Von Great Ayton nach Sunderland quer durchs Ruhrgebiet

Newcastle, Tynemouth, Washington, Roker, Gateshead, Sunderland und noch so viele mehr. Auf der Karte sieht die Gegend, die ich anpeile, aus, wie ein riesiger, verstädterter Komplex. Pack noch ein Middlesbrough drauf, das laut Straßenschildern nur acht Meilen von Great Ayton entfernt ist. Und all die anderen kleinen bis mittleren Örtchen; Stockton, Teesside, Hartlepool. Ein Gewirre aus rot eingezeichneten, also stark befahrenen Straßen, das aussieht wie das Adergeflecht auf der Nase eines Alkoholikers, durchzieht die Straßenkarte. Pack noch zahlreiche grüne, höllisch befahrene Straßen mit drauf.

Die Enttäuschung von Fletcher’s schmutziger, überteuerter Farm im Rücken und die mutmaßliche Ruhrgebietsdurchquerung auf der Karte vor Augen, treibt mich der Nordwestwind zunächst landeinwärts. Stets den Radwegschildern folgend, sause ich an Seamer vorbei, wo ich eigentlich nach Norden abbiegen wollte, um einen guten Zipfel “Radweg umsonst” abzukürzen. Verpasse die Abzweigung. Dadurch verlängert sich mein Weg nach Middlesbrough um mindestens zehn Meilen. Ein Trost sind etliche Samstagsradler, die mir begegnen, mich überholen, die perfekte Simulation, nicht alleine zu sein, umringt von Gleichgesinnten, die mich immer wieder ansprechen, woher, wohin? Und das ist das stille Mantra des Reisenden, das einen nach und nach in einer Art silberne Lethargie verfallen lässt.

Beinahe taub am ganzen Körper erreiche ich den Moloch und stürze mich kurz vor Middlesbrough ins Hauptstraßengewirre, weil ich keine Lust habe, den Stadtradwegen, die labyrinthisch durch Parks verlaufen, zu folgen. Halte, mit der Sustrans-App navigierend, direkt auf die Schlüsselstelle zu, eine Brücke, die einen Fluss überquert, der womöglich Tees heißt. Das grüne Stahlmonster hat etwas von einem Krokodil, finde ich. Neben den Hauptstraßen befindet sich fast immer auch ein Radweg, der sicher ist. In Kreisverkehren und über Autobahnzubringer, muss man mittels Fußgänger- und Radlerampeln navigieren, was einen schon mal fünf Minuten kostet, ehe man einen dreispurigen Kreisverkehr mit sechs bis acht Ausfahrten durchquert hat. Besser, als darin umkommen ist es allemal. So rücksichtsvoll die Engländer auf den Countryroads fahren, so gnadenlos metzeln sie in den Stadtkreiseln.

Raus Richtung Billingham, oder mitten durch? Eine beklemmende Gegend mal wieder. Der Weg führt durch parkähnliche, längliche Grünstreifen, hinter denen sich Wohngebiete befinden. Angsteinflößend ist, dass sie allesamt von drei Meter hohen Zäunen umgeben sind. Trutzburgen mal wieder. Haben die Engländer solche Angst oder ist das Land so gefährlich, bzw. diese Gegend? Überall Neighbourhoodwatch-Schilder, Überwachungskameras. Eine Alarmanlage surrt in der Ferne und eine Polizeisirene. Meine Hysterisierungsidee kommt mir wieder in den Sinn. Die Beklemmung ist ähnlich groß, wie südlich von London. Auch sind die Parkwege durch sehr enge Stahlbarrieren geschützt, die alle paarhundert Meter verhindern sollen, dass die Motorradgangs meiner Phantasie mit ihren Crossmaschinen in die Parks eindringen. Es ist Millimeterarbeit, das Fahrrad mitsamt Gepäck durch diese Schleusen zu navigieren. Kann ich in meiner Statistik für den Tag wohl eine knappe Stunde Verkehrskreiselüberquerung rechnen und pack noch eine halbe Stunde Motorradgangbarrieren hinzu.

Lieblich lächelt ein Golfplatz hinter einem blaugrauen Stahlzaun mit Stacheldraht obendrauf. Zwei Streifenpolizisten zu Fuß auf dem Parkweg regen meine Phantasie noch mehr an: die Gegend MUSS gefährlich sein, wenn die schon im Park patrouillieren. Böser Mann mit Hund auf 11 Uhr, Jugendbande, gelangweilt mit Bierdosen kickend, auf 5 Uhr. Hinter Billingham mündet der imaginäre Spießrutenlauf in einen Bahntrassenradweg. Meine Potemkinschen Heroinsüchtigen auf Entzug verwandeln sich schlagartig in ganz normale Samstagsspaziergänger, aus Kampfhunden sind Terrier geworden, die Motorradgangs entpuppen sich als Ladies, die auf Haflingern gemütlich in den Tag trotten. Außer dass es stürmt und eiskalt ist, ist der Tag in der Tat schön. Immer wieder muss ich Spaziergängern erklären, woher ich komme, wohin ich will. Ein Radler gibt mir ungefragt den Wetterbericht: von Norden zieht ein Sturm heran, von Süden ein Regengebiet. Viel Spaß morgen. Mit einem mulmigen Gefühl radele ich weiter. Einmal mehr wird mir klar, wie kontraproduktiv es sein kann, zu wissen.

Ich erinnere mich, dass SoSo mir nach Robin Hood’s Bay eine Wettervorhersage für Edinburgh gemailt hat, die für eine volle Woche Sonne und Temperaturen um 30 Grad prognostizierte. “Ein Scherz?” maile ich zurück und radele dennoch mit einem guten Gefühl los. Im Kopf hat sich gutes Wetter verankert. Abends, beim Mailabrufen, erfahre ich die Wahrheit. Zwar kein Scherz, aber ein Bug in der Wetter-App. Kommt manchmal vor.

Der Bahntrassenradweg führt auf grauer Asche bis ins County Durham und endet erst kurz vor Sunderland. Zwischen Haswell und Murton wird es noch einmal unheimlich. Die Trasse ist über und über mit Glas verschmutzt, das von Brücken geworfen wurde. Seltsame Kerle treiben so eine Art Sport, ach, wie heißt das noch Mal, sie springen auf Mauern, überklettern Bäume und alles, was ihnen in den Weg kommt. Jungs mit Kapuze. Im Windschatten eines Seemanns, der mit dem Mountainbike trainiert, mogele ich mich an ihnen vorbei. Der Radweg führt über hunderte Meter auf einem Holzsteg in dem zum Teich gewordenen Einschnitt. Schmutz, kaputte Fernseher, Kühlschränke in friedlicher Einheit mit Schilf und Enten. Kurz später mündet er auf einer ebenen Fläche, die aussieht wie ein Motocrossplatz. Pechschwarze Erde. Vermutlich eine Art Abraumhalde. Die Bahn wurde einst gebaut, um Kohle zu transportieren, die in der Gegend gefördert wurde.

In Sunderland gäbe es einen B&B-Strich, sagt man mir, direkt an der Coastside. Kurz vor der Stadt dann doch noch Regen. In einer versprayten Unterführung ziehe ich die Regenkleider an. Groooßer Fehler! Im Gegenlicht etwa zehn Personen, kommen direkt auf mich zu, wild wuselnd. Da ist sie nun, die gemeine Jugendbande, die dich um dein Smartphone bittet, die Kreditkarte, den Geldbeutel. Und du stehst da mit herunter gelassener Hose und offenen Schuhen … die Jungs und Mädels bleiben unmittelbar vor mir stehen. Aber, anstatt mich auszurauben, beschäftigen sie sich, laut gestikulierend, mit den Graffitis an der Betonwand. “Guck, das da hat der und der gemacht und Jenes ist von Jener und dies von mir …” etc.

Ziemlich gute Kunstwerke finde ich im weiteren Verlauf an den Betonwänden der Stadt. Muss an Biel/Bienne denken, wo sich in einem alten Fabrikgelände ähnlich starke Graffiti-Kunst befindet.

Die George Avenue und die Küstenstraße in Roker empfiehlt mir jemand als den B&B-Strich von Sunderland. Ein Gästehaus reihe sich ans andere. Sunderland ist recht entspannt zu durchqueren. Kaum Verkehr, Radweg gut beschildert. (Ich weiß nicht, ob Roker ein Stadtteil ist, oder eine eigenständige Gemeinde. Es ist schwer zu erkennen in diesem Konglomerat aus Gemeinden, wo man sich gerade befindet). Universitätsgelände, Fußgängerzone, Menschen auf dem Weg in den Samstagabend. Zwei Kerle strippen vor einem Pub ihre T-Shirts, lachen sich kaputt, imponieren niemandem. Lockere Atmosphäre. Ganz das Gegenteil von Middlesbroughs Außenbezirken.

Ich habe mich für 28 Pfund in einem B&B an der Küste einquartiert, werde den Sonntag hier verbringen. Der Sturm ist heftig. Ich würde kaum zehn Meilen schaffen und Regen soll es auch geben ab Nachmittag.

Zwei Geschichten, die ich noch schreiben möchte, quetsche ich nun nicht auch noch in diesen Artikel: auf welch abenteuerliche Weise ich von der B&B-Hölle ins Paradies gelangt bin; und: Überlegungen im voll besetzten Frühstücksraum eines B&B.

Nun werde ich einen Regenspaziergang machen, vielleicht mit der Metro nach Newcastle?

5 Antworten auf „Von Great Ayton nach Sunderland quer durchs Ruhrgebiet“

  1. sehr spannend. Als ich heute an Lind Kernig arbeitete, stellte ich mir vor, wei der Film aussehen würde, der aus einem Bild alle 30 s in seinem CeyS entstünde. Wenn er dann von Aberglow durch die Salzwüste bis vor die Tore der North-Hemis rollt.

    Den Film zu diesem Artikel hier sah ich gerade …

  2. Oh, da hat dich deine Fantasie in Verbindung mit industrieller Landschaft und allzu hohen Drahtzäunen aber arg gebeutelt. Aber besser so als andersherum. Ein positiver Ausgang ist doch immer erleichternd. Und wenn du es jetzt ein bisschen gut hast anstatt im Sturm zu radeln, freut mich das. Das Meer mit dieser säulengesäumten Promenade sieht jedenfalls sehr schön aus. Schön nostalgisches Foto.
    LG, April

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