Sechs

„Nimm soviel Du willst“, sagt sie.
„Zwei. Falls ich mal Besuch kriege.“
„Du kannst auch drei nehmen, oder vier.“
(Pause)
„Willst Du sechs?“
„Zwei genügen. Wenn ich sechs will, komme ich zu Dir.“
„Dann kriegst Du vier.“

Schottischer Kurzbesuch, Kultur und Nordseeradweg Rückdenken

Ein Besuch in der Völklinger Hütte. Industriekultur und Kunst. Rost trifft Popart. Moderne Kunst in von Pflanzen zurück erobertem Gelände. Mit von der Partie ist Ray, den ich während der Nordseeumrundung im Sommer kennen lernte. Für drei Tage ist er Gast auf dem einsamen Gehöft in der Pfalz. Gestern gabs Kultur in Völklingen, heute steht ein Artwalk in Zweibrücken auf dem Programm. Natürlich per Rad.

Am Eingang zur Allen Jones Ausstellung in Völklingen – drinnen herrscht Fotoverbot
Allen Jones-Ausstellung in der Völklinger Hütte
Das Außengelände des Eisenwerks an der Saar ist der Natur überlassen
Völklinger Hütte

Wir sperren sie zu den Anderen

Samstag, Künstlergruppe Prisma. Herr Irgendlink betreut die Galerie in der Zweibrücker Innenstadt gemeinsam mit Kunstkollegin D. Zur Erinnerung: die Künstlergruppe hatte Herrn Irgendlink während seiner Abwesendheit – ungefähr, als er Schottland mit dem Radel durchquerte, adoptiert. Gruppeninitiator P. hatte sich mittels Ersatzschlüssel Zugang zum irgendlink’schen Atelier verschafft, eine Kiste Bilder eingepackt und sie bei der Gründungsvernissage der Gruppe aufgehängt. Herr Irgendlink sendete auf alle Fragen, die er auf elektronischem Wege aufs das Mobiltelefon erhielt die Standard-Message „Die Antwort ist Ja“. Auch auf die Frage, „willst du Prismamitglied werden?“
Ach Kunstbübchen, mein Kunstbübchen, und nu hockste da, samstags um pervers zehn Uhr früh gegenüber einer völlig verkaterten Kunstkollegin D., kriegst selber kaum die Augen auf, keine Lust auf Kommunikation. Mürrisch. Gegenüber der Galerie ist eine der alteingesessensten Bäckereien der Stadt. Aus dem Galerieschaufenster hat man einen prima Blick in den Verkaufsraum. Wer was hält auf sich in der Stadt, der kauft dort seine Brötchen. Autos fahren an, Menschen raus, rein in den Bäckerladen, mit Tüten bepackt wieder raus. Die Regale mit den Auslagen leeren sich zusehends. Eines jener Wochenende, die den Menschen auf schmerzliche Weise suggerieren, dass es nie nie nie wieder etwas zu kaufen geben wird, wenn jetzt die Läden schließen. Immer wenn Gäste die Galerie betreten, raune ich Kollegin D. zu: „Wir sperren sie zu den Anderen.“ Der Spruch wird zum Running Gag. In unserer Phantasie entsteht ein riesiges Verließ unter den ehrwürdigen Galerieräumen, in dem sich nach und nach alle Kunstinteressierten der Stadt wieder finden. Und ich erzähle von dem englischen Spielfilm mit dem deutschen Titel „Hot Fuzz“ aus dem Jahr 200X, 2007 wahrscheinlich, in dem die Bürgerwehr eines kleinen englischen Städtchens alle, die auch nur irgend den Frieden des Idylls am Meer stören könnten, radikal umbringen. So gibt es auch ein Verließ, in dem die reisenden Bettler, die sich als lebende Statuen auf den Straßen präsentieren, gefangen gehalten werden. Napoleon neben Macbeth, Hamlet, allesamt weiß getünchte, hoffnungslose Kerle, wie man sie eben so sieht in den Fußgängerzonen dieser Tage.
Mittlerweile ist Kunstgruppenmitglied B. eingetroffen und natürlich habe ich sie begrüßt mit den Worten, „Wir sperren sie zu den Anderen.“ Ein älteres Paar betritt den Raum, tönt stolz, die Galerie sei ihnen empfohlen worden, und sie suchen ein Bild fürs Wohnzimmer. Etwas mit Toskana. Scheiße! Wir haben nur abstrakt. Das ist eine Kunstgalerie, bin ich versucht, sie wieder hinaus zu werfen. Toskana. Igitt. Kollegin B. wittert, dass ich mit den lieben Leutchen nicht zurecht komme, und dass wir auf eine kommunikative Katastrophe zusteuern. Spätestens, als die beiden Enttäuschten einlenken und sagen „… oder was mit Blümchen.“ B. wirft sich heldenhaft dazwischen, führt die „KunstliebhaberInnen“ durch die abstrakten Räume, während ich apathisch auf einen Zettel kritzele: „WIR SPERREN SIE ZU DEN ANDEREN.“ Verkaterte Künstlerin D. kriegt einen Lachanfall, den sie nur mit Mühe unterdrücken kann. Derweil parkt vor der Bäckerei gegenüber ein silbernes Auto mit SOLCH einer Schnauze. Laufender Motor. Unrasierter Kerl am Steuer, telefoniert. Wir handeln ab: Das Auto ist teuer. Der Kerl hat einen Minderwertikeitskomplex. Diagnose Männlein. Jetzt erhält er eine SMS, liest, ich scherze: „Sie beobachten Dich“. Er schaut sich um. Motor aus, raus aus dem Auto, rein in einen der leerstehenden Läden neben der Bäckerei. Kurze Zeit später, als würde man den Film rückwärtslaufen lassen raus aus dem Laden, rein ins Auto, Motor an, Telefonieren.
Diese Welt ist merkwürdig.
Was lerne ich an diesem Tag? Dass es nie genug Perspektiven geben kann. Ich habe bis zu dem Zeitpunkt die Welt klassifiziert in „vor der Bühne, hinter der Bühne, auf der Bühne“, eine einfache Künstlermorgenblütentraumwelt, in der es nur drei Kategorien von Menschen gibt: Publikum, SchauspielerInnen und KulturorganisatorInnen. An diesem Samstag erhalte ich einen Gratiseinblick in die Welt der KonsumentInnen und VerkäuferInnen. Das Bild von der Straße, auf der verzweifelt wie portugiesische Hunde die Meute der KonsumentInnen um die Einkaufsläden streunt. Und der hoffnungsvolle Blick aus den Schaufenstern nach draußen, dass sie den Laden stürmen, kaufen, kaufen, kaufen …
Die Straße ist tot. Die echte Welt ebenso. Es wird bald keine Läden mehr geben, in der Stadt. Es wird bald nur noch Menschen geben zu Hause vor ihren Computern, die Waren bestellen und die Kaste der Zulieferer wird es geben und seltsame Nerds, die sich Produkte ausdenken und noch seltsamere Leute, die irgendwo auf der Welt ein Volk versklaven, um den Schund zu produzieren … apathisch faselnder Herr Irgendlink am Rande des Wahnsinns.
Ich rette Erkenntnis: Die Anzahl der möglichen Betrachtungsweisen in der Welt ist schier unbegrenzt. Auf dem Heimweg durchquere ich ein Wohngebiet, in dem sie Sperrmül vor die Häuser räumen. Vor einem Haus Nummer 34 steht ein schönes Gemälde mit Pinien, Hügeln, ockerfarben verspielt mit Olivgrün und Himmelblau. Fast unversehrt, Acryl. Man kann das warme ionische Meer riechen. Seetang. gewitter liegt in der Luft. Es ist schwül. Kitsch! Ich könnte mir in den Hintern beißen. Das ist genau das, was meine KundInnen vorhin gesucht haben. Zweihundert Euro aufm Müll. Eine weitere Perspektive schleicht sich ein: wie wohl die Welt aus der Sicht eines Sperrmüllabfuhrmitarbeiters aussieht?

Der heilige Gral der Bloggosphäre

W, W, W, W wache ich auf. Der Klassiker unter den Schreibtipps, wenn es darum geht, Nutztexte mit hohem Informationsgehalt zu schreiben. Wer macht wann was wo. Wenn man diese Fragen beantwortet, hat man schon fast einen Zeitungsartikel in der Tasche.
Ich spüre, dass mein bald zehn Jahre währender Ausflug in die Bloggosphäre mit der kommenden Livereise in eine neue Runde geht. Viele neue und auch ein paar alte Schreib-Ideen warten darauf, endlich umgesetzt zu werden. Es kommt mir so vor, als wäre ich von Anbeginn meines Internetschreibens auf der Suche gewesen nach einer Art heiligem Gral. Einer Geheimformel, die fremde BesucherInnen sofort in ihren Bann zieht und und den direkten Einstieg in die gebloggte Lebensgeschichte ermöglicht. Eine Art Brückenschlag zwischen Roman und dem, was ihr gerade hier lest.
Wie oft bin ich gescheitert!
Auch gestern, als ich mir überlegt habe, mach doch mal einen Tag im Twitterstyle. Rette über den Tag verteilt Satzfetzen und Worte, Geräusche, Gerüche, Bilder in den Speicher deines iPhones und stückele abends die Fetzen zu einem Blogartikel in Listenform, etwa so:

  • 8:12 Hallo Welt!
  • 8:18 SoSo prophezeiht: du wirst gleich aufstehen und eine Kanne Kaffee aufsetzen, dich duschen und rasieren. – Du kannst in mir lesen, wie in einem offenen Buch, wie in einem schmutzigen Heftchen, das man im Straßengraben findet.
  • 9:37 Krähe auf Straße. Ich bremse. Was bin ich gut zu Vögeln!
  • 9:50 Versuche SoSo Siri anzutrainieren.
  • Twittern ist total bescheuert
  • Das ist ein Blogolerisches Experiment.
  • Soll noch einer sagen Siri ist nicht lernfähig

SoSo, die als Siri, sprich iPhonefunktion mit Dialogfähigkeit, fungiert, während der Autor Auto fahrend Satzfetzen in den Raum wirft (ob nun Cyberspace, Weltraum oder Autoinnenraum bleibt den Lesenden und deren Phantasie überlassen) sagt hier: Ähm, aber Siri wirds wenigstens nicht schlecht, wenn sie während der Fahrt auf das Display des iPhones schauen muss.

Herrjeh. Dieser konfuse Artikel istja wohl ein Bisschen zu lang. Schon wieder haarscharf am heiligen Gral der Blogliteratur vorbei gelangt.

  • Scheitern am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen.
  • Ich war soo sauer! Da kommt das so schluckzessive aus ihm raus.(Belauschtes Gespräch, Rheingoldhalle Mainz, Foyer. )

Der Schluckzessive Tweet ist leider der Letzte, den ich am gestrigen Tag ins iPhone Notizbuch retten konnte. Danach schlugen die Wogen der schlecht besuchten Kunstmesse über mir zusammen.
W, W, W, W: Irgendlink um 10 Uhr früh am Küchentisch in Freund QQlkas WG, bloggend, Kaffee trinkend, mit blinzelnden Augen durchs Fenster in den trüben Luftraum über Rheinmain blickend.

Pioniere der iPhone Kunst

Tiefe Falten auf der Stirn des Galeristen B. Das iDogma ist tot. Die iPhoneografie noch nicht mal so langlebig wie eine Eintagsfliege. Ich halte nichts davon, hat er gesagt, genauso wenig wie von der Lomografie. Das ist einfach nur Bildchenknipserei, ein Hype, mit dem mancheiner hofft, das schnelle Geld zu machen, so ähnlich wettert er über den langen Eichenholztisch in seinem geräumigen Diner-Galeristen-Büro. In der Küche duftet Braten, die Hunde liegen neben dem Ofen. Journalist F. und ich haben uns auf der gegenüberliegenden Seite des Konferenztischs verschanzt und halten unsere iPhones in der Hand. Du kannst es ruhig anfassen, sagt der Journalist. Er hat das neue iPhone 4S, mit Achtmegapixelkamera, voll verglast, ein Traum aus Hightech. Ich weiß, dass es mit einem Kontaktgift bestrichen ist, das jeden, der es anfasst, direkt veranlasst, sich auch so ein Telefon zu kaufen. Künstler Irgendlink anrufen, sagt Journalist F. in den Raum. Sein iPhone säuselt mit der feinen Stimme von Siri, der Sprachunterstützung, Irgendlink anrufen. F. bestätigt. Kurze Zeit später klingelt mein uraltes, unmodisches, miserables iPhone 3GS.

Das ist Magie. Der Galerist sieht seine Felle davon schwimmen und hebt zu einer neuen Hasstirade auf die iPhoneografie, das Telefon, seine Dienste, die Hersteller und die moderne Technik im allgemeinen an.

In ein paar Jahren, denke ich telepathisch beschwörend über den Tisch, wird es keine Diskussion mehr geben. Schritt für Schritt näheren wir und der 20 Megapixel-Marke, die Optik wird irgendwann aus echten Diamanten sein. Die D300, die schon heute überaltet bei mir zu Hause in der Ecke liegt, ist reif für das Museum. Die Netzleitung im Mobilfunknetz wird so schnell sein, dass 10 MB Bilder in Windeseile übertragen werden, der mobile Charakter dieser Kunstrichtunge wird alles derzeit Vorstellbare im Bereich der feinen etepetete Künste über den Haufen geworfen haben, auf Fußabtretern mit dem Antlitz der Monalisa werden wir unsere Stadtfeinen Schuhe säubern. Der Name Irgendlink wird in goldenen Lettern ganz oben auf einer Liste der Pioniere stehen …. Speichel läuft mir aus den Mundwinkeln, wie ein Hund , der Blut gerochen hat, verliere ich mich in einer phantastischen neuen Welt, in der alles schön ist und die Menschen lieb und jeder kreativ und jeder sein darf wie er will und und und … endlich gibt es lecker Braten, schönes, zartes, rosa Fleisch und Kartoffelbrei und fein gedünstetes Kraut. Mjam Mjam. Heute muss ein ganz besonderer Tag sein.

Ich muss an die Idee von vor ein paar Tagen denken: In der Zukunft wird es keine Urheber mehr geben und auch keine Namen oder wenigstens: Namen und Erfindungen und Schöpfungen und alles Urgehobene werden nicht mehr derart engstirnig verknüpft sein, alles wird sich auflösen in einer großen digitalen Wolke. Entitäten oder wie es heißt, Begriffe, Tags, werden die Herrschaft übernehmen und alles gehört allen. Man sollte nicht so darauf bedacht sein, seinen eigenen Namen irgendwo groß lesen zu wollen, stattdessen einfach seine künstlerische Arbeit tun.

Ade, schöne Tafel der Pioniere der moderenen iPhoneografie.