Sonntag, blutig

Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die schöne, weiße V.I.P. Lounge, siehe letzte Artikel, zu etwa 90 % zerstört wurde. Ziehen wir daraus eine Lehre? Nie Loungemöbel auf ein Technofestival verleihen? Egal. Die Lounge ist nur ein Symbol für mein derzeitig etwas angespanntes Leben. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Dinge einmal so schlecht gelaufen sind, wie dieser Tage.

Danke, Dänen, danke

Endlich! Ich hatte schon befürchtet, dass ich das nie wieder erleben darf: Grenzkontrolle. Dass ich bis in die ferne Ukraine fahren muss, in die Türkei oder gar mit einem Ruderboot das Mittelmeer überqueren muss, um in Tunesien, Algerien, Marokko in den Genuss zu kommen.

Schweiß, Adrenalin, ein gültiger Personalausweis und dieses leise Gefühl im Gepäck, du hast irgendein Vergehen am Hintern, dein Gesicht gefällt einem Uniformierten nicht, du hast zu wenig Geld in der Tasche oder zu viel, zu viel Schnaps, Parfüm, Kaffee im Kofferraum – das gute alte Europa mit seinen vielen vielen Grenzen und den vielen vielen Kontrollen ist mir schon beinahe in Vergessenheit geraten. Wie war das noch, damals, 91, zu fünft in einem Ford Escort nach Schweden, Stufenheck, zwei seltsame Studenten per Mitfahrzentrale, die es sich nicht hatten nehmen lassen, palettenweise Bier im Kofferraum zu stapeln, Weißbierflaschen klapperten im Motorraum beim Verlassen der Fähre und eine freundliche blonde Zöllnerin winkte uns generös hindurch. Ouuh, nochmal davon gekommen. Oder noch besser, Zonengrenze, Spiegel unter den Autos, Leibesvisitation, Antiimperialistischer Schutzwall der schlechten Laune, griesgrämige Schwerbewaffnete, die überhaupt keinen Spaß verstehen.

Vorbei das alles nach dem Mauerfall, dem Schengener Abkommen, der Euro Einführung. Freie Fahrt kann ja manchmal so langweilig sein. Vom Nordkap nach Gibraltar ohne auch nur eine Grenzkontrolle. Die Wenigsten dürften das überleben, schlafen sie doch unterwegs am Steuer ein, sterben am nächsten Baum. Die Unterversorgung mit Adrenalin ist schuld daran. Der Staat und die Bürokratie. Europa ist schuld!

Wohl den Dänen, denn sie haben erkannt, was uns allen fehlt: die wachrüttelnde, spritzige, belebende Kraft der Grenzkontrolle.

Ich verbringe meinen diesjährigen Urlaub auf jeden Fall in Dänemark. Welch Geschenk, Dänen, traumhaft. Dankeeee! So billig kriegt man den Grenzkontrollkick sonst nirgends. Und die Nostalgie, die prickelnde Angst, das paranoid schlechte Gewissen … Gebt mir mehr.

Pilgrim for a Day

Wie war das doch kürzlich? Herr Irgendlink will mit Freunden ein paar Tage durch Burgund wandern, fragt um Urlaub, welcher abgelehnt wird. Da der Owner aber die großen traurigen Tackeraugen des Herrn Irgendlink nicht erträgt, gibt er ihm spontan eine Woche Urlaub (nicht die gewünschte Woche, sondern die ab dem Tag, an dem Herr Irgendlink nach dem Urlaub gefragt hat, also jetzt). Das war montags, ein Loch in der Zeit, was tun? Mittwochs schon sitze ich im Zug nach Speyer, wo vorm Dom eine der Hauptrouten auf dem Jakobsweg durch den Pfälzer Wald beginnt. Im Zug mache ich mir Gedanken um die Probleme des modernen Menschen, hauptsächlich darüber, dass viele Träume nur deshalb nicht wahr werden, weil man die Lücke im Alltag, die sich hin und wieder auftut, nicht so recht auszunutzen weiß. Es ist kennzeichnend, dass ich in jener Woche des plötzlichen Urlaubs immerhin zwei Tage gebraucht habe, um mich überhaupt aufzuraffen. Zwei Tage, in denen ich sogar darüber nachdachte, gar nicht erst aufzubrechen, weil die Zeit für 130 Kilometer zu Fuß ja doch recht knapp ist und ach, das Wetter … und weh, daheim warten tausend Baustellen, das Buch sollte ich fertig schreiben, Freunde treffen. Die wertvollen Lücken im Alltag sind bedroht von kleingeistigen Überlegungen zum Thema Lebensformatierung. Anstatt Grenzen aufzulösen, geht der Trend – je länger man lebt – dahin, sie aufzubauen.

Man wird starr im Lauf der Zeit.

Letzten Samstag in einem Hotel im flachen Oberbayern unweit von Gerstefeldern, Elektrizitätswerken und Maisäckern herumzulungern ist sicher eine hohe Aufgabe für den denkenden Menschen. Aus dem Fenster meines Zimmers sehe ich eine wilde Camping-Siedlung, zwanzig dreißig Autos, Wohnmobile, Zelte auf dem Damm am Kanal des Kraftwerks. Manchmal weht der Wind Fetzen von Musik herüber: Umpf Umpf Umpf Umpf, Umpf im schnellen Elektro Techno-Irgendwas-Rhythmus. Ich kenne mich da nicht so aus. Die Festivalgäste haben dort bei einem kleinen Badesee eine Kolonie auf Zeit gegründet. Ein bisschen beneide ich sie um ihr leichtes, unbeschwertes Leben. Unmittelbar unter dem Hotelfenster steht ein hässliches, langes, fünfziger Jahre Mietshaus, verlassen, mit Eternitdach. Ich krame das iPhone aus der Hosentasche, überlege zu bloggen, oder Bilder zu bearbeiten, starte aber schließlich die Geocaching-App und schaue, was es in der Nähe für Erdverstecke gibt. Eines, der Biergarten namens Schlossallee, ist nur 300 m entfernt, weiters gibt es einige Kapellen, die in der Geocachingdatenbank gelistet sind, sowie eine Badesee-Serie. Aha. Trüber Tag, nicht sehr warm Ich weiß gar nicht, warum ich mein Handttuch und die Badehose von zu Hause mitgebracht habe. Sie lagen auf dem Stapel der Dinge, die man schnell mal einpackt, wenn man weg muss. Unordnung. Die Lücke im Tag ist unmittelbar. Wanderschuhe habe ich auch eingepackt. Tse. Immer hat er Hintergedanken, der Herr Irgendlink. So stapfe ich also los mit dem kleinen, leichten Rucksack, auch habe ich zwei Brötchen dabei, die ich vom Frühstücksbuffet abgezweigt habe und einen Liter Wasser. Im Dorf frage ich nach der Leni-Kapelle, so heißt einer der Geocaches. Niemand weiß, wo das ist. Die Geheimnisse der Geocacher sind sehr filigran, oft wird man zu Orten geführt, die selbst die Einheimischen gar nicht kennen. Deshalb schätze ich dieses Hobby der weltweiten Schatzsuche so sehr. Ich verirre mich, habe auch gar keine Lust, Schätze zu suchen. Die Verstecke, die mir das GPS des iPhones anzeigt, dienen mir hier in dieser garstigen Landwirtschaftsgegend mehr als Orientierungspunkte, denn als kniffelige Herausforderung. Irgendwann lande ich auf dem Damm des Kraftwerkkanals, der sechs Meter über dem topfebenen Tal liegt. Ich bin etwa 2 km von der wilden Party entfernt, Musikfetzen und Donnergrollen. Ein Taxifahrer hält neben mir, Serbe vielleicht, fragt, ob ich ein Taxi bestellt habe, reagiert mürrisch, als ich verneine. Ein Mann und eine Frau seien hier unterwegs, hätten seine Zentrale angerufen, und er habe nun die Aufgabe, sie zu finden. Ich bin aber kein Mann und eine Frau, sage ich.

Vielmehr bin ich der Pilger, das wird mir in dem Moment klar, und ich bin der Erleber dieser Geschichte und der, der sich das alles merken muss. Auf das Diktiergerät des iPhones spreche ich: wie wäre es, wenn ich von nun an die Geschichte rückwärts erzählen würde, so wie in dem Film, den ich kürzlich gesehen habe, wo der Undercover-Agent seinem verbrecherischen Auftraggeber eine Begebenheit erst vorwärts erzählen muss, und dann nochmal genau umgedreht, damit der Auftraggeber prüfen kann, ob er lügt. Ja, genau rückwärts den Tag erzählen, hier auf dem Damm am Kraftwerkkanal, begonnen beim mürrischen serbischen Taxifahrer, zurück zur Frau mit Hund, vorbei an den beiden Jungs, die mit dem Quad am Waldrand geparkt hatten, dann der Mann mit dem Elektrofahrrad, der damit jeden Tag nach München und zurück fährt, ein sehr netter Kerl, mit dem ich ein Viertel Stündchen geschwätzt habe. Alte Frau, die nicht weiß, wo die Leni-Kapelle ist … So entferne ich mich immer weiter von dem Dorf, in dem mein Hotel ist, erreiche schließlich einen kleinen See, einen aus der Geocaching Badesee-Serie. Eine Frau mit Kind paddelt im Schlauchboot. In der Mitte des Sees ist eine Badeinsel. Mein GPS zeigt genau dahin. Zur Lösung des Rätsels, welches sich um den Geocache rankt, muss ich also auf die Badeinsel. Just, als ich mit dem Finger das Wasser prüfe, es ist nicht sehr kalt, bricht die Sonne durch die Wolken. Obwohl es windig ist, ziehe ich die Badehose an und tauche ein, schwimme hinüber, fühle mich seltsam frei und mir wird klar, wie wichtig es ist, jede nur erdenkliche Lücke zu nutzen, jede nur erdenkliche Chance. Je älter man wird, desto hochnäsiger oder fauler wird man. Ich kenne den genauen Grund nicht, warum man mit zunehmendem Alter keine Chancen mehr wahrnimmt. Vermutlich ist es die Behäbigkeit, die sich in dein Leben schleicht, bei manchen vielleicht auch die Hochnäsigkeit, oder eine Art Nachlässigkeit, die aus dem Trugschluss rührt, ich habe doch schon alles tausend mal gesehen, tausendmal erlebt, ich brauche das nicht mehr. Wie ich so im See schwimme, das Wasser angenehm warm, prasseln plötzlich die Erinnerungen an all die tausend Seen, in denen ich schon geschwommen bin, auf mich ein. Keiner von ihnen ist ein Grund, nicht auch in diesem See zu baden. Genau wie die Lücke in diesem Samstag es allemal wert ist, mit Wandern gefüllt zu werden, auch wenn dies ein entwerteter Samstag ist, den ich fernab von Heimat, Liebe, Freunden verbringe. Kein Grund ihn nicht zu nutzen, um frei zu sein.

Auf der Badeinsel kann ich das Geocacherätsel lösen, bin aber später, wieder an Land, zu faul, den Cache auch zu heben. Ich folge dem kleinen Fluss A. auf einem Radwanderweg, plötzlich ist die Gegend sehr schön, trotz Mais und Gerste. Dickbäuchige Oberbayern mähen Gras. Ein Jäger beäugt mich durch sein Fernglas aus einem Hochsitz. Mein Kopf ist voller Ideen, die ich fleißig ins iPhone diktiere. Das iDogma par excellance. Ich skizziere den Plot meines geplanten, bauesoterischen Kriminalromans. Erstmals habe ich die Hoffnung, dass das verrückte Buch auch tatsächlich entstehen könnte. Schreiben ist letztenendes Fleißarbeit. Nicht so wie hier im Blog muter darauf los schreiben und, außer Konkurrenz, mal schauen, was daraus wird. Das ist mir in diesem Moment klar. Wenn ich jemals ein größeres Schreibwerk schaffen will, dann muss ich vorher die Struktur planen, dann kann ich mich nicht einfach so durch den Tag treiben lassen wie an diesem Samstag. Im Grund muss ich das, was mir an diesem Tag die Geocaches sind, Marksteine, Themen, Charaktere, skizzieren, bevor ich überhaupt los lege. In einem Dorf mit Bahnhof und Laden habe ich ca. 15 km in den Beinen, kaum müde. Die Ideen sprudeln, dass es nur so eine Art ist. Auf dem örtlichen Sportplatz ist ein Fest. Zwei Kilometer entfernt hört man nun das Festivaltreiben hervorragend, da es genau in Windrichtung liegt. Am Waldweg nahe des Festivals sind plattgelegene Grasflächen. Die Gäste müssen hier übernachtet haben, gelagert, sich geliebt. Nun laufe ich mitten im Schallkegel der Nachmittags-DJs. Monotone Rhythmen, sehr eingänglich, gebe ich zu, jedoch auch so unglaublich vorhersehbar. Ich glaube, diese Musik entfaltet ihre Kraft erst dann, wenn man mitten drin ist und wenn man Geleichgesinnte um sich hat. Beim Festivalgelände wird der Wanderweg über den Parkplatz umgeleitet. Kein schöner Anblick. Vor den Autos hängen die Besucherinnen und Besucher auf Liegestühlen, Beats aus den Radios, Kleiner Feigling, Vodka, Jägermeister, Geplapper und die Schöngeschniegelten mit Papis BMW auf Imponiertour im schwarzen Schlamm, Gas-spielend, Ellbogen-fensterlnd, scheinen mir nicht gerade meine liebsten Gleichgesinnten zu sein. SIE werden auf MEINER V.I.P. Lounge Drogen nehmen, Mädchen abschleppen. Der Eintritt zur V.I.P.-Lounge kostet satte 130 Euro für die beiden Tage, lese ich auf der Veranstaltungshomepage. Da ist das eigentliche Festival mit 30 Euro geradezu günstig.

Beim Abendessen im Hotel hat der Tisch mit den Kraftwerksleuten Verstärkung bekommen. Mein Mannheimer Wortführer, der fast nur über Stundenlöhne, Freelancer, Selbstständigkeit geredet hat, ist nicht mehr der alleinige Redner. Es hat mir auch schon zum Hals heraus gehängt, wie er seine Lebensangst und seinen Futterneid in der Gaststube ausgebreitet hat. Stattdessen höre ich nun vermehrt die Stimme eines Mittvierzigers, der sich zu philosophischen Lebensfragen, Kunst und Kultur äußert.

R. I. P. V. I. P.

Freitag früh acht Uhr. Der Loungeaufbau. Ich erkenne: dies ist keine Vorstandssitzung. Keine klassische Loungeveranstaltung mit etepetete-Männchen und -Weibchen, die Fingerspreizend Kaffetassen halten, in ruhiger Atmosphäre Geschäfte abschließen. Von Zivilisation im klassischen Stil kann keine Rede sein. Dies ist ein waschechtes Festival. Sowas wie Woodstock, soll sich herausstellen, ebenso schlammig, aber mit Hight Tech Organisation, Ticktes um 30 Euro. Die Tickets für die V.I.P. Lounge mit eigenem Swimingpool kosten 130 Euro das Wochenende.

Schwer hängt der Himmel über dem kleinen Dorf. Die Lounge findet ihren Platz in einem schicken Zelt, das leider keine Seitenwände hat. Innerhalb von drei Stunden steht alles schniegelweiß. Ansprechpartner W. ist hochzufrieden. Im Gegenwind meiner Vernunft habe ich dies getan, murmele ich mich gegen Mittag in den wohlverdienten Feierabend. Die Sache kann eigentlich nur schief gehen. Bei der Wetterlage ist es unwahrscheinlich, dass es nicht regnet. 12 Uhr. Donner. Vorsichtshalber laufe ich unter ersten Tropfen zum LKW, fahre den guten Kilometer zum Festivalgelände, vielleicht kann ich beim Möbel retten helfen. Es ist so kurz vor Beginn nicht mehr leicht, einen LKW Parkplatz zu finden. Die Crew stellt emsig Barrieren auf. Alles deutet auf eine Veranstaltung mit mehreren tausend Gästen hin. Selbst im über 1 km fernen Dorf stehen Männer mit Warnwesten, auf denen gedruckt ist „Staff“ und „Security“, um die Parkwilligen einzuweisen. Neben dem Festivalgelände hat man eine hektargroße Wiese mit Fahrspuren aus Rindenmulch versehen. Noch ist der Parkplatz leer. Mit den ersten Blitzschlägen kann ich den LKW vor einem Wasserkraftwerk parken, dreihundert Meter zu Fuß bis zur Lounge. Hagel wie aus Kübeln. Verwegen ducke ich mich unter Büschen, kämpfe mich durchs örtliche Sportlerheim, vorbei am Kleiner-Feigling-Stand, zahlreichen Zigarettenfirma Lounges und diesen süßen ballernden Softdrink Ständen. Die V. I. P. Lounge ist klatschnass. Das Gewitter geht. Vier weitere Stunden Arbeit, um die Möbel zu retten. Zwischendrin ruft der Owner an, ob ich nicht den LKW direkt neben der Lounge parken könne und am besten die gesamten 48 Stunden immer auf bereitschaft sein kann,“falls etwas wäre“. Ich sage ja, parke den LKW vor der Kirche beim Hotel, treffe ein Abkommen mit Veranstalter W., dass er mich anruft, wenn es brennt. Und mit wenn es brennt, waren wir uns beide einig, dass das heißt, wenn es brennt. Mittlerweile posteten die potentiellen Gäste auf Facebook, dass es eine geile Party werden würde, dass man aber seine Gummiestiefel nicht vergessen solle und vor allem nix Weißes anziehen solle, so was Weißes wie die V.I.P. Lounge etwa.

Samstagmorgen.  W. hat in der Nacht nicht angerufen. Die Wirtin im Hotel erzählt, es habe noch zwei Unwetter gehabt, nicht ganz so schlimm wie Freitag Nachmittag. Zu Fuß spaziere ich zum Festivalgelände. Sehr langsame Menschen mit roten Augen und schmutzigen Schuhen begegnen mir. Die Straße zum Festival ist mit Glas übersät. Pizzakartons, Pizza und Kotze. Die LKW im Umkreis von 500 Metern um das Gelände sind mit Graffities verziert. Ein gewisser Five hat zugeschlagen. Liebling, ich hab den Firmenlaster gerettet, weil ich ihn neben der Kirche geparkt habe. W. hat die Lounge wie besprochen regensicher in die Mitte des Zelts geräumt. Dennoch sieht sie nicht gut aus. Menschen mit Gummiestiefeln machen grundsätzlich so viel Schmutz, wie menschen mit Gummiestiefeln. Und wenn sie brechen müssen, weil sie zu viel Kleiner Feigling gesoffen haben, machen sie noch viel mehr Schmutz. Rings um das Festivalgelände räumen die Anwohner auf, mit Eimern holen sie den gröbsten Müll von den Gehwegen vor ihren Häusern. Sie sehen gedemütigt aus. Ihren Gesprächen entnehme ich im Vorbeigehen Wortfetzen des Unmutzs. Ein Rentner geht zur Brücke über den Kraftwerkkanal und kippt den Mülleimer einfach ins Wasser. Träge treiben Papierfetzen und Plastik. Zwei Jungs fragen mich nach einem Bäcker. ich schicke sie Richtung Dorf, immer der Glasspur nach, höhne ich. Gebrechlich ziehen sie dahin und ich folge ihnen in respektvollem Abstand, sehr, sehrsehrsehr laaangsam. Vielleicht muss ich  erste Hilfe leisten. Ich beschließe, mich ab nun nicht mehr einzumischen in das aus dem Ruder gelaufene Geschehen in der V.I.P. Lounge. Mit dem Laster kann ich nicht vorfahren weil alles abgeriegelt ist, alle Verantwortlichen verstrahlt, kaum ansprechbar und ein Abbau während der Veranstaltung wäre ja irgendwie feige und steht auch so nicht im Vertrag. Putzen macht auch keinen Sinn. Bleibt nur, auf Sonntag 9 Uhr zu warten und den Rest des Geschehens in die Loungeforensik-Zentrale der Firma zu verlegen. Ich genieße den Tag mit Pilgern.

Eine halbe Million Arbeitsstunden, oh Herr

Ankunft am Zielort. Ein winziges Dorf namens H. an der A. nur etwa 50 km nördlich von München. Oberbayern steht auf den Hinweisschildern. H. in Oberbayern also. Ich habe nie begriffen, dass Oberbayern absolut flach ist. Im einzigen Gasthof checke ich ein. Eine Gruppe kehliger Menschen debattiert lauthals. Die Wirtin entschuldigt sich für ihre Gäste, sie seien nicht immer so. Im Restaurant sitzt ein Junge mit T-Shirt, auf dem etwas gedruckt ist „Kraftwerk Revision“. Die Wirtin klärt mich auf, dass seit ein paar Wochen der Gasthof ausgebucht ist, weil das nahe Kohlekraftwerk verkauft wurde und die neuen Besitzer es nun renovieren. Im Netz recherchiere ich, dass das Kraftwerk einer der größten Arbeitgeber ist, dass es verbessert wird, praktisch neu gebaut in den nächsten Monaten, höherer Wirkungsgrad, umweltfreundlicher. 1,7 Millionen Menschen versorgt es. Fast 500 Megawatt. Die vielen Strommasten in dem flachen Flusstal zeigen, dass die ganze Gegend unter Strom steht. Ich kann nicht behaupten, dass es mir hier zwischen Gerste und Mais in dieser unerwartet unpitoresken Flachheit gefällt.
Im Restaurant fällt mir an diesem Abend ein Tisch vierer Männer auf, genauer zwei Jungs, ein mittelalter und ein älterer ruhiger Herr. Der Mittelalte führt mit markanter Stimme Wort zu den Themen Freelancer, Stundenlöhne, Löhne im Allgemeinen, Arbeitsrecht und Technik. Hauptsache Wort führen. Er kommt aus Mannheim und verdient vier Euro weniger pro Stunde, als der Ältere. Die Gruppe arbeitet offenbar für die Revision. Vier Mann von den vielen, die die 500.000 Arbeitsstunden, so stehts im Netz, der Revision erledigen. Mir steht freitagsfrüh um acht ein etwa zweistündiger V. I. P. Loungeaufbau bevor. An diesem Abend ahne ich noch nicht, wie gemein das Schicksal zuschlagen kann.