte können auch bei sechzig Sachen bergab platzen. Zack und weg. Viel Glück in wenig Unglück, das ist meine Welt.

Wenn man das weniger schöne Stück Radweg zwischen zehn Kilometer nördlich von Haugesund und zwanzig Kilometer südlich von Stavanger wegdenkt, hat man von Bergen bis hierher in den Jøssefjord ein Stück Allererste-Sahne-Radweg vor sich, die vielleicht beste Radelstrecke, die ich je geradelt bin.

Eigentlich ist es geradezu ein Muss, dass es um die Großstadt Stavanger mit ihren 120.000 Einwohnern nicht Eitelsonnenscheinlullifullieradeln sein kann.

In Hauge ist gegen achtzehn Uhr endgültig Feiertagsstimmung. Die Stadt ist beflaggt. Rummelplatzmusik. Ein hyperaktives Kind nervt auf dem im Abbau befindlichen stillen Flohmarkt mit einer Presslufthupe à la Fußballstadion. Auf dem Friedhof fülle ich meine Wasserflaschen, rede mit einem gebeugten, traurigen Alten, der nur norwegisch kann, verstehe ihn dennoch. Das Wasser sei gut, jung, komme aus den Bergen, zeigt er nach Süden. Stroke. Alle werden irgendwann gegangen sein und du weinst über ihren Gräbern an einem Pfingstwochenende in nicht ferner Zukunft, gewiss reichen die Finger deiner linken Hand, um die Jahre zu zählen, faltig, müde, die dir selbst noch bleiben.

Südlich von Hauge schufte ich mich etwa drei Kilometer bei einer gefühlten Zwölfprozentsteigung berghoch. Eines der stärksten Steigungsstücke auf der bisher etwa dreieinhalbtausend Kilometer langen Ums Meer-Runde. Der Reschenpass, den mir eine hysterische Münchnerin auf dem Campingplatz in Stavanger angekündigt hat, ist bisher ausgeblieben. Ich glaube, er wird auch nicht kommen. Die kleinen, fiesen Stücke der Küstenroute haben es dennoch in sich. Ich vergleiche sie gerne mit dem Kalköfer Weg, der aus dem Dörfchen Kirrberg hinauf führt auf die Sickinger Höhe. Ihn habe ich oft benutzt, um von der Arbeit nach Hause zu kommen. Etwa sechzig Höhenmeter sind auf einer steilen, ungeteerten Strecke in einem Hohlweg zu überwinden. Auch ohne Gepäck musste ich dort stets schieben. Wobei ich mir die etwa hundertfünfzig Doppelschritte lange Strecke in drei vier Stücke unterteilte, immer wieder stoppen und Atem holen.

Im Fjordland lege ich am Tag zig solcher Schiebeetappen zurück und bin erstaunt, dass ich ohne Pause meine Doppelschritte tun kann. Die Zwölfprozentsteigung zum Pass über dem Jøssefjord klappt fahrend im ersten Gang. Auf einem Parkplatz treffe ich drei Kölner, die seit Jahren ein Ferienhaus in der Gegend besitzen. Man klärt mich auf über die weltgrößte Titanmine im Felsmassiv gegenüber. Der Fels wird schneeweiß, wenn man ihn zermahlt und man benutzt ihn als Farbpigment.

Von Geisterstädten berichten sie, verlassenen Bergwerken, und direkt unter uns, paar zig Meter tiefer, seien die Fischerhütten von Helleren, gebaut im 19. Jahrhundert unter einem sechzig Meter langen und zehn Meter breiten Felsvorsprung. Dort könne ich sicher übernachten. Das Freilichtmuseum ohne jegliche Aufsicht und Eintritt sei immer offen. Oder aber, ich könne in der Höhle von diesem Freidenker, einem Schriftsteller, sagen sie, übernachten, der vor bald hundert Jahren eine Weile nachdenkend in dem idyllischen Fjord verbracht hat.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

6 Antworten auf „Zack und weg“

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