SoSo und ich spielen wieder das Spiel, abwechselnd an Kreuzungen die Richtung anzusagen. „Rechts“ sagt sie, als wir den Birnbaum vorm einsamen Gehöft passieren, was uns unweigerlich in die Amerikastraße, runter in die Stadt manövriert. „Gut so“, anworte ich mit einem Blick auf das schrill blinkende Tankwarnlicht. Weit kämen wir sowieso nicht und es liegt auch nichts besonders an, außer sich vom PC wegzuzwingen, das Hirn von Gedanken zu entleeren, endlich einmal die Kunstprojekte und all die Imponderabilien der freischaffenden Tätigkeit wieder loszuwerden. Entsprechend Ziellos schlendern wir durch die samstagsstille Stadt. Nur noch der örtliche Büchergigant hat geöffnet und SoSo erklärt mir, wieso immer am Jahresbeginn die Auslagen mit den Mängelexemplaren so übervoll sind. Als Buchhändlerin weiß sie, dass nach der Inventur alles, was länger liegt, als ein Jahr, raus muss. So billig, dass die Leute einfach kaufen wollen. Eine Tasche Bücher gekauft. Rüber ins auch-aufe (*) Reformhaus, wo die Verkäuferin unsere kleingeldschweren Geldbeutel fleddert und die Münzen in Scheine wechselt. Guter Deal. Paar Jugendliche ziehen, Kumbajah my Lord singend, durch die Fußgängerzone. Mit unseren Smartphones scannen wir die Stadt und bei dem sonnigen Wetter entwickelt sich der ziellose Weg zu einem wahren Abenteuer, zu einem Bad im unbekannten Detail dessen, was man alltäglich vor Augen hat. Jemand hat einen Blumenkübel so groß wie ein Kleinwagen zerdeppert und es hängt ein Zettel daran, „Zeuge gesucht“. Spuckende Pubertierende am Busbahnhof. Jo Nesbø kommt mir in den Sinn und wie er in seiner Romanserie um Kommisar Harry Hole ein so abstoßendes Bild von Oslo zeichnet, dass selbst ich, der die Stadt kennt und liebt, nie wieder dort hin möchte. „Du bist auch nicht anders, als der Nesbø. Die spuckenden Pubertierenden der Stadt sind der schwersüchtige Junkie des kleinen Mannes. Du solltest so nicht über deine Heimatstadt schreiben. Auch die Blumentopf-Randale solltest du verschweigen. Mach doch etwas mit Pferden und Blumen.“ Die Stadt ist kalt. Wir konzentrieren uns auf unsere Foto-Mission. Das Morbide ist eigentlich auch viel interessanter, als das Schöngeschniegelte. In einem Hinterhof geraten wir in einen Flohmarkt der Arbeitslosenhilfe. Schwerbeladene Fahrräder davor, Tüten am Lenker. SoSo sagt: „Da gehn wir jetzt rein“ – „Großer Fehler. Du ziehst doch bald um, du wirst doch nicht …“ – „Nur für Fotos.“ Und schon ist sie in der kleinen Feuerwehrhalle verschwunden. Riesige Schränke, Elektroherde, Geschirr, Klamotten, Nippes In einem Nebenraum gibt es so eine Art Essensausgabe. Menschen mit Plastiktüten. Sauberen, aber abgewetzten Klamotten. Drei Damen, würdig arm, unterhalten sich über horrende Mieten, Nebenkosten, schlimme Summen schwirren durch die Luft, wie Messer, so dass man sich automatisch duckt, um der Gefahr zu entrinnen. Ein Mittfünfziger gratuliert einer Frau zur neuen Arbeit. „Richtig echt mit Sozialversicherung und allem!“, schwärmt sie, scheint glücklich. Ich werde das Gefühl nicht los, an einer steilen Klippe zu stehen, ich und mein sündhaft teures allround Computer Fotogerät. Von Aufwinden zerzaust, flattert die Designjeans an meinen Beinen und mir wird mit einem Mal bewusst, wie nah ich am gesellschaftlichen Abgrund stehe, ich komischer Möchtegern Mittelschichtler mit dem geregelten Einkommen, dem Auto, dem Haus, den wöchentlich möglichen Kinobesuchen, den hypothetischen Restaurantbesuchen, den monatlichen Zahlungseingängen. Satt inmitten von Europa. Als wir später den Bleicherkanal passieren und auf dem braunen Wasser ein seltsamer Schaum träge durch den Park treibt, denke ich, der feine fluffige Schaum wird nur getragen, weil das trübe Wasser es ihm ermöglicht. Was für ein abgeschmacktes Weltbild: schwer wie Wasser fließen hart arbeitende, um ihre Existenz stets bangende Wesen im ruhigen Fluss des Lebens. Geboren, dahintreiben und vergehen unterm flüchtigen Blick ratloser Passanten, die das alles nicht verstehen und allenfalls denken, was soll der Schaum, der Abschaum da oben, was trägt er zur Schönheit des Flusses bei?
„Wir sind noch nichtmal reich“, sag ich zur SoSo, hysterisch lachend, „und trotzdem können wir uns zu denjenigen zählen, die ihre Existenz im fluffigen weißen Schaum auf den kühlen Kämmen seichter Wellen in einem Bach … ach, was red ich.“
Einen guten Lauf haben wir an diesem Samstag mit unseren sündhaft teuren Smartphones, die vermutlich unter sklaverei-ähnlichen Bedingungen irgendwo in Fernost hergestellt wurden.
(*) zu dem seltsamen Ausdruck „auch aufe“ siehe auch Monty Pythons Ritter der Kokosnus, die Szene mit dem „aben Bein“, also dem Bein, das ab ist.