Einer jener Tage, an denen ich mich abends nicht an morgens erinnere. Vielleicht ist es eine ganz natürliche Sache, dass der Mensch sich nicht mehr als 70 km Strecke merken kann? Wahrscheinlich liegt es aber an der harten Gangart, die ich an den Tag lege, wie ein Stück Vieh dem Zwischenziel Boulogne-sur-Mer entgegen kurbelnd. Das nimmt der Reise ein bisschen die Ruhe, und ich sollte doch auf dem Jakobsweg genug gelernt haben, nicht in diesen Stressmodus zu verfallen.
Radeln ist eben eine andere Disziplin, als zu Fuß gehen. Die Geschwindigkeitsspanne ist viel größer. Du kannst mit 10 km pro Stunde dahin gondeln, du kannst dich aber auch ordentlich schinden und es, selbst mit Gepäck, auf 25-30 Sachen bringen. Beim Wandern schwankt deine Reisegeschwindigkeit zwischen 4 und 6 km pro Stunde.
Gegen Mittag wird die Gegend plötzlich wieder hügelig. Ich mogele mich zwischen Arras und Lens hindurch und missachte den Rat, den Frau Freihändig mir kommentiert hat. Geh nach Bethune in die Pension, hat sie gesagt. Aber Bethune, da müsste ich ja durch Lens und die gesamte Agglomeration, die auf der Karte ziemlich bedrohlich aussieht. Mister Irgendlink Neunmalklug.
Die Gegend ist kahl, kaum Bäume, braune Äcker, frisch eingesät. Viele Radler kommen mir entgegen. Ich erinnere mich an das, was mir ein Radler vor einigen Tagen gesagt hat: zurzeit seien ganz viele Teams des Radrennens ParisRoubaix in der Gegend, um zu trainieren. Die Tour startet nächsten Sonntag.
Am Rand der kahlen Felder liegen manchmal Geschosse von Granaten, die die Bauern aus dem ehemaligen Schlachtfeld gepflügt haben. Viele Soldatenfriedhöfe und Gedenkstätten. Was für ein Glück, in einer krieglosen Zeit aufgewachsen zu sein. Als ich mit einem über achtzigjährigen Radler ins Gespräch komme, frage ich mich, ob er Soldat war, ob er Menschen getötet hat, und wenn ja, ob die vielleicht hier in der Erde liegen.
Gegen 19 Uhr empfiehlt mir ein Autofahrer, der mich ratlos an einer Kreuzung vorfindet, den Campingplatz in Guestreville anzusteuern. Ein Dorf wie am Ende der Welt. Als ich darauf zu radele, kann ich gar nicht glauben, dass es dort einen Zeltplatz hat. Das Dorf scheint nur aus einer Farm und einem Wasserturm zu bestehen. Doch tatsächlich, in einem alten Gehöft ist eine großzügige Anlage eingerichtet, mit vier Sälen, Restaurant, Fremdenzimmern, und einem idyllischen Campinplatz im Garten. Mit echtem Monkeypozzlebaum. Im Hof steht ein Auto und an der abgeschlossenen Tür steckt außen ein Schlüssel, aber niemand zu finden. Das ganze Dorf scheint ausgestorben. Ich warte. Ich radle die einzige Straße hinauf, finde eine Gite, aber noch ehe ich überlege, dort abzusteigen, schreckt mich das Gegröle zahlreicher Jungs, die sich dort ebenfalls einquartiert haben, ab. So verlasse ich das Paradies Richtung Westen.
Die Sonne geht unter, müde reitet der Held in den Sonnenuntergang. In Tincques habe ich mich nun auf dem Sportplatz einquartiert, nicht gerade komfortabel, weil die Nationalstraße nur ein paarhundert Meter daran vorbei führt.