Vinslöv

Selbstgebastelt: eine Skåne Postkarte mit Motiven von der heutigen Radtour. Genug Sonne, dass es für Schattenwürfe reicht. WiFi gab es bis heute früh auf dem Zeltplatz. Keine Ahnung woher. Die nächsten Gebäude hunderte Meter entfernt. Später war unser Gratisnetz abgeschaltet und wir sind nun durch Vinslöv spaziert, neben der Schule ein offenes Netzwerk mit Parkbank.

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Die Welt im Kopf

In gewisser Weise ist Rendsburg wie Santiago. Eine Kombination verschiedener Vorstellungen, die sich nach und nach bestätigen oder die man nach und nach revidiert. Bin ich im letzten Winter auf dem Jakobsweg gewandert mit der Kurzversion „so sieht es in Santiago aus, nämlich: Pforte, Statue, Loch“ und einem Haufen Mythen im Kopf, aus denen ich mir ein abstraktes Bild der Stadtatmpsphäre geschustert habe, bin ich nach Rendsburg gekommen mit dem Slogan „Brunnen, lange Bank, Rolltreppe untern Kanal“. basierend auf der Email von Kommentatorin Andrea, die mir mit ihren Erzählungen über die Stadt am Nordostseekanal Lust gemacht hat, sie zu sehen. Gestern konnte mein körperliches Ich endlich Zeuge werden, was wirklich ist hier im hohen Norden. Wir folgen dem blauen Strich, der sich kilometerweit vom Marktplatz durch die Stadt schlängelt, und an dem sämtliche Sehenswürdigkeiten aufgereiht sind. Mit Nummern sind sie versehen. Der Strich ist nur in der Fußgängerzone professionell aufgemalt, an anderer Stelle eher lieblos notdürftig gepinselt. Eine Stadt bröckelnden Glanzes. Vorbei an oftmals leeren Ladenlokalen, „zu vermieten“ direkt neben „Sale“ -Angeboten, Mobilfunkladen, wieder und wieder „Sale“ und „zu vermieten“. Aus hohlen Fenstern starrt einstige Pracht und ein armer Mann kauert an einer Ecke und spielt so unglaublich schlecht Gitarre, dass die Leute ihm Geld geben, damit er endlich still ist. Es regnet einen feinen Regen, der nicht weiter stört, ungefähr so wie Mann-mit-feuchter-Aussprache, der eine politische Rede hält.
Der blaue Sehenswert-Strich ist länger als die gestern erwähnten 3,2 km – wie sehr ich das Bild der Welt doch verfälsche, die Bilder, die ich in Euch Lesenden erzeuge durch mein einfaches Sein, mein Dahin-Geplappere, meine herrlich unbedarfte Leichtigkeit … es spielt gar keine Rolle, ob unsere Vorstellungen mit dem, was uns tatsächlich in der echten Welt erwartet, übereinstimmen und eigentlich ist just in diesem Moment für mich doch nur wahr, dass ich an einem frisch gedeckten Frühstückstisch sitze und den Finger über den glatten, winzigen iPhonebildschirm jagen lasse. Ab und zu ein Nippen an der Kaffeetasse.
Und für Dich in jenem Moment, in dem Du das liest, ist wahr, dass Du vorm Monitor sitzst und Dir ein Rendsburg-Bild machst, wo- und wie auch immer.

Bei unserem Spaziergang auf der blauen Linie, erweist sich alles, wovon Kommentatorin Andrea erzählt hat als existent. Sogar der lustige Brunnen, den A. Beschrieben hat, mit den beweglichen Einzelteilen, Gliedmaßen von Messing- Figuren, Schiffsanker, Ziegenköpfe, Schweineohren usw. befindet sich wohlbehalten auf einem Zentralen Platz.

Abends Kino. Der letzte Potter. Neben mir ein kleiner, dicker Mann, der ein Gespräch über das Wetter anzettelt, sodann sein uraltes Handy herauskramt und stolz einen Download beginnt mit Wettervorhersage, Strömungsfilm, allem PiPaPo. Eine Maßnahme, die auf dem iPhone ein Monitorstreicheln dauert. Aufgeregt zeigt er den Ladebalken, der sich bis Filmbeginn voran schiebt, zwei Mal scheitert und es ist mir ein bisschen peinlich, als die SoSo zu meiner Rechten längst den riesigen iPhonebildschirm hochhält mit höchster Farbtiefe astreines Wetter. Über Schledwig-Holstein hängt ein sattes Tief. Aber mein Nachbar bleibt unbeeindruckt bzw. hat vielleicht das iPhone nicht gesehen. Stotz präsentiert er mir den Strömungsfilm, während Tom Riddle den Elderstab aus Dumbledors Grab birgt.
Bild by SoSo

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Die Weissagungen der Kommentatorin A.

Eine Pension in Rendsburg, Schleswig-Holstein. Großes, bunt angemaltes Zimmer, sauber, mit Bad, Ikea-standardausrüstung bis ins feinste Detail. Sogar die Uhr in der Gemeinschaftsküche, von der ich glaubte, sie sei um 5:49 Minuten nach Elf stehen geblieben, stammt vom schwedischen Möbeldiscounter. Nun dreht sie doch weiter. Nur der Sekundenzeiger bleibt beharrlich auf „11 Sekunden vor“ stehen.
Ganz einfach, wie die SoSo und ich hier gestrandet sind: auf den Spuren von Blog-Kommentatorin Andrea nämlich. Im Juni ist sie zusammen mit Gatte J. den Nord-Ostsee-Kanal entlang gewandert – eine blumige Email, in der sie mir von der längsten Parkbank der Welt erzählt hat, hat genügt. Da muss ich hin. Längste Rolltreppe soll hier auch in der Nähe sein und gerade hat die SoSo aus dem hauseigenen WiFi Informationen über eine Blueline gefunden, eine 3,2 km lange blaue Linie kreuz und quer durch die Stadt, an der man die sehenswertesten Pitoreskizitäten findet.
Es regnet. Sturmböen vorher gesagt. Besseres Wetter erst ab Stockholm, 800 km weit weg.
Die gestrige Etappe war fast genau so lang. Fast 10 Stunden Fahrt, multiple Staus.
Wir bleiben heute noch hier, nicht zuletzt wegen Bank, Rolltreppe und blauer Linie. Ozeandampfer soll es hier auch geben und die Pension besticht mit günstigem Preis, Pizza zum Abendessen inclusive.
Mir ist klar geworden: so gerne ich voran gehe und Neues entdecke, so gerne lasse ich mich durch die feinen Hinweise meiner Umwelt oder Tipps von Freunden (großes Dankeee, Andrea, die Pension ist toll), führen. Kaum zu glauben, dass bis vorgestern noch offen war, wo wir in den Ferien landen werden.
Nachtrag: Ein iDogma Kunstwerk habe ich auf http://idogma.com hochgeladen.
Nachtrag: Bilder von der NOK Wanderung der Sulzer findet Ihr auf http://diesulzer.de (Unter Bilder > Schiffe und bei der Wegstrecke in den Tagesetappen als klickbare Pinnadeln.)

Hurra wir pilgern wieder – der Pilger im Wartestand

Ich schulde diesem Blog noch ein paar Geschichten. Auflösungen begonnener Handlungsstränge. Im rasanten Alltag der letzten Wochen ist so manches untergegangen, konnte ich nur notdürftig die Ritzen der Literatur kitten, indem ich mir auf dem iPhone Sprachnotizen gemacht habe oder meine kleine, braune, lederne Kladde, die ich fast immer dabei habe, mit Bleistift und Kuli traktiert habe. Normalerweise sind die Sprachnotizen, wie auch die Kladde so eine Art Datengrab. Nie wieder höre ich mir das an, was mir einst wichtig schien, oder lese die Satzfetzen durch. Ein Fall für die interessierte Nachwelt. Wichtig ist dieses beruhigende Gefühl, das einem die Kurznotiz vermittelt. Da hat man eben ein paar druckreife Dinge gedacht, die im Normalfall, dann, wenn man nicht mitspricht oder -schreibt, schon nach fünf Minuten im Nirvana des Vergessens landen – wenn man sie aber aufschreibt, kann man sie ja jederzeit wieder hervor holen – sie bleiben erhalten. Ich denke, jeder kennt die Situation, etwas vergessen zu haben und grübelnd stundenlang durch den Tag zu gehen in ständiger Ablenkung, ohne je herauszufinden, was man vergessen hat.

Aber das ist nicht Sinn dieses Aufsatzes. Zwei Handlungsstränge der letzten Monate will ich in diesem Artikel zu Ende bringen: Erstens, schnell erzählt, die Loungemöbel-Geschichte auf dem Technofestival. Mit einem Totalschaden kehre ich sonntags spät abends in die Firma zurück, der Firmenlaster fühlt sich an wie ein Pharaonengrab, denke ich, eine geheimnisvolle Gruft, die mit einem Fluch belegt ist und die jeden, der versucht, sie zu öffnen, ins Verderben treibt. Es folgen drei Tage Schadensaufnahme, Streiterei, Querelen, nebenbei gibt es so viel zu tun mit einem Großauftrag Neumöbel, dass der werte Herr Irgendlink auf eine Woche seines Sommerurlaubs verzichtet, die nächste Woche nämlich, und dass er stur weiter tackert bis zum Ende allen Möbels. Ich bin einfach zu gut. Oder zu sehr ein Pilger. Denn dieser-hektischer-Tage ist derjenige im Vorteil, der die stoische Pilgerruhe verinnerlicht hat.

Kommen wir zum zweiten Teil meines Aufsatzes, zum zweiten Handlungsstrang, den ich nicht ganz zu Ende geführt habe: „Hurra, wir pilgern wieder!“. Fünf Tage bin ich gewandert von Speyer am Rhein quer durch den Pfälzer Wald, live bloggend. Eine viel zu kurze Zeit, und eigentlich ist es nur der Anfang meines neuen Live-Pilger-Projekts, das ich über die nächsten Jahre verteilt, in diesem Blog erzählen möchte. Somit kann ich „Hurra, wir pilgern wieder!“ an dieser Stelle gar nicht zu Ende erzählen, da die Geschichte demnächst fortgesetzt wird. In ruhigen Minuten sieht man den Protagonisten, mich, wie er auf den Google-Maps die nächsten Wochen ausrechnet auf dem über 2000 km langen Fußweg nach Santiago de Compostella. Mein Gott, Metz an der Mosel ist nur eine gute Woche entfernt und das beschauliche Vezelay, einer der wichtigsten Jakobswegorte in Burgund ist auch in drei vier Wochen zu erreichen. Es ist erstaunlich, wie vorstellbar das einst so Unvorstellbare wird, wenn man erst einmal am eigenen Leib erfahren hat, dass Unvorstellbares nie unvorstellbar genug sein kann, als dass man es nicht realisieren könnte. Mein derzeitiger Standort auf meiner zweiten Pilgerreise nach Santiago ist Zweibrücken, daheim, das einsame Gehöft mit dem schönen Künstleratelier. Ein Ort des Friedens eigentlich, an dem man gerne verweilt. Die geliebte SoSo hat mich kürzlich überrascht mit einem Pilgerstempel, den sie für das einsame Gehöft, auf dem wir leben, entworfen hat. Unser Atelier liegt direkt an der Nordroute des Pfälzer Jakobswegs. Ich fühle mich somit permanent in Innigkeit mit dem Jakobswegenetz verbunden. Es gibt keinen besseren Wohnort für einen ruhigen Stoiker wie mich.

Wie auch immer. Ich sehe mich derzeit als ein zum Stillstand verdammter Pilger, der Aufenthalt in der Herberge dauert schon ewig. Aber ich weiß, dass es bald weiter gehen wird. Deshalb richte ich eine Rubrik „Hurra, wir pilgern wieder!“ in diesem Blog ein, in das ich sämtliche Beiträge seit Speyer einfüge. Schön Ordnung halten, mein Herr Chaot. Ehrlich gesagt graut mir ein bisschen vor den nächsten Etappen, seit ich beim Blog- und Pilgerkollegen Soulsnatcher über die Strecke ab Nancy Richtung Vezelay gelesen habe. Aus frühen Radtouren weiß ich, dass die relativ flache, sehr, sehr, sehrsehrsehr ruhige Gegend südlich von Metz/Nancy einen schier um den Verstand bringen kann. Eine Domäne des Autofahrers. Kleine Dörfchen, ohne Laden und Leben, ohne Herbergen, kaum ein Mensch, der einem zu Gesicht kommt. Ab und zu sieht man im Augenwinkel einen Vorhang sich bewegen. Man ist nicht so alleine, wie man sich fühlt, aber man ist verdammt alleine.  Egal. Ich bin dann mal erst noch da. Die Zukunft wird zeigen, ob „Hurra, wir pilgern wieder!“ quer durch die Nordchampagne für den bußfertigen Herrn Irgendlink ein Zuckerschlecken wird, oder ein Prüfstein. In Erinnerung an meine einsame, grüne Pfälzer Wald Durchquerung auf dem nördlichen Weg von Speyer nach Zweibrücken, könnte ich mir vorstellen, dass ich es durchstehe bis Vezelay. Das Unvorstellbare ist gar nicht so unvorstellbar, wenn man sich ausmalt, wie es sein könnte. Binsenweisheit.

In der Lohntackerei stelle ich fest, dass es genau die Pilgerzähigkeit ist, die mich zu dem kraftvollen Menschen macht, der ich bin. Die Fähigkeit, sich auf den Moment zu konzentrieren. Die Ignoranz, die sich der Leistungsbürger hart erarbeiten muss, gegenüber den kleingeistigen Terminzwängen der modernen Gesellschaft, habe ich längst in den Kern meines Betriebssystems integriert.