Die Löcher im Dach, der Bogenbau, das Dies und das Jenes

Die Merkwürden des Klimawandels lassen eine Wildkirsche zu liegen kommen neben drei vier Robinien. Oder unter drei vier Robinien. Oder mit ihnen verflochten wie ein Rattanmuster eines japanischen Samuraischwertgriffs, nur in groß. Sieht kompliziert aus, denke ich eines Sonntags, als wir einen Spaziergang entlang des Waldes machen und das Ensemble vor uns liegt. Ohne Spezialwerkzeug kann man das wohl nicht wegräumen.

Ein Problem mehr manifestiert sich im Kopf und wie um es zu untermalen, ruft ein paar Tage später der Nachbar an und macht mich auf das Problem aufmerksam, denn sein Wieschen am Waldrand ist dank des Baummassakers um ein paar Quadratmeter kleiner. Das Problem gesellt sich zu weiteren tragenden Langzeitproblemen in und ums einsame Gehöft. Marodes Dach an Mutters Häuschen, der bröcklnde Kamin und überall in den Scheunen und Hallen liegen Gegenstände, die anderen Menschen gehören. Menschen, die nur mal eben etwas abstellen wollten, das Abgestellte vergaßen oder starben und es hinterließen. Heizungsbauer H., der etwa in der gleichen Zeit wie mein Vater starb, hat ein riesiges Archiv hinterlassen. Uralte, stromfressende Pumpen, die einmal richtig teuer waren, noch unbenutzt. Armaturen und Rohrwerk, Werkzeug, metallisches und hölzernes Rohmaterial, für das man hin und wieder dankbar ist, um eines der vielen Löcher am sterbenden Gehöft zu flicken und den Abriss eine Zeitspanne lang zu verschieben.

Zudem der Nachlass von Journalist F., den ich nur ungern sichten mag. Zwar ist der Freund schon über ein Jahr tot. Dennoch, Gegenstände sind oft ein billiger Erinnerer an Katastrophen, die man einst miterlebte. Journalist F. hatte stets die Hoffnung, das Pflegeheim noch einmal zu verlassen und in einem betreuten Wohnen unterzukommen, weshalb ein Teil seines Hausstands nun in meinem Atelier liegt.

Längst schon wollte ich Journalist F.s Geschichte in diesem Blog aufgeschrieben haben. Seine letzten Jahre der Verelendung. Aber ich traue mich nicht ran. Überhaupt bin ich ziemlich blockiert seit ein zwei Jahren. Ist die Pandemie daran schuld? Das eigene kleine Älterwerden? Die Zipperlein, die damit einhergehen? Der Schmerz über die vielen Toten in der nahen Verwandtschaft? Seit zehn Jahren stirbt im Hause Irgendlink mindestens ein sehr nahe stehender Mensch pro Jahr.

Oder alles zusammen ein Bisschen? Konzentrieren wir uns aufs Älterwerden. Jedes Thema hat seine Zeit und dies ist vielleicht das Thema der zweiten Umwandlung. Die erste ist die Pubertät und es gibt eine zweite, die des von der Mitte des Lebens ins letzte Stückchen. Jene Zeit, in der liegen Gebliebenes aus Jahrzehnten kumuliert und sich zu einem unübersichtlichen Berg aufschichtet.

Multiple Probleme machen mich nachts um drei vier Uhr aufwachen und dann rattert die Gedankenmühle und ich räume rein gedanklich das Atelier auf, flicke Löcher im Dach, beschneide den Windschutz der Frau Mama, hole die Rattangeflechtsbäume von Nachbars Acker. Immerhin dafür gibt es einen guten Nebennutzen: Brennholz ohne Ende.

Ich wäre nicht Künstler, wenn in dem rattanähnlichen Problemgeflecht im eigenen Kopf nicht auch Fäden in die Kreativität führten. So schaue ich mir die Hölzer an und prüfe sie darauf, ob man zum Beispiel Bogen daraus bauen könnte oder andere schöne Dinge. Die Robinie ist zwar giftig, aber sehr gut geeignet als Bogenholz. In den letzten zwei Wochen konnte ich mit dem uralten Traktor, der sogenannten Hölle auf Rädern, etliche Touren zur Holzbaustelle machen und einiges der gefährlichen Situation mit Hilfe der Seilwinde und des 60 Meter langen Seils entschärfen. Mittlerweile liegt alles. Nun regnet es wieder und man kann mit dem Traktor, einem sechzig Jahre alten Porsche Super, nicht mehr auf des Nachbars Wiese, ohne sich tief in die Grasoberfläche einzugraben.

Einige liegende Stämme führen den Blick auf einen roten, uralten Traktor mit kleinem Anhänger zu. Im Hintergrund eine Baumreihe am Rad eines kahlen Achers.
Der Traktor namens ‚Hölle auf Rädern‘ im Einsatz bei der Pappelbaustelle.

Nachts wach. Nachtwachen. So kommt es, dass ich heute bis zehn Uhr schlafe. Das Wetter ist mies, zuvor habe ich vier fünf Stunden Probleme im Kopf gewälzt und mich im Bett. Ein paar Nächte zuvor, in ähnlicher Situation, bin ich um drei Uhr nachts aufgestanden, spülte Geschirr, bereitete Essen vor, sortierte Akten, schickte die Steuererklärung weg, räumte hie und da und bezahlte den Tag mit einen Gefühl unendlicher Müdigkeit. Gesund ist das nicht und über allem bricht auch der Rücken zusammen, merke ich. Das Innere wendet sich unweigerlich gegen den eigenen Körper und verschafft sich Gehör. Ich sollte einen Schnitt setzen … raus aufs Rad oder zu Fuß auf den Jakobsweg … aber erst will ich dies und das erledigt, die Löcher im Dach, der Bogenbau, das Dies und das Jenes erledigt … manchmal gerate ich in Flow, tagsüber, wenn ich arbeite und das ist gut so, denn dann laufen die Zutuns einfach ohne Widerstand und es macht richtig Spaß. Unendlich langsam komme ich voran und wenn ich nachts nicht so sinnlos darüber nachdenken würde, was noch alles zu erledigen ist, mich dabei in einen unangenehmen, verkrampften Wachzustand versetzen würde, könnte es richtig gut sein und gegen Weihnachten wäre ich mit allem zu Erledigenden fertig.

Wenn mir nicht neue Probleme einfielen, sie zu wälzen in der Nächte Sinn.

Das einsame Gehöft ist ein Fass ohne Boden.

Mein Kind-Ich fällt mir manchmal ein, wie es hie und da Arbeiten tätigte, die Scheune ausfegte, andere Kinder animierte, mitzumachen und die Welt in Ordnung zu bringen. Ich glaube, da wurde der Grundstein zum Kümmerer gelegt, der sich vorwiegend die Problemschuhe seiner Nächsten anzieht und hilft, einfach nur hilft.

Aber es gibt auch Positives. Ich denke auch an mich selbst hin und wieder. Schaffe derzeit wieder Kunstwerke. Bin mir jedoch nicht sicher, ob es sich um notgeborene Kunstwerke handelt, die ich aus dem Reich der Gegenstände, die mir nicht gehören, kreiere. Vergessene Gegenstände und Nachlässe. Gegenstände aus dem unendlichen Fundus auf dem einsamen Gehöft. Zinkrohr vom toten Heizungsbauer, das eine seltsame Plastik wurde. Dias, die keine Ahnung woher hierher kamen; schöne Schwarz-Weiß-Lehrdias aus dem Archiv Marburg, die einst zu Schulzwecken dienten, nun aber ein Lampenschirm wurden für eine nackte Stehlampe. Diese Stehlampe hatte Freund QQlka vor dreißig Jahren in einem verlassenen Haus mitgehen lassen.

Ein altes Kalenderblatt eines Holzschnitts von Martin Thönen kam mir gestern unter die Finger. Es lag lange Jahre hier, ich denke zehn, und es war für ein Col-Art Projekt gedacht, bei dem die Teilnehmenden solch ein Blatt neu übermalen oder was-auch-immern sollten. Nur hatte ich nie eine Idee. Gestern dann schon. Das zieselige Muster, das Martin aufs Oktoberblatt gedruckt hatte, hatte mich ganz schön herausgefordert, aber schließlich war klar, jede Art Kunst ist idealerweise auch eine Art Tanz, den die gemeinsam sich beflügelnden Kreativen tanzen und nun, nach all den Jahren ist mir ein ziemlich gutes Kunstwerk gelungen, das ich in die Sammlung meines Freundes Marc Kuhn geben würde.

Kurz nach zehn war ich vorhin wach, nachdem ich die halbe Nacht in Gedanken Dinge repariert hatte und Ausstellungen vorbereitet, Filme geschnitten, das Geschirr gespült, ich sollte reisen, denke ich. Das darf so nicht weitergehen. Diese Art Nachtschlaf ist Gift. Aporpos Gift: Ob man einen Sud aus Robinienholzspänen dafür verwenden kann, um den Holzwurm aus dem Gebälk der Atelierscheune zu vergrämen? Schaue Wetterbericht. Regen ohne Ende. Nächste Woche jedoch: brilliantes Herbstwetter mit Dauersonne und Temperaturen um 20 Grad.

Ich könnte das Saarland umradeln.

Und danach die restlichen Stämme vom Acker des Nachbarn ziehen.

 

Erleben geht vor Schreiben wie Schere vor Papier

Landkartenausschnitt in blassen bläulichen Farben. Finnland, Norwegen und Schweden. Von Helsinki folgt eine blaue Linie der Ostseeküste und führt schließlich bis zum Nordkap. Einige rote und blaue Stecknadelpunkte befinden sich am Verlauf der Linie

Privatartikel oder nicht Privatartikel? Ich sitze zwischen den Stühlen. Im Regelbetrieb, daheim, in der Künstlerbude, den Holzofen wärmend im Rücken, hacke ich seit einem Monat wilde, unkorrigierte Artikel, damit ich mich wieder ans tägliche Schreiben gewöhne. Ich bin schnell, die Texte sind voller Vertipper und unförmiger Formulierungen, stelle sie auf „privat“, was ganz praktisch ist in einem WordPress-Blog. Ich kann ja nicht jeden Tippfehler auf die da draußen, auf Dich, Dich und Dich loslassen. Zudem unkoordiniertes Textwerk mit springenden Gedanken von diesem zum jenem, denen jegliche Regie abhanden gekommen ist.

Ich muss schon sagen, so eine Reise ist die beste Regie für Gedanken, für das Aufschnüren von Erlebtem und Gedachtem auf eine imaginäre Perlenkette, die es gibt. Es ist die Magie des zurückgelegten Wegs, die die Geschichte wie von selbst formt. Wie ein Geländer, das dem Ängstlichen Halt gibt, um eine Treppe hinab zu steigen.

Ich habe meine Projektkarte für das Vorhaben, ans Nordkap zu radeln mittlerweile vollständig überarbeitet. Der ursprünglich angelegte Plan, von zu Hause durch Deutschland, Dänemark und Schweden bis nach Norwegen zu radeln ist passée. Man findet ihn noch in nicht eingeblendeten Kartenebenen – falls also jemand mal eine Strecke von der Pfalz bis ans Nordkap benötigt, voilà.

Unterwegs an den elsässischen Kanälen grübelnd wurde mir bewusst, wie mächtig die Möglichkeit ist, die Reise vorzeitig aufzugeben, wenn ich daheim starte. Ich schätze, dass ich es nicht einmal bis Hamburg schaffen würde. Ich vermute – ich kenne mich ja – dass ich spätestens in Bad Karlshafen das Projekt umwidmen würde in ein #UmsLand/Hessen. Fluchtgeschwindigkeit nicht erreicht, Rücksturz zur Erde rings um den Vogelsberg.

Wenn ich es wirklich noch einmal schaffen möchte, ans Nordkap zu radeln, muss ich schnell so viel Strecke zwischen mich und daheim bringen wie möglich. Mich gewaltsam hinaus katapultieren. Das ist zwar anstrengend, aber vermutlich der einzige Weg. Ich erinnerte mich an die Reise von Fediversefreundin Bahnhofsoma im vergangenen Jahr: Gibt es da nicht eine Fähre von Deutschland nach Finnland? Und eine Zugverbindung von der Pfalz an die Ostsee? Gibt es. Schnell war die Verbindung gefunden: per Bahn via Mannheim und Hamburg nach Travemünde und mit der Fähre, die um zwei Uhr nachts ablegt die restlichen etwa 1200 Kilometer bis Helsinki erschaukeln.

Zack, drin. Wie geboren werden, nur noch brutaler mit all dem Gepäck am Bein und den Unannehmlichkeiten, die das eingepferchte Reisen insbesondere mit der Bahn so mit sich bringt. Für etwa 300 Euro kann ich es innerhalb von 48 Stunden von daheim bis Helsinki schaffen.

Es dauerte ein paar Tage, bis mir der Plan unausweichlich schien, ich die Kartenebenen des Norwegenplans durch die des Finnlandplans ersetzte. Seit gestern geht es rund mit der Planung, habe ich die Strecke, meist auf Eurovelo-Routen bis zum Nordkap grob skizziert, forsche ich mit dem Mauszeiger auf der Landkarte nach Sehenswertem und Einkaufs- und Zeltmöglichkeiten. Ich nutze für die Planung sowohl meine Umap, in die ich die Punkte eintrage, als auch Googles Map und Satellitenbilder und die Streetview. Es ist erstaunlich wie dreidimensional die Erforschung auf der Landkarte ist. Als ich eben das Museum „Fanjunkars – the House of Aleksis Kivi“ in meine Karte eintrage wird ein weiterer Aspekt des Reisens bewusst. Ich bin längst unterwegs. Die Grenze des Unterwegsseins zum Nichtunterwegssein verschwimmt. Ich könnte sozusagen auch zu Hause bleiben und ein reines Sofaforschungsprojekt gestalten. Ohne Stechmücken, Salz im Haar und Schärengartenschwitzerei. Schon bemühe ich Wikipedia, wer denn dieser Alexis Kivi überhaupt war, schon schaue ich mir die Bilder aus dem Museum an, schon sehe ich das Schlafzimmer des Mannes, der einst den ersten nennenswerten Roman in finnischer Sprache geschrieben hat, schon beneide ich das Archiv und stelle mir vor, wenn es einmal ein Irgendlink Museum geben sollte, dann wünsche ich mir auch für mein Bett eine Absperrung aus rotweißem Flatterband, damit die Museumsgäste sich nicht respektlos hinein legen.

Ich schmunzele, setze in meiner Umap den Punkt für die Sehenswürdigkeit „Alexis Kivi-Museum“ und weil man den Punkten jewede Information in Text und Links mitgeben kann, schreibe ich ins Textfeld den Link zum Wikipediaartikel und ein paar Zeilen – erwähne die Sache mit dem Flatterband, achwas, plötzlich merke ich, dass ich ins Plaudern gerate und dass das Textfeld dieses Markers ein ganzer Blogartikel werden könnte, den ich dem Datensatz mitgeben könnte. Welch Macht in diesem simplen Mapping-Tool steckt und wie kreativ man es künstlerisch und literarisch einsetzen kann! Das ist Appspressionismus at it’s best. Vermengung von Karten, Bildern, Informationen jedweder Art, Datenbankeinträgen mit Geokoordinaten und eigenen und fremden Texten und eigenen und fremden Bildern und Routen – welch ein Reichtum! Irgendwann denke ich mir mal ein kollaboratives Umap-Projekt aus, denn das ließe sich ja auch gar prima realisieren. Wir stehen gerade mal am Anfang dieser jungen Schöpfung.

Es gibt schon einige zarte Umsetzungen der Umap-Kunst. Vermutlich sind Zweibrücken-Andorra und UmsLand Bayern die am besten ausgearbeiteten. Ich muss mal eine Liste anlegen. Viele meiner Umap-Projekte sind unvollständig, zudem auf zwei verschiedene Umapserver verteilt.

Aber aber, Herr Irgendlink, muss doch vorwärts gehen. Manchmal denke ich an den längst verstorbenen Autor Michael Holzach (Deutschland umsonst), der so voller Lebensdrang war, dass er sagte, schreiben könne er immer noch, er müsse erst einmal erleben. Jaja. Hatte er recht. Erleben geht vor Schreiben wie Schere vor Papier.

Ich schweife ab. Wo war ich stehen geblieben? Dass ich mir nicht sicher bin, ob ich diesen Artikel ins Unveröffentlichte oder ins Veröffentlichte einsortieren soll.

Der Tag ist noch jung. Die Karte wächst.

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In meinem Onlineshop gibt es jede Menge Kunstwerke zu kaufen. Meist sind sie unterwegs auf der Straße ins Netz gegangen. Oft „appte“ ich sie schon während der Reise.

Die Geschichte in der Geschichte in der Geschichte

Die kleine Kelter jenseits der Stadt, alljährlich im Herbst für einige Wochen zentraler Ort, an dem die Obstbaumbesitzerinnen und -besitzer ihre Äpfel, Birnen und Quitten vorbei bringen. So auch ich. So auch Quitten. Der Quittentermin am letzten Werktag im Oktober bildet stets den Höhepunkt der Obstkelterei. Die Mutter allen Erntedanks. 45 Kilo habe ich. Nicht viel. Die letzten Tage mit fast sommerlichen Temperaturen haben den Früchten ordentlich zugesetzt. Zwei Drittel sind am Baum verfault. Schwarze trockene Klumpen. Es ist ein Jammer.

Die Keltercrew, A. und F., holte dennoch über dreißig Liter raus, was mich erstaunte. F., der die Presse bediente reicht mir die Saftpakete an. Eine Kette, sagt er. Wenigstens etwas, was in Deutschland funktioniert. Ich muss an Brand löschen denken. Eimer, Menschen, Zusammenarbeit. Das Wort Deutschland störte mich in seiner Rede. Ich kenne weder F., noch A. Scheinen beide nette Kerle zu sein so auf den ersten Blick. Dennoch macht mich die Floskel „was in Deutschland noch funktioniert“ stutzig. Es könnte sich um einen sarkastischen Scherz handeln, völlig unpolitisch, ein Scherz wie er mir auch raus rutschen könnte. Könnte er? Ich weiß es nicht. Sollte ich nachfragen? Reizworte einbringen, die Floskel umlenken in ein Gespräch, um mehr über F. herauszufinden. Würde ich damit ‚meinen‘ F., den ich nicht kenne und von dem ich mir ein schnell skizziertes Bild mache auf Basis des Wenigen, das sich gerade ereignet, zerstören?

Wir bilden weiterhin Kette. Sind ja nur sechs Kartons voller Saft, aber eben, es ist diese verbindende Geste, die die Sache so herzig macht und die durch den Deutschlandspruch etwas vernebelt wird. ‚Salt‘, wie es in Digitaldingen benutzt wird, um Spuren zu verwischen.

Auf dem Rückweg denke ich, das sollteste mal bloggen, solltest sowieso mal wieder bloggen. Das Auto ist ganz warm von den Behältnissen mit dem 80 Grad heißen frisch gekelterten Saft und es riecht nach Quitten. Herrlich.

Ich muss an den letzten Blogartikel denken, der mit dem Spaziergang am Rande der Stadt auf der anderen Seite. Dass er damit endete, dass es eine Geschichte in der Geschichte gegeben hätte, wenn ich die Muse gehabt hätte, weiter zu schreiben. Und dass ich die nicht vollendete Geschichte in der Geschichte in diese Geschichte einbauen könnte, was ich hiermit tue.

Wenn du erst einmal auf einem sonnigen Bänkchen am Rande eines Wäldchens angekommen bist, rein schreiberisch, hast du eigentlich keine Lust, dich rein schreiberisch wieder aufzurappeln und den Rest des Wegs zu erzählen. Zu schön der Ort, zu friedlich die Szene. Wie letzte Woche. Wie zwei Jonase im Maul des Wals, noch nicht verschluckt, schauen Frau Soso und ich über den frisch geebneten, braunen Acker. Die Zweige der Buchen ragen über uns um uns und Wurzeln züngeln gen Acker. Walmaul, ganz klar. Paar Streuobstbäume brechen die Fläche jenseits des Mauls. Der südwestliche Horizont schmeckt nach Immersommer. Nichts lässt vermuten, dass es jemals noch mal kälter wird als in diesem Ende-Oktober-2022. Blätter fallen dennoch.

Wir rappeln uns auf. Gell, aber wir gehen nicht ins Tal, sag ich zu Frau Soso. Dann schaffen wir es vielleicht nicht wieder hinauf. Hand in Hand am Waldesrand bis zu einem Privatgrundstück, das wir umrunden und kurz bevor der Weg hinab führt in den Wald, schlägt Frau Soso einen Haken über den erdigen Acker, pass auf, Schlamm, sag ich, hab dich nicht, sagt sie und stolziert exemplarisch voran, einfach nur ganz kurz auftreten, tippeln, empfiehlt sie und ich meine, wir thematisieren, dass wir den Spaziergang bloggen sollten, so schaffen wir es querfeldein zu einem anderen Feldweg, der relativ eben zurück führt in die Zivilisation. Ernten Äpfel, bestaunen das Wühlwerk der Bauern im Braun des Ackers. Wenn wir es bis da vorne schaffen, habe ich noch eine Geschichte in der Geschichte für dich, sage ich, die Geschichte vom alten W., der mich mit seiner Tochter verheiraten wollte. Oder seine Tochter mit Dir, sagt Frau Soso. Wir schaffen es schlammigen Schuhs bis zum Hauptweg. Ja, genau hier war es, dass ich dem W. begegnete. Muss letztes Jahr gewesen sein. Er kam mir in Hausschuhen entgegen. Er wohnt ja da auf dem Hof, ich zeigte nach unten zur Mulde, wo sich ein alter Bauernhof neben einer Kleingartensiedlung duckte.

Ich mit dem Radel und er in Schlappen und Bademantel. Winkte mit einem Brief und so stoppte ich. Können Sie den Brief mit in die Stadt nehmen fragte er. Aber natürlich, wollte ohnehin gerade einkaufen. So tauschten wir uns aus, dass wir doch eigentlich Nachbarn sind, wir Höfer und ich möge doch mal zum Tischtennis bei ihm vorbei schauen. Und die Tochter? fragte Frau Soso. Kam damals noch nicht vor. Damals ging es nur um Post und Tischtennis. Jaja, der W. ist schon eine schräge Gestalt und wenn die Pandemie nicht so beunruhigend gewesen wäre, vielleicht hätte ich ihn zum Tischtennis besucht. Er sagte, er sei zwar alt, aber vermutlich habe ich trotzdem keine Chance gegen ihn. Ein Gewinnertyp. Der alles mit allem paart. Pferde, Hunde, aber das ist die Geschichte in der Geschichte, die trug sich ein halbes Jahr später zu, da oben bei der Sitzbank. Wie gesagt, Tochter und Tiere waren in der Briefkastengeschichte noch nicht aktuell. Dafür war ich zu sehr der fremde Passant, der einem anderen einen Gefallen tut. Ich weiß noch, dass es knapp vor fünf war und ich beim Briefkasten bemerkte, dass er schon um vier geleert wurde und ich also zur Post radelte, um den Brief dort abzugeben.

Als Frau Soso und ich die andere Bank erreichten, hätten wir uns womöglich für ein Weilchen ausgeruht, aber die Bank ist irgendwie belastet, sagte ich, weißte, Geschichte in der Geschichte, denn da traf ich W. später noch einmal und wir schwätzten ein bisschen mehr. Ein gelber Mann, wirkte ein bisschen krank, vielleicht was mit der Leber, mutmaßte ich. Aber die Zeit reichte für eine kleine Lebensgeschichte. Dass die Familie insgesamt drei mal enteignet wurde von Ostpreußen bis hier herüber in die Pfalz und dass sie sich immer wieder aufrappelten, zu Geld und Ansehen kamen. Dass er Hunde gehabt hätte und sie vermehrte und gut verkaufte und genau das auch mit Pferden gemacht hätte, also die Pferde mit den Pferden und die Hunde mit den Hunden und es waren höllische Summen im Spiel, nun, das Ende seiner Rede war dann die Tochter, die er mir gerne vorstellen würde. War natürlich nicht interessiert, einerseits wegen seiner Alles mit Allem paaren Attitüde und, nuja, ich hab doch dich, erzähle ich Frau Soso. Er hatte mich schließlich erneut zum Tischtennis eingeladen. Seither habe ich ihn nicht mehr getroffen.

Der Weg zurück zum Auto war flach und fein geteert, keine Herausforderung für uns Covid gebeutelte – und was W. betrifft war ich letztlich froh, ihn nicht noch einmal getroffen zu haben. Wer weiß, was für eine Geschichte er uns erzählt hätte.

 

Irgendlink wird beschenkt, kauft Moselschnaps und ist irritiert

Tassen auf dem Acker

Merkwürdige Dinge tragen sich zu. Ich bin Bauarbeiter, mitte fünfzig und habe mit meiner Kreditkarte irgendwo an der Mosel so dumm rumgeschusselt, dass der Schnapsverkäufer, dem ich vor Kurzem für über 200 Euro Schnaps abgekauft habe, keine Buchung erhält. Aber zum Glück hat der Schnapshändler ja meinen Namen, sagt der Kundenberater von der Raiffeisenbank irgendwo an der Mosel. Der Schnapsverkäufer und ich hätten uns angeregt über meine Heimatstadt unterhalten, weshalb er, der Raiffeisenbanker kurzerhand zum Telefonbuch gegriffen habe, um alle Männer meines Namens in der Stadt anzurufen, damit man das Zahlungsproblem anderweitig lösen könne.

Ich arbeite aber nicht auf dem Bau. Ich habe gar keine Kreditkarte. Ich bin auch nicht mitte fünfzig. Ich hasse Schnaps. Wenn dies ein Hitchcock-Film wäre, könnte ich mit einer gruseligen Verschwörung rechnen, mit Gedächtnisverlust und damit, dass fortan sehr viele merkwürdige Dinge in meinem Leben passieren.

Ich lege die Sache zu den Akten. Alle Verwandten meines Namens in der Stadt haben den selben Anruf erhalten. Und der Raiffeisenbanker, der uns angerufen hat, existiert tatsächlich (was nicht zwangsläufig bedeutet, dass er es war, der uns angerufen hat).

Tassen auf dem Acker
Tassen auf dem Acker

Seit Tagen liegt oberhalb des einsamen Gehöfts auf dem Acker ein Plastikkorb. Und ein Karton steht unweit davon. Als bekennende Krimifans scherzten SoSo und ich, in dem Karton ist bestimmt ein Kopf. Ein schöner Leichenfundort wäre das, wenn man mal einen Krimi schreiben wollte. Mit dem Plastikkorb hat es tatsächlich etwas Gruseliges auf sich. Ein paar Meter daneben liegt ein totes Tier. Man erkennt nur noch das Fell. Vielleicht ein Kaninchen, vom Regen zersetzt. Das Molekül Sherlock Holmes in mir kombiniert messerscharf: Transportkorb, Karnickel -> totes oder im Sterben liegendes Tier wurde entsorgt. Nun traut man sich gar nicht mehr, in den Karton zu gucken. Aber wie es die Witterung will, das Ding zerfällt und zum Vorschein kommt ein Kaffee-Service.

Ich bin im Film! Ich weiß es nur noch nicht.

Heute die nächste hitchcockeske Begebenheit. In der Garage liegt ein Paket, das ich nicht bestellt habe. Vielleicht ist Anthrax drin oder ein Finger? Vorsicht Glas steht drauf. Habe ich eine Kunstwerk-Bestellung vergessen? Mit einem mulmigen Gefühl öffne ich das Päckchen und stelle mich schon auf den Klassiker ein, den man bei Bombenentschärfungen unbedingt vor Augen haben sollte. Batterie und Drähte an Zeitschaltuhr. Die Kneifzange, um den roten ODER den blauen Draht zu durchtrennen liegt bereit. Ich werde warten, bis die imaginäre Zeitschaltur, die ich durchs Öffnen des Pakets aktiviere, auf drei Sekunden steht. So ist das immer im Film. Schweiß auf der Stirn. Das Päckchen wiegt recht schwer. Da könnte gut und gerne ein halbes Kilo Dynamit drin sein. Oder Anthrax oder ein Finger oder ein Kopf.

Ein Lieferschein liegt obendrauf und listet den Inhalt: eine Thermoskanne. Thermoskannen sind ideale Behältnisse für Sprengfallen. Oder Anthrax. Aber es fehlen die Drähte und die Uhr. Auf der Vorderseite der Kanne sind nackte Zehenspitzen aufgedruckt und der Spruch Just Do It Deborah. Das Ding scheint fabrikneu. Außer dem Lieferschein, der Kanne und einem Päckchen Gummibärchen ist nichts drin in dem Paket. Kein persönlicher Brief von einem Freund, der aufklären würde, lieber hungerleidender Künstler, ich lese dein Blog so gerne und will dir hiermit eine Freude machen. Nichts.

Ich habe die Kanne noch nicht aufgeschraubt. Die Option Anthrax, Sprengstoff oder Leichenteil ist also noch offen. Bevor ich mich daran wage, glaube ich an das Gute im Menschen und schreibe noch schnell diese Geschichte.

Ich gehe davon aus, dass mir jemand anonym etwas geschenkt hat, wofür ich mich mit dieser Geschichte herzlich bedanken möchte. Ich werde die Thermoskanne auf meiner nächsten Radeltour mitnehmen und mich jeden Tag darüber freuen. Dankeeee.

Irgendlinks schwerster Fall

Wenn es ans Ausbaldowern von Kunstreiseprojekten geht, bin ich wie ein Kampfhund, beiße mich fest, kann nicht mehr loslassen. Jo Nesbø hat in seinem Roman „Der Erlöser“ eine eindrucksvolle Szene geschrieben, in der sein Held, Harry Hole einen Drogensüchtigen in einem Containerhafen sucht. Dabei muss der Kommisar in ein, von Hunden bewachtes Gelände eindringen, wird erwischt von einem unheimlichen Vieh, einem „Schwarzen Irgendwas“, der dafür bekannt sei, dass er sich so fest in seine Beute verbeißt, dass er noch nicht einmal loslässt, wenn man ihm den Kopf abschlägt. „Irgendwas“ steht für den Namen der Hunderasse. Ich hab ihn vergessen. Aber „Schwarzer“ kam darin vor, und in meiner Phantasie hat das Vieh einen schlanken Körper und einen Kopf, der nur aus Maul besteht.

Bin ich wirklich so verbissen, wenn es um die Kunst geht? Projektversessen war ich schon immer. Diesertage geht es heiß her im Hintergrund der Irgendlink-Webseite. Designumstrukturierung, Statistik, potentielle Werbeplätze habe ich eingebaut. Die Größe des Projekts verlangt das.

Heute stapfen  wir durch die Kälte, die SoSo und ich, wobei mich manchmal wie ein Blitz die Idee überkommt, ich könnte an der Runde „Ums Meer“ scheitern. Dann wird mir ganz flau. In der Nähe von Charleroi etwa – kaum 300 km westlich von Zweibrücken – könnte ich mich einsam und verlassen fühlen, das Wetter könnte mies sein, die Gegend  wäre hässlich und die Menschen gemein und alle Widrigkeiten, die das Reiseleben zu bieten hat, könnten wie ein Kübel Mist über mir ausgeschüttet sich anfühlen und ich könnte die Lust verspüren, direkt umzukehren und mich daheim hinter den Ofen zu setzen und ein gutes Buch zu lesen. Wollen. Verdammt! So wird es auch kommen. Es wird diese absoluten Hänger-Tage geben auf der Reise, an denen ich sofort-zu-Hause-sein-will. Und es wird die Tage geben, an denen ich an dem großen Projekt jämmerlich zweifeln werde.

Hatte ich je von meiner kürzesten Langstrecken Radtour erzählt? Sie führte im November 1990 nach Gibraltar. In dem kleinen Dorf in der Nordpfalz, in dem ich bei Minusgraden und dichtem Nebel startete, verhöhnte mich eine alte Frau auf dem Weg zum Metzger, Spinner, zischte sie quer über die Hauptstraße und packte ihren Enkel fest bei der Hand. Ich schaffte es bis nach Johanniskreuz im Pfälzer Wald. Wo sich, dank der Höhe, der Nebel lichtete. Im Queichtal bei Annweiler wieder dichte, nervenzermürbende Suppe, so dass ich kurzer Hand in einer Telefonzelle zu Hause anrief und mich abholen ließ. Die kürzeste Langstrecken Radtour meines Lebens. Abends freute ich mich vor der Glotze an einer Folge von „The Unknown Stuntman“. Zwei Monate später radelte ich während des ersten Golfkriegs bis nach Valencia.

Es beunruhigt mich, das kommende Projekt derart an die große Glocke zu hängen. Ich suche nach einem Weg, mir meine unbedarfte Freiheit (die ja immer da ist, so wie Luft) und die arglose Unbeschwertheit zu verinnerlichen. Schon merkwürdig, dass man ständig am Wegesuchen ist im Leben. Und dass im Nachhinein alles so einfach war und die Lösung so offensichtlich gewesen sein wird.

Ich erinnere mich, dass es eiskalt war im „Erlöser“. Dass ich mir vorgestellt habe, wie schlimm es sein muss bei der Kälte mit einem Hund am Bein (sprichwörtlich) draußen zu sein. Eine winterliches Oslo hat Nesbø gezeichnet, und zudem ein knallhartes Drogenmillieu, so dass mir ehrlich gesagt die Lust vergangen ist, noch einmal mit dem Fahrrad durch Oslo zu radeln – es liegt auch nicht explizit am Nordseeradweg. Dennoch, wenn es das Oslo aus meiner Erinnerung wäre und Jo Nesbø in seiner Krimireihe die guten Erinnerungen nicht „überschrieben“ hätte, es wäre einen Abstecher wert. Hole löst den Fall. Er ist nämlich auch einer, der sich festbeißt. Alle Fälle hat er gelöst, von Mal zu Mal ein bisschen malträtierter.