Guten Morgen. Viel passiert die letzten Tage. Montags rief Journlist F. an in seiner Funktion als Jazz-Festival-Organisator. „Wir brauchen einen Programmhefteverteiler für Saarbrücken, es soll dein Schaden nicht sein.“ Ich sagte ja. Montagsabends um Acht ist Saarbrücken eine gottverlassene Landeshauptstadt. Glänzende Kirchen und geschlossene Geschäfte, die Kneipen am St Johanner Markt noch kaum belebt, was das Verteilen von Programmheften rauchfrei und recht fix gestaltete. Am St Johanner Markt befindet sich eine Kneipe neben der anderen. Edelster Chromglanz, Ledersessel, Tresen wie geleckt, sowie pommadierte Bedienungen von wohlgeformter Statur. Allesamt freundlichst bis überherzlich. Eine Blase aus Traum, die in den dunkleren Seitengassen gesäumt wird von den armen Teufeln der Stadt. Wie ein engmaschiges Netz schnüren sie den Kneipenkern ein. Junkies, Bettler, Greise, Menschen, die irgendie irgendwann irgendwo mal eine Chance verpasst haben. Nun auf der Straße leben. Offensiv bitten sie mit Bechern in der Hand um Geld. Sie wenden dabei eine Art Treibjagd-Taktik an. Zu zweit oder zu dritt schnüren sie die Straße ein und bitten einjeden der ihnen begegnet, Auge in Auge um Geld. ich leerte meinen Kleingeldbeutel restlos bis auf den einen Euro, den ich für die Parkplatzgebühr benötigte. In gewisser Weise, so dachte ich, kommt auch der den armen Teufeln zu. Die Stadt muss wohl horrende Summen an Armengeld aufbringen.

Rückweg auf der Autobahn: es ist nur eine gute halbe Stunde Fahrt bis zum einsamen Gehöft. Nachts Autobahn fahren macht mich sentimental. ich überdenke mein Leben: „solltest wieder in die Stadt ziehen. Das wäre doch schick?“ Der Glanz und Glitter und Glammer des St. Johanner Markts hat eine unbeschreiblich reizvolle Wirkung, die einen wohl erst dann abzustoßen vermag, wenn man tagein tagaus dort verkehrt, sei es auf der einen oder auf der anderen Seite.

Straße nach Gibraltar 008

Und also schrieb ich in mein Tagebuch.

Schlaflos im Zelt, 0.45 Uhr, Mittwoch, 19. April 2000, Dieses Montigny! So still. Das ist paradox, dass ich hier nicht schlafen kann. Ich bin aufgeregt. Herz rast. Es ist, als ob die Offensichtlichkeit, hier ist es ruhig, hier kannst du ruhen wie eine zenistische Kraft genau das Gegenteil ihrer eigenen Forderung bewirkt (oder so ähnlich). Hier hört man überhaupt nichts. Es regnet nicht. Der Wind ist still. Fernab jeglicher Straße oder gar Autobahn gibt es noch nicht einmal das Hintergrundrauschen. Das gibt es doch immer und überall in Europa!? Überall brummt eine Straße tagein tagaus. Nur nicht hier. Im weiten Umkreis ist auch kein einziger Techno-Idiot, der mit wummernden Bässen unter Aufputschmitteln eine Landstraße im Flug nimmt. Keine Einflugschneiße, dabei sind doch die Flughäfen Straßbourg und Saarbrücken ganz in der Nähe. Immerhin: ein paar Schafe blöken. Ich sollte sie zählen, doch das ist nicht mein Stil. Ich gehe raus zum Pinkeln. Die Nacht ist sternenklar. Das Wasser plätschert unheimlich laut. Die Glocke von Montigny schlägt jede Stunde. Unbeschreiblich lange hallt der jeweils letzte Schlag. Auch die Glocken entfernterer Dörfer hört man. Ich frage mich, ob sie alle gleichzeitig schlagen und ich nur die Glocke von Montigny zuerst höre, weil sie am nächsten ist und das Geräusch somit am schnellsten bei mir ist? Der schall Schafft nur etwa 300 Meter pro Sekunde. Ein Radler, ein vollbepackter Radler, wieviele Meter pro Sekunde schafft der? Keine Lust zu rechnen. Ich werde es herausfinden.

Vom Glauben oder: vom Mut, zu irren

Ist schon eine Weile her, da waren Kokolores und ich unterwegs im Wald auf der Suche nach einem sog. Multicache. Ein Multicache ist eine Art Schnitzeljagt mit GPS, bei der man mehrere Stationen erwandert und Rätsel löst, die einen zur nächsten Station führen. Nun begab es sich, dass wir in jener Gegend ortskundig waren.Kokolores zeigte mit dem Finger auf einen Felsen, noch ehe wir Rätselstation eins (von insgesamt drei) erreicht hatten: „Schau mal da, das ist bestimmt das Finale.“ Die letzte Station des Multicaches. Das Ziel! Da uns unsere Wanderung sowieso an dem Felsen vorbei führte, stocherten wir mit Stöcken mehr schlecht als recht, in den Ritzen. Man könnte sagen, halbherzig, lustlos, ohne jegliche Überzeugung. Nach einer Weile unbefriedigender Suche setzten wir unsere Schnitzeljagt fort und lösten sämtliche Stationen, und siehe, die vorletzte Station wies uns just zu dem Felsen zurück. Im zweiten Anlauf, mit der Sicherheit erwiesenen Wissens im Rücken, war es ein Leichtes, das Versteck zu finden und die Schnitzeljagd zu beenden.

Ich habe sehr lange und immer wieder über diese Begebenheit nachgedacht. Auf anschauliche Weise wird die Macht des Glaubens (und mit Glauben meine ich: etwas nicht Erwiesenes als Tatsache annehmen) demonstriert – oder vielmehr, in unserem Fall, wird die zerrüttete unsichere Existenz der Ungläubigen demonstriert. Wer festen Glaubens ist, erreicht sein Ziel schneller (wenn er nicht irrt), sei es auch nur eine Geocaching-Tour im Pfälzer Wald.

Straße nach Gibraltar 007

anfang  (Bild, Link entfernt 2016-11-26)

Dienstag, 18. April 2000

Ich erinnere mich an diesen Tag. Er ist repräsentativ für alle ersten drei vier Tage einer Fahrradreise. Wenn man von zu Hause startet und das süße Leben hinter dem Ofen mit all seinen Verköstigungen, gegen das Leben unterwegs tauscht, dann sind die Morgen ganz besonders schlimm: Was könnte ich an diesem Tag tun? Ich habe nicht allzu gut geschlafen auf der Isomatte. Es ist kalt. Nieselregen pocht aufs Zelt, was könnte ich also tun? Zurückfahren! Noch ist es nicht zu spät. Nur 183 Kilometer trennen dich von deiner warmen, gut eingerichteten Wohnung, in der dir jeder Gegenstand vertraut ist und in der du deine alltäglichen Rituale hast, zum Frühstück gibt es dies und dies und das, dann verrichtest du deine Arbeit, mit den lieben Kollegen in die Frühstückspause, Mittagessen, nachmittags noch einen Kaffee, bevor du auf deiner täglichen Rutsche durch den Tag wieder in der heimeligen Wohnung bist. Dienstags ab 18 Uhr laufen im dritten Programm Berichte über ferne Länder, fremde Kulturen. Der Konsum der Fremde ist leichter, als deren Erforschung. Aber er schmeckt fad.
Bei Kilometer 206 erspähte ich auf der D6 in Richtung Darney, just als ich ein kleines Wäldchen durchquerte, einen blauen Fleck am Himmel. Die geschlossene Wolkendecke der letzten Tage zeigte Risse. Der Wind war schwächer geworden und hatte auf Süden gedreht. Die Luft schien wärmer. Ich schwitzte. Es ist schwer zu beschreiben, wie ein solch winziger blauer Fleck einem das Gemüt erhellen kann, beinahe könnte diese Szene aus einer kitschigen Monumentalverfilmung einer biblischen Szene stammen, wie man sie vor Ostern im Fernsehen zu hauf geboten bekommt. Das Licht brach an den Wolken und der helle Strahl Gottes traf den Gerechten. Der Gerechte, das war in diesem Fall ich. Von Gott keine Spur, aber das Licht war echt. Es sollte mein Leitstrahl werden.

Wenn ich zurückdenke, erinnere ich mich, dass die Tour in diesen ersten Tagen ganz besonders auf der Kippe gestanden hat. Obige Gründe, das nahe Zuhause und die Gewohnheit auf der einen Seite, sowie die ungewisse Zukunft meiner Reise auf der anderen Seite waren Faktoren von ungemeiner Kraft, die jede Entscheidung, die ich in diesen erstenTtagen traf gehörig mitbestimmten. Ich gebe zu, ich dachte oft über das Aufgeben nach. Es ist wohl meiner strengen fotografischen Artbeit zu verdanken, schließlich machte ich alle 10 Kilometer ein Foto in Richtung Gibraltar, dass ich trotzdem durchhielt. Als einen weiteren maßgeblichen Zufall erachte ich es, dass ich in nicht wusste, dass ich beim Start der Reise aus purer Schludrigkeit einen großen Fehler begangen hatte. Einen Fehler, der den Freibrief zur Aufgabe bedeutet hätte, wäre er mir nur bewusst gewesen. Doch davon an anderer, so weit von zu Hause entfernter Stelle, an der eine Umkehr nicht mehr möglich war.

Straße nach Gibraltar 006

anfang  (Bild, Link entfernt 2016-11-26)

Wo hätte ich gedacht, dass ich die zweite Nacht an der Mosel verbringen würde? Als Deutscher ist einem die Mosel als schlangenlinienförmiger Fluss in einem tiefen Tal bekannt. Der Wein, der an der Mosel produziert wird, hat den blumigen Geschmack von Schräglage und die Moselaner leben in Städten wie Traben-Trarbbach und Bernkastel-Kues. Auch ein, durchs amerikanische Fernsehen ungewollt berühmt gewordenes, Dorf namens Alf gibt es an der Mosel.

Und es gibt Bayon, Frankreich, ein kleines Städchen, welches einen Campingplatz besitzt. Dort stand mein Zelt vom 17. auf den 18. April 2000. Ich war einer der wenigen Gäste und teilte den Platz und das Waschhaus mit einer niederländischen und einer französischen Familie. Die Franzosen lebten in einem Wohnwagen, eine dicke Mutter mit ihren drei Kindern. Am Abend kam eines der Kinder herüber zum Zelt und reichte mir den Topf mit Spaghetti Bolognese, den sie übrig hatten. Ich war gerührt. ich war auch erstaunt. Sehe ich denn nach zwei Tagen Tour schon aus wie ein Bettler, der es nötig hat?

Im Intermarche von Luneville war ich wie ein wildes hungriges Tier durch die Regale gestreift. Süße Musik rieselte, unterbrochen von Eigenwerbung des Marktes,aus den Lautsprechern. Bei den überzuckerten Milchprodukten füllte ich meinen Korb, Stopover in der Fleischtheke, wo es mir winzige fette Würstchen namens Knackis angetan hatten, hinüber zu den Teigwaren, Gnocchi, und zu guter Letzt: Tomatensoße durfte nicht fehlen. Nassgeschwitzt und glücklich stand ich in einer langen Schlange bei der Kasse, dort, ganz vorne, wo sie dem Kunden das Letzte abfordern, indem sie ihm Schokoriegel, Kaugummie, Kinderspielzeug, die ganze Pallette unnützen Kleinkrams, den die westliche Zivilisation aufzubieten hat, direkt vor die Nase hielten. Spiesrutenlauf.

Dessen erinnerte ich mich, als das Kind mir den Topf vor die Nase hielt. Ich weiß nicht, was mich geritten hatte, war es dieses merkwürdige Gefühl, das man wohl nur dann hat, wenn man alleine unterwegs ist und niemand ist da, mit dem man mal ein paar Worte wecheseln, lächeln oder einen Witz erzählen könnte? in solchen Momenten sollte man dankbar sein, wenn sich einem ein Mensch zuwendet, sei es nur, weil er dir einen halb angefressenen Topf Nudeln überreicht. Ich ließ es mir schmecken, spülte den Topf fein säuberlich und amüsierte mich, als die Mutter den wirklich blitzeblank mit heißem wasser und Spülmittel und einem nagelneuen Schwamm gespülten Topf kurze Zeit später noch einmal spülte.