Tag 7 – die Strecke

Auch heute war nichts mit offenen Campingplätzen oder Chambres d’hôtes auf der von Irgendlink gewählten Strecke. Er hat sich – nach einem Telefonkabinenanruf vor einer Stunde – auf den Sportplatz von Tincques verzogen und da, inmitten von Kötergebell und Nationalstraßenlärm, sein Zelt aufgebaut.

Selbst nach Tagen ohne zivilisatorischen Akkuladens hat er noch immer selbsterradelten Strom auf seinem iPhone, das er heute – umständehalber – allerdings weniger beansprucht hat.

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Tincques

Einer jener Tage, an denen ich mich abends nicht an morgens erinnere. Vielleicht ist es eine ganz natürliche Sache, dass der Mensch sich nicht mehr als 70 km Strecke merken kann? Wahrscheinlich liegt es aber an der harten Gangart, die ich an den Tag lege, wie ein Stück Vieh dem Zwischenziel Boulogne-sur-Mer entgegen kurbelnd. Das nimmt der Reise ein bisschen die Ruhe, und ich sollte doch auf dem Jakobsweg genug gelernt haben, nicht in diesen Stressmodus zu verfallen.

Radeln ist eben eine andere Disziplin, als zu Fuß gehen. Die Geschwindigkeitsspanne ist viel größer. Du kannst mit 10 km pro Stunde dahin gondeln, du kannst dich aber auch ordentlich schinden und es, selbst mit Gepäck, auf 25-30 Sachen bringen. Beim Wandern schwankt deine Reisegeschwindigkeit zwischen 4 und 6 km pro Stunde.

Gegen Mittag wird die Gegend plötzlich wieder hügelig. Ich mogele mich zwischen Arras und Lens hindurch und missachte den Rat, den Frau Freihändig mir kommentiert hat. Geh nach Bethune in die Pension, hat sie gesagt. Aber Bethune, da müsste ich ja durch Lens und die gesamte Agglomeration, die auf der Karte ziemlich bedrohlich aussieht. Mister Irgendlink Neunmalklug.

Die Gegend ist kahl, kaum Bäume, braune Äcker, frisch eingesät. Viele Radler kommen mir entgegen. Ich erinnere mich an das, was mir ein Radler vor einigen Tagen gesagt hat: zurzeit seien ganz viele Teams des Radrennens ParisRoubaix in der Gegend, um zu trainieren. Die Tour startet nächsten Sonntag.

Am Rand der kahlen Felder liegen manchmal Geschosse von Granaten, die die Bauern aus dem ehemaligen Schlachtfeld gepflügt haben. Viele Soldatenfriedhöfe und Gedenkstätten. Was für ein Glück, in einer krieglosen Zeit aufgewachsen zu sein. Als ich mit einem über achtzigjährigen Radler ins Gespräch komme, frage ich mich, ob er Soldat war, ob er Menschen getötet hat, und wenn ja, ob die vielleicht hier in der Erde liegen.
Gegen 19 Uhr empfiehlt mir ein Autofahrer, der mich ratlos an einer Kreuzung vorfindet, den Campingplatz in Guestreville anzusteuern. Ein Dorf wie am Ende der Welt. Als ich darauf zu radele, kann ich gar nicht glauben, dass es dort einen Zeltplatz hat. Das Dorf scheint nur aus einer Farm und einem Wasserturm zu bestehen. Doch tatsächlich, in einem alten Gehöft ist eine großzügige Anlage eingerichtet, mit vier Sälen, Restaurant, Fremdenzimmern, und einem idyllischen Campinplatz im Garten. Mit echtem Monkeypozzlebaum. Im Hof steht ein Auto und an der abgeschlossenen Tür steckt außen ein Schlüssel, aber niemand zu finden. Das ganze Dorf scheint ausgestorben. Ich warte. Ich radle die einzige Straße hinauf, finde eine Gite, aber noch ehe ich überlege, dort abzusteigen, schreckt mich das Gegröle zahlreicher Jungs, die sich dort ebenfalls einquartiert haben, ab. So verlasse ich das Paradies Richtung Westen.

Die Sonne geht unter, müde reitet der Held in den Sonnenuntergang. In Tincques habe ich mich nun auf dem Sportplatz einquartiert, nicht gerade komfortabel, weil die Nationalstraße nur ein paarhundert Meter daran vorbei führt.

Tag 1 bis 7 – die Strecke

Wir lieben es ja, zu gucken, was schon war. Was wir vollbracht haben. Was andere geschaffen haben. Das Wie? wird dabei oft ein klein bisschen nebensächlich.

Rückblicken, innehalten, staunen: So weit ist er schon gekommen!

Ich habe in der unten verlinkten Karte die Übernachtungsorte Irgendlinks der ersten Woche eingefügt. Nicht mehr koordinatengenau allerdings, und auch die Strecke selbst ist geschönt. Einfach von A nach B nach C – der kürzeste Weg sozusagen. So, wie wir ihn im richtigen Leben selten gehen. Aber auf der Karte, na ja, da sieht es halt einfach schön aus. ;-)

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Feldfrühstück

Wenn du einen Menschen in Alsenz, in der Nordpfalz, frühmorgens weckst und ihm sagst, „Heute frühstücken wir mal in einem Café, brauchst nix Essen machen und Kaffee und so, setz dich einfach aufs Rad, wir fahrn nach Rockenhausen“, dann wird er dich für verrückt erklären. Rockenhausen ist 12 km entfernt.

Weiß auch nicht, was mich geritten hat, ungefrühstückt loszuradeln. Der Nebel? Die laute Nationalstraße, auf der bei der kälte schon ohrenbetäubende, messerscharfe Motorradfahrer ihren Mittwochmorgen-Männleinfrust am Gashahn auslassen? Was hatte ich erwartet? Dass im kleinen Tincqu-irgendwas ohne jegliches Fremdenzimmer mitten in der Nacht ein Straßencafé aus dem Boden geschossen ist? Eine Boulangerie (Bäckerei) nähe der Bahnlinie erfreut mein Herz, hier kann ich ein Croissant kaufen und vielleicht gibts auch Kaffee-to-go? Bei näherem Hinradeln entpuppt sich der Laden als Boucherie, also als Metzgerei.

Also raus ausm Dorf auf auf ins 12 km entfernte Rockenhausen, ähm, pardon, Saint Pol. Über Seitenstraßen mogele ich mich über die Piste Cyclable des Pierres Blanche, pittoresk-hitchcockesque, wie schon gestern muss ich immer wieder an eine Szene denken in North by Northwest, in der der Held auf weiter Agrarlandfläche von einem Flieger attackiert wird. Tse.

Irgendwann ist der Hunger so groß, dass ich bei einem Wäldchen stoppe, den Kocher auspacke, Kaffee koche und Baguette von gestern toaste. Mjam mjam. Gerade fährt das dritte Auto seit einer Dreiviertelstunde vorbei. Der Homebase maile ich ein 16er-Bild der Kilometer 160 bis 310. Durch langsames Edge-Netz. Es dauert den halben Artikel, bis das Mailprogramm endlich „Zosch“ macht und signalisiert, dass die Mail gesendet wurde.

Trockner, lehmiger Feldweg, Vögleinzwitschern und im Westen säuselt die Nationalstraße. Auf dem Acker vor mir stehen drei Bäume, ein kleiner, ein mittlerer und ein großer. Welcher von denen wäre ich, wenn ich ein Baum wäre? Das Zelt trocknet im Wind. Dunkle Wollen wehen heran. Wäre möglich, dass es heute noch regnet.