Das Zelt steht direkt neben der Friedhofsmauer auf einem fein gemähten Wieschen. Kirchengrund, davon gehe ich mal aus. Die Kirche liegt etwas abseits einer Stadtstraße auf einem Hügel, umringt von Gräbern. Uralte Bäume. Feine Kieswege, die man kaum betreten möchte, weil sie offenbar mit einem Rechen wie frisch gescheitelt da liegen. Deutlich erkennt man die Spur meines Radels, die ich am Abend, schiebend durch diesen parkähnlichen Friedhof gezogen habe.
Bänklein. Brünnlein. Stille. Ein Idyll. Und das inmitten einer relativ großen Stadt. Wieviele Einwohner mag Boden haben? Zwanzigtausend, dreißigtausend? So groß wie Zweibrücken, meine Heimatstadt, fühlt es sich an. Kilometerweit führt der Sverigeleden an einem militärischen Übungsgelände vorbei bis hinein in die Stadt. Gelbrote Schilder warnen in regelmäßigen Abständen, an Bäume genagelt, dass man hier in den Wäldern vorsichtig sein soll. Vor allem nix anfassen, was nach Granate aussieht. An jedem Waldweg, der hineinführt in das Gelände, steht eine Tafel mit Abbildungen der Gegenstände, die bei Manövern verloren gegangen sein könnten.
Auch das Militär erinnert an Zweibrücken. Die Kaserne, weitläufig mit Exerzierplätzen aufgelockert, Krüppelwalmgebäude, irgendwie barock, teils leerstehend, oder umgewidmet, konvertiert würde man in Zweibrücken sagen, also einer Zivilen Nutzung übergeben. Ein Loppishaus mit einem Reiseschlitten davor hat sich zum Beispiel eingenistet.
Aber es gibt immer noch die Garnison, die hier stationiert ist. Panzer stehen dekorativ am Straßenrand, wie zu einer Parade aufgerichtet. Junge Männer joggen zugweise und sehen dabei nicht sehr glücklich aus. Mann, müssen die die hier schleifen, denke ich. Dagegen ist meine Reise ans Kap eine Spazierfahrt. Vielleicht ist es auch nur die Hoffnungslosigkeit jenseits der Orientierungslosigkeit einer Jugend auf dem Land irgendwo in Schweden, was ich in den Augen der joggenden Jungs lese? Reingerutscht in eine Menschengesellschaft, die einem das Schubladenleben vorlebt und somit jegliche Chance auf Eigeninitiative und darauf, das herauszufinden, was man wirklich mit dem Leben anfangen möchte, zu Nichte macht.
Ich interpretiere zu viel.
Der Platz neben dem Friedhof war eine Notlösung. Auf dem Campingplatz, den ich eigentlich „entern“ wollte, um mal wieder heiß zu duschen, waren mir die 210 Kronen, mehr als 20 Euro pro Nacht, denn doch zu teuer. Das Jedermannsrechterlaubt es ja, überall wo man niemanden stört für bis zu zwei Nächte zu zelten (ich glaube, das gilt nur für Wanderer, Radler oder zu Pferd oder per Ski, wird aber auch oft von Wohnmobilisten und Wohnwagenreisenden in Anspruch genommen).
Also bietet ein Campingplatz als einzigen Mehrwert ein Waschhaus mit Aufenthaltsraum, Küche, sowie Wifi vielleicht.
Mein Platz liegt kaum einen Kilometer von dem Camping entfernt.
Morgens wird mir die heimische Enge klar, die ich im Kopf noch immer mit mir trage. In Deutschland würde man wohl kaum in einer Stadt neben der Kirche zelten. Ungefragt. Es ist zum Einen nicht erlaubt, zum anderen wird man fast garantiert gestört, schräg angeguckt, mindestens gefragt, was machen sie hier?
(Ich zelte, sieht man doch).
Autos fahren vorbei. Friedhofsgärtner. Ein Lieferwagen mit der Aufschrift „Kyrka“, also Kirche und noch ein paar Worten. Der Pfarrer? Niemand nimmt Anstoß. Niemand hupt. Niemand verlangsamt seine Fahrt, um in einer Art Revierverteidigungsgebärde zu suggerieren, he Junge, was zeltest du hier rum? Niemand starrt durchs offene Zeltfenster.
Trotzdem bin ich unruhig. Daran ist das deutsche Enge-Gen schuld. Weil es über die Jahrzehnte so gewachsen ist, dass man so nicht sein darf. Merkwürdig, nichtwahr?
Manchmal frage ich mich, wohin das noch führt mit der Regulierungswut, die durch die Menschengesellschaften tobt. Für alles und jedes gibt es eine Regel, werden Grenzen gezogen und mit den Grenzen kommen automatisch diejenigen, die jenseits dieser Grenzen in der Illegalität leben, die das vielleicht schon immer getan haben, aber erst durch die Regelung zu Übeltätern werden.
Ein Bericht über ein Dorf irgendwo im Norden Deutschlands kommt mir in den Sinn. Sie hatten ein arges Verkehrsproblem wegen einer stark befahrenen Straße, die hindurchführt. Es gab zahlreiche Ampeln und Zebrastreifen, Regeln über Regeln und trotz all dem wurde man der hohen Unfall- und Konfliktrate nicht Herr. Bis irgendwann ein findiger – ich glaube holländischer – Verkehrsplaner sagte, wir schaffen alle Regeln und Verkehrsschilder ab, demontieren die Ampeln, machen die Zebrastreifen weg.
Seitdem sei das Verkehrsinfarktsproblem gelöst.
Ich nun in meinem Zelt wo auch immer in Schweden, frage mich, ob es nicht besser wäre, gesunden Menschenverstand und Rücksichtnahme und Einfühlungsvermögen zu lehren in den Schulen, statt brachial diese regulierende Linienzieherei aus ‚Dies-darfst-dus‘ und ‚Dies-darfst-du-nichts‘ einzutrichtern.
Die Gefahr der Regeln besteht doch darin, dass die Regulierten sich irgendwann kaltherzig dahinter verstecken, auf Rechte pochen, obwohl sie es nicht müssten, zu Revierverteidigenden Enggeistern werden, anstatt sich vom stumpfen (reviermarkierenden) Tiersein abzuheben und nächstenliebende Menschen zu werden.