Das Turmzimmer, gedanklich fein tapeziert #AnsKap

Donnerstags oder freitags müssen sie den Sperrmüll oben an der Landstraße abgeholt haben. Ein Tisch, Holzplatte, Kleinkram. Nur die Asche eines Teppichs liegt noch im Gras, als ich samstags an der Stelle vorbei komme. Obwohl die Landstraße kaum zweihundert Meter entfernt ist, bin ich nicht all zu oft da oben. Ich verlasse den Hof nur selten. Eigentlich kriegt man auf dem einsamen Gehöft von der Welt nicht viel mit, wenn man sich aus den sozialen Medien und aus der Stadt fern hält. Nur bei Ostwind hämmert es einem den Verkehrslärm mit Wucht um die Ohren.

Herr Irgendlink, für ihre Wette haben sie eine unbestimmt lange Zeit mehrere Jahre in einem dunklen Raum ohne Uhr und Kalender verbracht. Sie wetten, dass sie die aktuelle Jahreszeit einzig am Geräusch des Verkehrslärms erkennen können?

Anfang März. Motorräder, Cabrios, Kleinbubenröhrmotorvehikel verlassen die Garagen. Eine wahrhaft ‚Kambrische Explosion der Saisonkennzeichen‘.

Nachdem ich im Internet das örtliche Meldeportal für Sperrmüll entdeckt hatte, markierte ich die Stelle, an der der Tisch und der Teppich ‚entsorgt‘ wurden auf der Landkarte und schickte es ab. Das war sonntags zuvor. Fast wie am Laufenden Band notierte ich Teppich, Tisch, Regal, Telefonbuch, Fragezeichen, Bügeleisen … ich scherze, aber die Müllkippen unserer Zeit sind ja die obskuren Spiegel unseres einstigen Begehrens. Um ein paar Kröten zu sparen, liegt es doch nahe, bei Nacht und Nebel in die Natur zu fahren und den Müll dort abzuladen, statt auf der nahen Müllkippe für die Entsorgung zu bezahlen. Ein paar Tage nach der Meldung war der Teppich verbrannt. Jemand musste ihn nachts angezündet haben. Nur noch ein schwarzer Fleck.
Samstags alles clean, das Portal scheint zu funktionieren, ich auf dem Weg zu Freund Journalist F.s Pflegeheim, um ein Schwätzchen zu halten und ihm ein paar Dinge mitzubringen, Schokolade, Wurst, Getränke, Bügeleisen, Telefonbuch, das Fragezeichen, vergiss das Fragezeichen nicht …
Stau in der Stadt. Exorbitanter Stau. Die Autobahn seit zehn Uhr gesperrt, meldete man im Radio und man möge die Stadt großräumig umfahren. Zu spät höre ich die Meldung. Der Stau ist ein Meister aus Zweibrücken, schrieb ich auf Twitter. Statt einer halben Stunde Fahrt, würde ich durch die innerstädtische Umleitung anderthalb Stunden brauchen bis zum Pflegeheim. Ursprünglich hatte ich vor, mit dem Fahrrad zu fahren, was knapp anderthalb Stunden gedauert hätte, aber da ich mich verspätete und man in Pflegeheimen ja nicht einfach so kommen und gehen kann wie man will, ach, nimmst mal schnell das Auto.
Zeit, Zeit, Zeit. Termin, Termin, Termin. Ich hab’s schon immer gehasst. Zeit und Geld sind für mich die Drangsalemaschinerien der modernen zivilisierten Welt. Damit werden wir Individuen kanalisiert. Es ist unmöglich, diesen beiden Parametern zu entrinnen, wenn man in der Welt als Mensch existieren möchte. Dabei gäbe es sicher einen Weg, beide Parameter abzuschaffen. Ich kenne ihn nicht, aber seit ich vor einigen Wochen das Rätsel des Umkehrens und des in gänzlich andere Richtungen Denkens fabulierte (worüber ich nie einen Blogartikel schrieb, leider), vermute ich, dass es eine andere Art des Zusammenlebens hätte geben können, wenn wir vor ein paar hundert Jahren eine andere Art, uns zu sozialisieren eingeschlagen hätten. Im Grunde, als Sofortmaßnahme, das ist bei weitem nicht reif, müsste man Zeit und Geld und noch ein paar üble Parameter der Kapitalsozialisierung durch Bedingungslosigkeit ersetzen. Also nicht etwa das viel zitierte bedingungslose Grundeinkommen, denn das würde ja bedeuten, dass man sich ein auf Bedingungen gebautes Mittel mit ins Boot holt, sondern nur die Bedingungslosigkeit. Die Milde. Die Nächstenliebe. Untermauert von Vernunft, Vergebung, Friede.

Wie gesagt, das ist nicht möglich. Die Kapital- und Zeitprozesse müssen zuerst zu Ende laufen, und zwar so, dass alles zu Ende läuft. Erst dann könnte anderes wahr werden.

Pessimistisch.

Die Verspätung durch den Stau und die Umleitungen hatte einen tieferen Sinn, sollte ich später feststellen. Welch unbeschreibliche Aggression in der Stadt lag. Jede Ampelkreuzung, jeder Verkehrskreisel restlos überlastet. Kreuz und quere Vierzigtonner mit Fahrern unter Zeitdruck, verzweifelten Blicken. Kreuzungszufahrungsanarchie. Wut, Hass, Gehupe, Rigorosität, geregelt von auf übliche Auslastung getakteten Ampeln.
Mit dem Fahrrad wäre ich durch die Zwischenwelt der Radwege längst bei Journalist F.

Anderthalb Stunden später erreiche ich das Heim. Halbherziger Coronaselbsttest am Eingang, das übliche Prozedere, um überhaupt jemanden zu treffen im Innern. Die Testung ist eine Sache, die vermutlich schief läuft und ein weiteres Beispiel für mit guter Absicht eingeführte Regeln, die nie wieder überprüft wurden, ob sie überhaupt Sinn ergeben. Zum Einsatz kommen jedenfalls die billigsten Selbsttests, denen man selbst bei hoher Virenlast eine nur wenige Prozent sichere Diagnose nachsagt. Testen. Journalist F. sitzt schon im Rollstuhl vor der Tür und ab in den Park auf ein Schwätzchen und ein Zigarettchen. So sitzen wir in einer windgeschützten Ecke hinter dem Haus und lassen die Frühlingssonne unsere Gesichter schmeicheln. Im Schatten des Hauses spaziert eine alte Dame. Ganz ganz langsam, einige letzte Schritte am Fuße des Lebens, vielleicht ihr letzter Frühling? Die meisten Leute in dem Heim sind über neunzig, viele dement, viele im Rollstuhl oder mindestens auf Rollatoren gebeugt und die allermeisten verlassen das Haus nicht mehr. Ein Blick auf die Spitze des Eisbergs des Elends in einem ganz normalen Pflegeheim, denke ich, im Anblick der Frau wie sie durch den Schatten schleicht, die Hauskante, hinter der sich die Sonne bricht schon bald erreicht.

Und hinfällt.

Im Park des Pflegeheims stehen wunderbare alte Bäume. Ein paar geschlungene Wege, einige wenige, na, sagen wir Kunstwerke. Eine lebensgroße Kuh aus Polyester zum Beispiel, eine kleine Hütte. Der Park ist alles andere als Rollstuhl tauglich. Auch mit Rollatoren kann man ihn nur unter hasardeurischem Einsatz betreten. Trotzdem investiert der Betreiberkonzern des Pflegeheims Unsummen in die Pflege des Baumbestands und dass alles schön aussieht. Man sagt, der Park koste mehr als das angeschlossene Heim. Aus Konzernsicht ist der Park jedoch eine perfekte Werbemaßnahme. Würde mich nicht wundern, wenn die Pflege des Parks in der Bilanz als Ausgaben für Werbung gebucht wird. Gerne führt man Angehörige, die beabsichtigen, ihre Lieben im Heim unterzubringen durch den Park, gönnt ihnen einen Blick auf das alte barocke Gebäude mit den feinen Türmchen. Wer, wenn nicht du kommt dann ins Schwärmen und blickt vorbei an den hunderte Jahre alten Eichen hinauf zum Turmzimmer, das ist doch ein Zimmer, oder, ein Einzelzimmer, nicht wahr? Ganz bestimmt, bei dem Park. Wann wird es frei? Könnte die Oma, der Opa das vielleicht …
Spiegelgefechte. Nichts als Spiegelgefechte. Wir lieben Spiegelgefechte. Wir lieben Selbstlügen. Wir lieben selbst gezimmerten Welten, in denen eitel Sonnenschein herrscht, unsere Lieben in Turmzimmern residieren, umschwärmt von Personal.

Die Frau fällt wie in Zeitlupe, etwa dreißig Meter von Journalist F. und mir entfernt. Wenn ich einen Hechtsprung täte, könnte ich sie auffangen, ein Impuls, schon sag ich Journalist F. was geschieht, er sitzt mit dem Rücken zu ihr, renne hinüber. Die Frau liegt bäuchlings im Dreck, versucht als erstes ihre Handtasche zu finden. Keine Chance hochzukommen. Erst einmal beruhige ich sie, frage, ob ich helfen kann, überlege, Personal zu rufen (ha, gut, dass ich das nicht tat, später sollte ich feststellen, dass da niemand ist). Die Frau dreht sich auf die Seite, ich assistiere, frage, ob sie Schmerzen hat, nein, nur Schmutz, dreht sich auf den Rücken, ich packe sie unter den Armen, und wir schaffen es – das letzte Mal, dass ich jemanden unter den Armen packte und aufrichtete, war 2017 und mir graut seither davor, denn das wäre beinahe schief gegangen. Ein paar Tage vor seinem Tod war mein Vater aus dem Bett gefallen und kam nicht mehr hoch und obwohl er sehr stark an Gewicht verloren hatte, wären wir beinahe beide umgefallen beim Versuch aufzustehen. Aber die Dame ist kräftiger als mein sterbender Vater, hilft gut mit und schon steht sie und schon rufe ich rüber zu Journalist F., alles okay, wir stehen, wir gehen jetzt zur Tür, bin gleich wieder da, und so setzen wir den Weg fort, ich die Dame stützend bis zur Eingangstür gut vierzig, sechzig oder hundert Meter. Erstaunlich flott, erstaunlich agil. Dass es ihr nicht gefällt in dem Heim und dass sie weg möchte, flüstert mir die Frau zu und bedankt sich. Das ist der Moment, in dem ich mir überlege, mein sinnloses Künstlerdasein an den Nagel zu hängen und als Wächter im Park des Heims zu verbringen. Da unten beim Kreuzweg könnte ich das Europennerzelt aufstellen und hinter der Grotte mit dem Schrein auf dem Komposthaufen wäre mein Klo. Ganz wie unterwegs ans Nordkap oder nach Gibraltar radeln zum Beispiel, nur eben tagein tagaus am selben Fleck, Gutes tuend … nicht dass radeln, darüber schreiben, andere als Gepäckträgerreisende an der Reise teilhaben lassen, nicht auch eine gute Tat wäre. Es kommt mir aber egoistisch vor. Man könnte auch für Menschen da sein. Bedingungslos. Geld weg, Zeit weg, tausche Ewigkeit und Bedingungslosigkeit gegen Hatz und überlastete Ampelanlagen und immer von A nach B wollen mit dem dicksten Auto, um sich in C beim Feinkarrenhändlerchen das nächste dicke Auto zu bestellen, die Waschmaschine, das Fragezeichen und das Telefonbuch, vergiss das Telefonbuch nicht, denke ich ganz Rudi-Carellesk.
Es interessiert mich schon, wie lange die Frau hilflos im Schatten im Dreck gelegen hätte, wenn der Journalist und ich nicht unser verspätetes Schwätzchen gehalten hätten. Geht hier jemand vom Heim regelmäßig nachsehen, ob jemand Hilfe braucht? Oder schauen sie wenigstens ab und zu aus dem Fenster, frage ich den Freund. Ich denke nein. Die interessieren sich für nichts. Mittagszeit ohnehin schwierig. Da hat man die Muttchen und Väterchen ja müde gefüttert mit dem billigen Drecksfraß … das Essen sei schlecht, sagt der Journalist. Man gewöhne sich daran. Schön sei es trotzdem nicht.
An der Pforte hockt ein Mann, der die Besucherinnen und Besucher kontrolliert, die sich vorher anmelden müssen, auf einer Liste stehen, mit den nutzlosen Tests getestet werden, immer negativ sind, rein dürfen. Oft bin ich schon nach zwei Minuten im Heim, denn der Mann nimmt es nicht so genau mit der Inkubation des Tests von einer viertel Stunde.
Ich frage, ob ich die Frau ins Foyer bringen darf, na klar, und dort sitzen jede Menge alte Leute, ziemlich dösig, apathisch. Keine Pflegekraft in Sicht. Die Frau setzt sich in einen Sessel und ich suche jemanden, finde niemanden, sage dem Pfortentester, dass er jemanden anruft, wieder raus zu Journalist F.

Was für ein Tag. Wer weiß, vielleicht hatte meine Verspätung einen tieferen Sinn? Bewahrte die Frau vor Unterkühlung, mindestens aber vor minutenlanger Angst und dem Gefühl, alleine gelassen zu werden. Das Leben ist ein Meister aus Zweibrücken?

Seit bald einem Jahr verkehre ich nun schon regelmäßig in dem Heim. Ein beklemmender Ort. Journalist F. sagt, seine Taxifahrerin, die auch andere Heime anfährt, habe ihm erzählt, es gehöre zu den besseren. Es ist aber trotzdem schlimm für die ‚Insassen‘. Das fühlt man, wenn man näher hinschaut, wenn man sich nicht täuschen lässt von dem Gerede des Managers, der einen durch den uralten Park führt und einen beim Abschlussgespräch unmerklich so dreht, dass man vorbei an Eichen über ein Feld voller Krokusse hinaufblickt zum Turm und sich das Turmzimmer gedanklich fein tapeziert für die Oma, den Opa, den Papa, die Mama, den dementen Onkel … bloß weg. Wir haben keine Zeit. Teuer genug. Daheim ging es ihnen auch nicht besser!

Und was will ich sagen, das ist es, was ich damit meinte, dass das System auf Gedeih und Verderb zu Ende laufen muss. In aller Korruption und Schlechtigkeit. Es gibt kein Entrinnen. Wir sind ebenso gefangen in den Großläufen der Gesellschaft mit Arbeiten, Geld verdienen, Haut zu Markte tragen, keine Zeit für andere haben, wie wir auch im temporären Ausnahmestau auf der A namenlos bei Brückensperrung ausgeliefert sind. Das Leben ist nur eine Kombination verschiedener Sachzwänge.

Schnell weg da weg da weg da, wir haben keine Zeit. Keine Zeit und keine Bedingungslosigkeit.

Weitere dystopische Blobeiträge gefällig?  ‚Auf dem Sofa‘ https://knotenpunkte.net

My Instagram, my Gutenberg

Mensch blickt durch das sechseckige Sichtfenster einer Käsepackung Saint Agur. Augen und Nase im Fensterchen, groß im Vordergrund die Finger desjenigen, der die Verpackung in die Kamera hält.

Gib dem Gutenberg-Editor eine Chance, Monsieur Irgendlink. Der Failtoban-Bug, der mich vor zwei Jahren zum Gutenberg-Verzicht verdammte, scheint jedenfalls behoben. Nun ein bisschen Blogrohexperimente und sogleich den Instagram-Blocktyp entdeckt und, wie oben zu sehen, eingebaut.

Und warum schreibe ich diesen Beitrag? Weil Künstlerin B. zu Besuch war und wir für sie ein Jakobswegblog auf die Reihe bringen wollen. Da muss ich mich als ‚Lehrer‘ und Administrator doch mal wieder in die Sache einarbeiten. Bisher im eigenen Geköchel unterwegs war es nicht nötig, sich mit Gutenberg zu beschäftigen.

Okay. Nähkästchenplauderei gehört auch dazu. Ich werde den Blogbetrieb, also den eigenen Blogbetrieb, in diesem Jahr wieder aufnehmen.

Ach. Am 3. Mai startet B.s Jakobsweg-Projekt. Bis dahin betreiben wir digitale Bildhauerei und richten ihr Blog ein.

Ein Dank

Zwischendurch ein Dank an alle Kommentierenden der letzten Beiträge. Verzeihung, dass ich nicht geantwortet habe. Ich freue mich immer sehr über Eure Kommentare. Momentan fehlt leider die Kraft und die Motivation, sie zu erwidern. Das Künstlerhirn will gerade nicht denken und kreativ und einfühlsam sein.

Zum Glück reicht die Energie, schlichte Aufgaben jenseits der Kreativität zu bewältigen. Zum Beispiel Bilder zu Büchern formen. Das ist eine schlichte Tätigkeit, bei der man nicht groß denken muss oder sensibel sein oder sonst wie fühlen. Einfach Bilder sortieren, Größen ausrechnen und sie mittels eines DTP-Programms in Buchseiten fügen. Bald gibt es ein Buch namens ‚Zu‘. Vermauerte Türen zwischen Nordkap und Gibraltar. Manche Motive aus diesem Poster.

Nun komme ich doch glatt noch ins Plaudern. Die Möglichkeiten in diesem Jahr? Nunja, wie in jedem Jahr der Pandemie habe ich mir mal wieder versprochen, ans Nordkap zu radeln, wenn ich mich fit genug fühle dafür. Durch Norwegen dieses Mal. Aber ich muss abschwächen: das wird auch 2022 nix vermutlich, weil ich das althergebrachte Leben nicht so lange (sechs bis acht Wochen) verlassen kann.

Bleiben alte Kunstprojekte wie der Passfälscher oder UmsLand Bayern zu radeln (au warte, was bin ich mit dem 2018 begonnen Projekt, Bayern zu umradeln doch grandios gescheitert! Zunächst. Glumm schrieb, ich gäbe nie auf. Hoffen wir, er hat recht :-)).

Heute skizzierte ich eine Flussnoten 3- Route von Martigny bis zum Grimselpass, die Frau SoSo und ich angehen könnten diesen Sommer. Könnte ein tolles Liveblog-Projekt im Stil der 2016er Reise den Rhein abwärts werden: https://flussnoten.de

Die höchste Wahrscheinlichkeit zu realisierender Zukunftsprojekte rechne ich aber schlichtem Sofa sitzen aus. Jaja, ich fürchte ein bisschen, dass es vorbei ist mit den tragenden körperlichen Reisekunstprojekten.

Schlimm ist das nicht. Man muss es eben akzeptieren. Und im Kopf kommt man ja auch recht weit, wenn man schon so viel Schönes erlebt hat wie ich das durfte.

In der eisigen Atmosphäre des eigenen Scheiterns

Das gelbliche, knisternde Etwas im Zuluftschacht des uralten Holzofens kann kein Blatt sein. Zum einen ist es viel zu groß, größer als ein Avokadoblatt, länglicher als ein Ahornblatt und wie sollte das Blatt auch dahin gekommen sein, stand doch der Ofen ein, zwei Jahrzehnte lang in einem Abstellraum, abgeschieden von den Winden der Außenwelt, umgangen von Jahreszeiten, einzig gewürdigt von Spinnen, Asseln, Mäusen und Ratten. Hin und wieder stinkt es in dem feuchten Raum, der sich irgendwo im Kerngehäuse des einsamen Gehöfts befindet, sagen wir einmal etwas aasig, nach zergehenden Körpern irgendwelcher Tiere, die das Zeitliche segneten aus welchem Grund auch immer; liegen gebliebene Körper an Stellen, an denen das Schicksal es für angebracht hielt, dass letzte Atemzüge getan werden, letzte Herzschläge und das Blut zum Stillstand kommt für immer.

Mit etwas Glück habe ich mein Pech für 2022 schon aufgebraucht.

Lapidar getippter schneller Tweet. Manchmal hege ich die Befürchtung, ich vergeude meine Zeit, meine Ideen, Geistesblitze und die Chance auf Größeres im Kurznachrichtendienst. Andermals aber denke ich, genau richtig so, denn was du nicht sofort hinausposaunst in die Welt, sei es nur ein abstruses Wortspiel wie das obige, geht für immer verloren, wird nie mehr erinnert. Es kehrt bestenfalls zufällig wieder im Hirn eines anderen Menschen, der in ähnlicher Situation mit ähnlichem Hintergrund wie du selbst zu einem ähnlichen Gedanken findet und ihn aufschreibt. Womit er, der Gedanke, oder es, das Wortspiel, zum gesellschaftlichen Gemeingut wird.

Mindestens jedoch trägt es eine Weile Frucht in anderen Köpfen, ehe es vergeht.

Das gelbliche, längliche Ding, das ich aus dem Ascheschacht des alten Ofens löse, sieht aus wie ein Zweig, naja, nicht ganz … wenn ich den Gedanken zuließe, wäre es definitiv ein mumifizierter Rattenschwanz. Mit Leichtigkeit löste es sich von einem knisternden Etwas, das aussah wie ein verdorrtes Blatt. Ich will und will es nicht wahr haben, dass in dem alten, verstaubten Ofen, den ich gerade als Ersatz für den undichten, Künstlerbudenofen aufstellte, eine Rattenmumie festklemmt.

Arschkalt vor ein paar Tagen riss ich Tür und Fenster auf, um dichten Qualm in der Bude loszuwerden. Mit dem Ofen, der bis dato gute Dienste leistete, geht nichts mehr, so die Diagnose. Ich muss ihn putzen. Und wenn ich ihn putze, kann ich auch gleich die Dichtungen ersetzen. Das bedeutet, ich muss ihn auseinander schrauben, Verkleidung ab und auch den Katalysator lösen. Man macht so etwas ja so selten. Vergiss die Glasplatte nicht, die sich zierend über den Rauchkanal legt … natürlich vergesse ich sie und ein gusseisernes Teil, das ich nach mühsamem Fummeln an einer versteckten Schraube löse, knallt auf die Glasplatte, kaputt.

Plan B reift im Hirn, wenn der schludrig ausgeführte Plan A misslingt. Der Ofen ist die einzige Heizung in der Künstlerbude. Eine neue Glasscheibe kriegt man ja nicht hinterher geworfen, die Temperatur im normalerweise wärmsten Raum hat mittlerweile drei Grad erreicht, Tendenz fallend. Grautrister Schwerlasthimmel drückt das Gemüt, so viel Pech in diesem Jahr schon! Auto, Haus, Boot. Da ist die kaputte Sichtscheibe doch nur das Tüpfelchen auf dem I.

Ich denke, obiges Zitat ist Programm, hoffe, dass ich das Pech 2022 komplett aufgebraucht habe, krame den alten Heizknecht aus der Rattenkammer, schleppe ihn per Flaschenzug – welch Segen, solche Flaschenzüge – über die Treppe in die Künstlerbude. Das Ding hat zwar nur halb so viel KW und ist recht kompliziert anzufeuern, aber es tut seinen Dienst. Glück also?

Betrachtet man es von außen, mich als Protagonist einer Geschichte, ist das sicher recht amüsant zu lesen. Man friert ja selbst nicht, während man einen Blogartikel liest, der davon handelt, dass jemand anderes eine drei Grad kalte Bude hat, in der er existiert.

Nebenbei erinnere ich  mich alter Abenteuerideen vom Winterradfahren und vom mal wieder raus, das Hirn lüften und auf andere, bessere, weniger triste, gar schöne Gedanken kommen. Mal wieder Glück, adieu Pech. Gedanken und Träume, die ich auf Grund meines fortgeschrittenen Alters längst zu den Akten gelegt habe. Bei den Temperaturen draußen tagelang radelnd und im Zelt übernachtend? Das ist was für Dreißigjährige, maximal vielleicht drei-fünf-jährige. Für Ironmänner und -frauen, Brevet adictetes Gravelbikevolk. Mir bleibt nur die Improvisation … egal, wie ich also in der eisigen Atmosphäre des eigenen Scheiterns das beste aus der Situation mache, hellt sich das Gemüt wieder auf, ich glaube, das war vorgestern oder vorvorgestern. Plötzlich ist es doch möglich, theoretisch, die Kälte zu überstehen wie früher schon öfter durchlebt. Es gab da ein paar Radtouren im Januar und Februar vor unzähligen Jahren, die mich wochenlang südwärts führten. Vom Schicksal in der heimischen Wohnung auf Außentemperatur reduziert, denke ich, dass es klappen könnte und das gibt mir ein bisschen Kraft: Wenn ich wollte, könnte ich direkt die Satteltaschen packen, Zelt, Schlafsack, Kocher, den gesamten Europennerhaushalt, und los radeln wohin es mich gerade zieht, täglich siebzig achtzig hundert Kilometer voran, nach Süden, Osten Westen, gar nach Norden. Ja. Das könnte ich.

Derweil das erste Anfeuern des Ersatzofens gar nicht mal so übel läuft. Der Feinstaubsensor in der Bude gibt traumhafte Werte aus, konstant im grünen Bereich.

Nun steht er draußen auf dem Balkon, der alte Ofen, vielleicht repariere ich ihn, vielleicht besorge ich einen neuen? Setze ich mich aufs Radel? Wahrscheinlich nicht. Das Thermometer der Künstlerbude zeigt 22 Grad.

Meist bin ich guter Dinge trotz Pechs. Die Ofennummer, die hatte jedoch etwas Existenzielles.

Ironie des Schicksals: Während dieser Artikel entsteht, verschmort das Baguette im Backofen. Im konzentrierten Schreibflow habe ich den Wecker schlicht überhört.

Das Pech 2022 ist noch lange nicht aufgebraucht.