Straße nach Gibraltar 009

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Mittwoch, 19. April 2000

Nach der unruhigen, weil zu ruhigen, Nacht wurde mir bewusst, dass es nun nicht mehr so einfach wäre, an einem Tag per Muskelkraft umzukehren. Fast 300 km von zu hause entfernt. Die wohlige Wärme der heimischen Wohnung war in eine gewisse Ferne gerückt. Die Nervosität, die mich in den voran gegangenen Tagen direkt nach dem Aufstehen ergriffen hatte, war nicht mehr ganz so schlimm. Ich entwickelte einen gehörigen Hunger, was zum Einen auf die körperliche Anstrengung zurück zu führen war, aber auch zu einem guten Teil durch den Aufenthalt an der frischen Luft, 24 Stunden am Tag, gefördert wurde. Der Körper braucht mehr Energie, wenn er de, noch recht frischen Temperaturen des Frühlings trotzen muss. Ich frühstückte Baguette vom Vortag, welches ich auf dem Spirituskocher in der Pfanne toastete. Schmierte Butter darauf und belegte es mit Camembert. Ein Schluck eiskalten Trinkjoghurt der Marke Yop, Parfum Framboise, das heißt Himbeergeschmack. An den Aufdrucken meiner Lebensmittel, bemerkte ich, wie meine Umgebung von Tag zu Tag französischer wurde. Auch die Orte trugen nun echte französische Namen, in denen das U als Ü gesprochen wurde und bei deren Aussprache man das CH kehlig sprechen musste, das A, das O und das E zu differenzieren wäre eine Aufgabe für Fortgeschrittene. Die Sprache bereitete mir keine Probleme. Es ist wie so oft das kindliche Gemüt des Fernreisenden, welches einen mirnichtsdirnichts mit den Menschen in Kontakt kommen lässt, heyda, wohin des Weges, und so radebricht man über Landmarken, das Wetter, die Schönheit der Gegend. Die Menschen in den kleinen Dörfern nördlich von Dijon besitzen einen ganz eigenen Stolz.

Das Wetter hatte sich gebessert. Ab und zu schien die Sonne, gefolgt von Wolken aus Westen, welche nichts Gutes ahnen ließen. Ich kurbelte auf winzigen, kaum befahrenen Departementsstraßen dahin und redete mit mir selbst auf französisch, um meine Aussprache zu verbessern. Immer wieder las ich mir leise murmelnd die Namen der Dörfer vor, die ich durchquerte: „Morey, Saint Julian, Suaucourt“ gut auch ein Dorf namens Pisseloup, welches ich lapidar mit Wolfspisse übersetzte. Bei einer Kirche, außerhalb von Molay legte ich eine Rast ein, aß Schokoriegel. Putzfrauen standen gebückt auf dem kalten Boden. In der kräftigen Frühlingssonne schwirrte ein Schwarm Mücken.

Von der Mystik des Ortes angetan, phantasierte ich mich in eine antike Welt, in der die Straßen noch nicht geteert waren und man sich langsam und bedächtig mittels von Ochsen gezogener Karren von Ort zu Ort bewegte. Es war eine Welt der Bauern und Marketender. Von der Ortsgemeinde bezahlte Reinigungskräfte gab es damals noch nicht. Fromme Mägde reinigten die Kirche in ehrenamtlichem Dienst, Gott zu gefallen war ihr anliegen. Menschen wie ich, die aus Abenteuerlust oder weil sie keine andere Wahl hatten, das Land zu Fuß durchquerten, kehrten ein in dieser Kirche am Weg, bekreuzigten sich, sprachen ein Gebet und zogen ihres Weges. Ich zerknautschte das bunt bedruckte Papier, in welches der Schokoriegel gewickelt war und steckte es in die Hosentasche. Was damals das handgeschnitzte Kreuz, das ist heute der, im letzten Supermarkt erworbene Konsumartikel. Diese Welt geht vor die Hunde. Es gibt keine Treue mehr. Alles ist verbraucht. Und das was nicht verbraucht ist, muss erst noch produziert werden, um es dem Kreislauf dieser gottlosen Konsumwelt anheim zu geben.

In einem Anflug von Sentimentailtät kullerte so eine Art Träne. Ich stemmte mich wieder in den Rahmen und zuckelte mit wenigen Metern pro Sekunde dem Wind entgegen.

Straße nach Gibraltar – Zwischenbemerkung

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Alle Blogtexte entstehen in kürzester Zeit und werden in keiner Weise lektoriert. Die Schreibe folgt dem Credo: „Wenn ich warten würde, bis die Rahmenbedingungen perfekt sind, würde ich nie beginnen.“

Vielleicht wird das Buch holprig und ungelenk, aber es wird.

„Und so sehet die Alpenstraßenbauer: wagten sie nicht alles, ein zwei Jahrhunderte zuvor, um in serpentinösen Pässen den Eselskarrenfahrern eine Überquerung des Gebirges zu ermöglichen? Seht an, seht an, das Alpental, wie es geziert von den Wunden vorangegangener Trassen nun im vollklimatisierten Tunnel verschwindet.“

Guten Morgen. Viel passiert die letzten Tage. Montags rief Journlist F. an in seiner Funktion als Jazz-Festival-Organisator. „Wir brauchen einen Programmhefteverteiler für Saarbrücken, es soll dein Schaden nicht sein.“ Ich sagte ja. Montagsabends um Acht ist Saarbrücken eine gottverlassene Landeshauptstadt. Glänzende Kirchen und geschlossene Geschäfte, die Kneipen am St Johanner Markt noch kaum belebt, was das Verteilen von Programmheften rauchfrei und recht fix gestaltete. Am St Johanner Markt befindet sich eine Kneipe neben der anderen. Edelster Chromglanz, Ledersessel, Tresen wie geleckt, sowie pommadierte Bedienungen von wohlgeformter Statur. Allesamt freundlichst bis überherzlich. Eine Blase aus Traum, die in den dunkleren Seitengassen gesäumt wird von den armen Teufeln der Stadt. Wie ein engmaschiges Netz schnüren sie den Kneipenkern ein. Junkies, Bettler, Greise, Menschen, die irgendie irgendwann irgendwo mal eine Chance verpasst haben. Nun auf der Straße leben. Offensiv bitten sie mit Bechern in der Hand um Geld. Sie wenden dabei eine Art Treibjagd-Taktik an. Zu zweit oder zu dritt schnüren sie die Straße ein und bitten einjeden der ihnen begegnet, Auge in Auge um Geld. ich leerte meinen Kleingeldbeutel restlos bis auf den einen Euro, den ich für die Parkplatzgebühr benötigte. In gewisser Weise, so dachte ich, kommt auch der den armen Teufeln zu. Die Stadt muss wohl horrende Summen an Armengeld aufbringen.

Rückweg auf der Autobahn: es ist nur eine gute halbe Stunde Fahrt bis zum einsamen Gehöft. Nachts Autobahn fahren macht mich sentimental. ich überdenke mein Leben: „solltest wieder in die Stadt ziehen. Das wäre doch schick?“ Der Glanz und Glitter und Glammer des St. Johanner Markts hat eine unbeschreiblich reizvolle Wirkung, die einen wohl erst dann abzustoßen vermag, wenn man tagein tagaus dort verkehrt, sei es auf der einen oder auf der anderen Seite.

Straße nach Gibraltar 008

Und also schrieb ich in mein Tagebuch.

Schlaflos im Zelt, 0.45 Uhr, Mittwoch, 19. April 2000, Dieses Montigny! So still. Das ist paradox, dass ich hier nicht schlafen kann. Ich bin aufgeregt. Herz rast. Es ist, als ob die Offensichtlichkeit, hier ist es ruhig, hier kannst du ruhen wie eine zenistische Kraft genau das Gegenteil ihrer eigenen Forderung bewirkt (oder so ähnlich). Hier hört man überhaupt nichts. Es regnet nicht. Der Wind ist still. Fernab jeglicher Straße oder gar Autobahn gibt es noch nicht einmal das Hintergrundrauschen. Das gibt es doch immer und überall in Europa!? Überall brummt eine Straße tagein tagaus. Nur nicht hier. Im weiten Umkreis ist auch kein einziger Techno-Idiot, der mit wummernden Bässen unter Aufputschmitteln eine Landstraße im Flug nimmt. Keine Einflugschneiße, dabei sind doch die Flughäfen Straßbourg und Saarbrücken ganz in der Nähe. Immerhin: ein paar Schafe blöken. Ich sollte sie zählen, doch das ist nicht mein Stil. Ich gehe raus zum Pinkeln. Die Nacht ist sternenklar. Das Wasser plätschert unheimlich laut. Die Glocke von Montigny schlägt jede Stunde. Unbeschreiblich lange hallt der jeweils letzte Schlag. Auch die Glocken entfernterer Dörfer hört man. Ich frage mich, ob sie alle gleichzeitig schlagen und ich nur die Glocke von Montigny zuerst höre, weil sie am nächsten ist und das Geräusch somit am schnellsten bei mir ist? Der schall Schafft nur etwa 300 Meter pro Sekunde. Ein Radler, ein vollbepackter Radler, wieviele Meter pro Sekunde schafft der? Keine Lust zu rechnen. Ich werde es herausfinden.

Vom Glauben oder: vom Mut, zu irren

Ist schon eine Weile her, da waren Kokolores und ich unterwegs im Wald auf der Suche nach einem sog. Multicache. Ein Multicache ist eine Art Schnitzeljagt mit GPS, bei der man mehrere Stationen erwandert und Rätsel löst, die einen zur nächsten Station führen. Nun begab es sich, dass wir in jener Gegend ortskundig waren.Kokolores zeigte mit dem Finger auf einen Felsen, noch ehe wir Rätselstation eins (von insgesamt drei) erreicht hatten: „Schau mal da, das ist bestimmt das Finale.“ Die letzte Station des Multicaches. Das Ziel! Da uns unsere Wanderung sowieso an dem Felsen vorbei führte, stocherten wir mit Stöcken mehr schlecht als recht, in den Ritzen. Man könnte sagen, halbherzig, lustlos, ohne jegliche Überzeugung. Nach einer Weile unbefriedigender Suche setzten wir unsere Schnitzeljagt fort und lösten sämtliche Stationen, und siehe, die vorletzte Station wies uns just zu dem Felsen zurück. Im zweiten Anlauf, mit der Sicherheit erwiesenen Wissens im Rücken, war es ein Leichtes, das Versteck zu finden und die Schnitzeljagd zu beenden.

Ich habe sehr lange und immer wieder über diese Begebenheit nachgedacht. Auf anschauliche Weise wird die Macht des Glaubens (und mit Glauben meine ich: etwas nicht Erwiesenes als Tatsache annehmen) demonstriert – oder vielmehr, in unserem Fall, wird die zerrüttete unsichere Existenz der Ungläubigen demonstriert. Wer festen Glaubens ist, erreicht sein Ziel schneller (wenn er nicht irrt), sei es auch nur eine Geocaching-Tour im Pfälzer Wald.