EPILOG – Tag 120 – die Strecke

Der Epilog hat begonnen. Irgendlink hat sich entschieden, so weit wie möglich zu radeln.

In der Nähe, wo er jetzt dann gleich das Zelt aufbaut, hat er vor fast vier Monaten gefrühstückt, schreibt er. Bereits nach Saint-Pol-sur-Ternoise. Lang, lang ist’s her.

>>> Boulogne-sur-Mer – Wildzeltplatz bei Roëllecourt: zum Kartenausschnitt von heute: bitte hier klicken!

„Mama sagt, das Leben ist wie eine Schachtel Kunststraßen. Man weiß nie was man bekommt.“

Die Zeiten ohne Dach überm Kopf kommen mir beinahe natürlich vor. Was ist die richtige Welt, was die falsche? Während ich vom Hafen Boulogne sur Mer zur Säule der Großen Armee hinaufkurbele, diagnostiziere ich eine Art Post-Voyageale Depression. Jener gefährliche Zustand der Tristesse und der Selbstaufgabe, der einen nach einem mehrmonatigen (meermonatigen) Abenteuer, wie diesem befallen kann. Um so froher bin ich, dass ich mich entschieden habe, die 643 Kilometer bis Zweibrücken auch noch zu radeln. Karten der Strecke steckten noch in meinem Rucksack, den ich im April in der Stadtverwaltung deponiert hatte.

Die ersten zehn Kilometer gehts raus aus der Stadt auf der Nordseeroute. Über der zwanzig-dreißig Meter hohen Säule, auf der eine Napoleonskulptur Richtung Paris starrt (den Engländern stolz den Rücken zugekehrt), habe ich einen letzten Blick aufs Meer, das in den letzten dreieinhalb Monaten mein Lebensmittelpunkt war. Eine schnell geweinte Träne schafft es bei der Affenhitze heute wohl kaum bis dahin. Ja, ich bin sentimental. Aber auch voller neuem Tatendrang.

Im Hafen habe ich kurzerhand beschlossen, den Weg nach Zweibrücken in Zehn-Kilometer-Abständen zurück zu fotografieren. Ich will eine neue Idee umsetzen. Mit meiner Lieblingsapp Hipstamatic, einer Retro-Kamera-Simulation, die quadratische Bilder mit verschiedenen Filtereffekten und Fehlfarben und Rahmen errechnet, mache ich je zwei Bilder. Eins Richtung Zweibrücken, das andere Richtung Boulogne. Für den Rückblick nutze ich konstant die gleiche Filterkombination. Für den Vorblick kommt der App-eigene Zufallsmodus zum Einsatz. Die Software hat eine Einstellung, die die Filterkombinationen wahllos verändert, wenn man das iPhone bewegt. Das passt. Die Zukunft ist ungewiss.
Habe ich morgens noch auf der Karte geplant, über Le Wast dem Nordseeradweg zu folgen und dann nach Südwesten abzubiegen, ändert sich diese mutmaßliche Zukunft schon in La Chapelle.

Gegen halb zwei im Schatten einer Kirche in Desvres. Ein lauter Junge nimmt allen Mädchen, die ihn umringen, die Sonnenbrillen ab, setzt sie sich auf, torkelt, die Schultern aufplusternd, kreuz und quer über die mittagsstille Straße, pöbelt die Menschen an, stoppt Autos – ein seltsamer Gockel, der nicht so recht gefällt. Ich sehe ihn schon vor mir, wie er ein paar Jahre später auf dem Hinterrad seiner Suzuki durch die Kleinstadt fährt. Das französische Männlein.

Weitgehend folge ich der Route, die ich Anfang April auf dem Hinweg genommen habe, auch wenn ich mich nicht so recht erinnern kann. Erst nach und nach rematerialisiert sich das Frankreich von damals. War nicht Fruges auch auf der Strecke? Ein Blick ins Kamaeraalbum zeigt die Bilder, die ich damals aufgenommen habe, quasi die Brotkrümelspur der Moderne. Ich bin das Hänsel und Gretel des digitalen Zeitalters. Boulogne, Desvres, Fruges, Saint Pol. Die D343 zwischen Fruges und Saint Pol ist mir noch unangenehm in Erinnerung. Sie ist zwar nicht stark befahren, aber der Verkehr ist auf der meist kerzengeraden Strecke so schnell, dass sich die asphaltschneidenden Reifen und die sirrenden Motoren anfühlen, wie eine Explosion im Kopf.

Kindisch jammernd formuliere ich einen Brief an den imaginären europäischen Verkehrsminister Stavros K., dass ein Gesetz her muss, dass Fahrradfahrer nur noch mit einer Maximalgeschwindigkeit von 50 km/h überholt werden dürfen. Und mehr Radwege. Ich vagabundierender Knauser, ich. Die neue Kunststraße entwickelt sich prächtig. Da ich nie weiß, mit welchem Filter die Bilder Richtung Zweibrücken berechnet werden, bin ich stets gespannt.

Nun bin ich, wie SoSo schon berichtet hat, nur etwa hundert Meter von meinem damaligen Frühstücksplatz entfernt irgendwo zwischen Tincques und Roëllecourt. Auf einem Weg, der in einem Maisfeld endet. Die Zelttüre offen. Grün ist die Zukunft voller abgehalfterten Grases. Der Boden zeigt Risse. Morgendunst vernebelt den Blick.

Die LA-Geschichte bleibt weiterhin spannend. Die technische Umsetzung ist mittlerweile klar. Muss noch eine zeitliche und finanzielle Lösung her. Wie erstaunlich unsichtbar doch Kunst sein kann. Mit dem fertigen Produkt im Hirn laufen die Leute durch die Welt und nur die wenigsten haben die Chance, ihre Idee auch wahr werden zu lassen. Froh, dass es mit dem Liveblog immerhin geklappt hat. So. Und nu raus da durch diese schmutzige Zelttür, raus da auf die Straße, die an jeder Kreuzung neue Möglichkeiten bietet.

Das Leben ist wie eine Schachtel Kunststraßen. Man weiß nie, was man bekommt.

Euer Irrest Link, der mit zum X geformten Beinen auf einer imaginären Parkbank sitzt, die Tastatur auf dem Schoß, und seine Geschichte erzählt.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Tag 121 – die Strecke

Bei bestem Wetter radelte Irgendlink heute weiter Richtung Ostsüdost. Aus Cambrai erhielt ich um sieben Uhr oder so die Nachricht, dass er noch zehn Kilometer radeln wolle. Dort sei ein Campingplatz. Später die Nachricht, er habe sich verirrt. Hm. Noch später erfahre ich, dass er wild campiert, in der Nähe von Estourmel. Den anvisierten Camping habe er verpasst. Was auf der Karte ziemlich gradlinig aussieht und mit ungefähr achzig Kilometern angegeben wird, war in Tat und Wahrheit ein einziges Zickzack auf der Suche nach fahrbaren, nicht allzu lauten Straßen. Nein, mit Holland kann es Frankreichs Radstraßennetz wirklich nicht aufnehmen.

Nun noch ein paar News zur Ausstellung in LA: Nachdem wir gestern Vormittag erfahren haben, dass die geplante iPad-Leihe für die Ausstellung in Los Angeles nicht klappt, da der von uns angedachte Sponsor keinen iPad erübrigen kann, habe ich in meinem Blog herumgefragt. Bereits habe ich mehrere Links für eine günstige Ausleihe erhalten (danke!), doch heute Morgen bin ich mit einer noch fast praktischeren Idee erwacht: Wie wäre es denn, vor Ort, also in LA itself, so ein Teil zu mieten? Über die Kuratorin bin ich nun mit dem für die Hard- und Software Zuständigen am verhandeln. Es sieht gut aus! Daumen drücken, dass die Kosten tragbar sind! :-)

>>> Wildzeltplatz bei Roëllecourt – Wildzeltplatz bei Estourmel: zum Kartenausschnitt mit der heutigen Strecke: bitte hier klicken!

Frag nie nach dem Dorf, in dem der Mann mit den vier Ziegen wohnt

Vier Uhr zweiundfünfzig. Erstmals melde ich mich aus der Gegenwart. So sollte es immer sein. Mir ist bewusst geworden, dass ich bei meinem Liveblogbericht „Ums Meer“ nie direkt aus dem offenen Herzen der Literatur geschrieben habe. Immer nur fast. Und das war auch gut so. Die Ereignisse des Tages müssen sich setzen, sie müssen einwirken wie Handwaschmittel auf Schmutz.

Stockdustere Nacht. Kaum Viertelmond. Die Hähne des Dorfes, das mit E beginnt, läuten den neuen Tag ein. An allen Ecken und Enden kräht es. Ab und zu bellt ein Hund. Die ersten Wildvöglein erwachen. Stetig säuseln die Departementsstraßen, die sternförmig aus Cambrai hinaus führen. Ich habe schlecht geschlafen auf meinem Feldweg zwischen einem Maisfeld und einer Hecke. Zu spät war ich dran mit dem Zeltaufbau, zu achtlos habe ich mich auf das erstbeste huckelige Stück Land gelegt, das sich mir bietet. Als ob das in dieser Gegend nicht egal wäre. Sanft geschwungenes Gebiet voller Maisfelder, Weizen und Gerste. Die Ernte hat begonnen.

Ich erinnere mich, dass bei meiner Durchreise im April gerade Mal ein wenig Grün auf den Äckern sprießte. Nun liegen schon die Strohballen, frisch gepresst. Wie kurz doch ein Getreideleben ist.

Die gestrige Etappe war sicher eine der härtesten auf der gesamten 7000 km-Tour. Hitze ist mir schwieriger als Regen, Kälte, Gegenwind. Zudem haben es die unscheinbaren Anstiege und Gefälle in sich. Das wurde mir erst bewusst, als ich beim Rollen auf scheinbar ebener Strecke auf den Tacho schaue: 40 km/h. Ohne Zutun. Deshalb gerate ich also ins Schwitzen, wenn ich die Gegenrichtung nach den Mulden hinaufackere, dritter Gang, zweiter Gang, erster Gang. Beim Kloster Saint Élois, muss ich sogar schieben. Unter uralten Bäumen mache ich gegenüber dem riesigen, unheimlichen Turm eine Mittagspause. Parkbank, liegend. Der Turm ist eingerüstet, wird renoviert. Wenn das Gerüst nur in Zweimeter-Stockwerken gestellt ist, ist das Ding bald vierzig Meter hoch. Eine gelbe Röhre führt von oben nach unten in einen Container, in den die Bauarbeiter den Schutt fallen lassen. Ein verkabelter architektonischer Patient auf dem Sterbebett. Das Dorf Saint Élois wirkt so, als habe man aus dem einst riesigen Klosterkomplex, der auf einem markanten Hügel nördlich von Arras liegt, willkürlich Mauern entfernt, als habe man eine Abtei ausgebeint und ausgedünnt und nun stehen nur noch einzelne Häuschen, oder Häuserzeilen herum, in denen Weltliche ihr Unwesen treiben. Die Einsiedlerkrebse klerikalen Zerfalls suchen sich neue Zuhause.

Ich glaube, ich bin in der Champagne. Die Champagne ist dem gemeinen Menschen nur bekannt, als Weinbaugebiet. Hier kommt der Saft her, den wir zu festlichen Anlässen trinken. Dabei ist das Weinanbaugebiet selbst nur ein winziger Teil eines riesigen agrikulturellen Komplexes. Die Cerealienchampgne hat nichts romantisches im Sommer. Sie ist Reife, Gemetzel. Mähdrescher, Strohpressen. Traktoren durchqueren meinen Kopf auf dem Weg zum Acker, Immer muss ich bangen, dass jemand nicht alle Sicherheitsvorkehrungen getroffen hat und irgendwo hinter dem Nutzfahrzeug eine Stange rausragt in die Spur des Radlers. Dass einer der riesigen Strohballen goldglänzend sich vom Anhänger löst und mich überrollt. In den Dörfern sieht man manchmal zig Meter weit eine Spur aus Stroh, das tatsächlich glänzt wie Gold – ob das die Überreste einer Traktorkatastrophe sind?

Abends peile ich den schnuckeligen Campingplatz an in einem Dorf etwa zwölf Kilomezer von Cambrai entfernt, der bei meiner Durchreise im April noch geschlossen war. Ein Gemeindecamping auf einem Sportplatz. Spartanisch. Vermutlich touristenfrei. Ganz nach meinem Geschmack. Ich weiß nur nicht mehr, wo der ist, wie das Dorf hieß. Das Netz ist so langsam, dass ich es nicht wage, den Bilderordner in Orte-Perspektive zu öffenen, meiner Brotkrümelspur vom April zu folgen.

Ich erinnere mich: ein Mann trieb seine vier Ziegen durchs Dorf. So bin ich verloren in Cambrai, welches größer ist, als ich auf der Hinreise empfunden habe. Steh du mal mitten in Cambrai und frage nach dem Dorf, in dem der Mann mit den vier Ziegen wohnt. Vollbepackt. Die weisen dich direkt ein. Ein Rennradler hilft mir. Wo willste hin? Da, zeige ich auf der Karte. Er versteht nicht. Osten. Metz. Aha. Und er erklärt, ich müsse nach Awoingt. Übern Markt bis zur Ampel, vorbei am Gymnasium, links bis zum Kreisverkehr, rechts den Schildern folgend. Hat prima geklappt. Aber Awoingt ist nicht das Dorf, das ich suche.

Hinter einer Milchproduktfabrik biege ich ab, vorbei an einem britischen Soldatenfriedhof. Bin ich hier eigentlich auf den Schlachtfeldern der Somme oder wo? Hab keine Ahnung. Zig Kilometer weit liegen die armen Teufel eines oder zweier Weltkriege in Reih und Glied. Es müssen Millionen sein. Amerikaner, Franzosen, Canadier, Deutsche. Wieviele Quadratmeter braucht ein Soldatengrab? Die Gegend trieft von Gemetzel. Nun hacke ich diese Zeilen um vier Uhr nachts. Die Prognose sagt Affenhitze voraus. Mir bleibt somit nicht viel Zeit zum Radeln heute. Siesta ist angesagt und die selbstzerstörerische Sehnsucht nach einem Leben als Getreide.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Tag 122 – die Strecke

Ich gestehe, Irgendlink hat mich mit seiner Angst vor Gewittern ein wenig angesteckt. Als ich vorhin mit ihm telefonierte, hat er erzählt, dass er auf einer großen Wiese am Rand eines Waldes das Zelt aufgebaut habe. Und dass es regne. Und gewittere. Gerade eben habe es geblitzt. Er sei mit Einwilligung des Bauern da, auf einem Gelände, auf welchem alljährlich im Mai Motocross-Rennen stattfänden. Darum stehe das Kassenhäuschen noch. In das werde er flüchten, falls es heftiger gewittere.

Nun hoffe ich sehr, dass alles gut geht, das Gewitter schnell vorüberzieht und Irgendlink eine ruhige und erholsame Nacht hat.

News aus Los Angeles: Juhu, alles im grünen Bereich – auch mit unserm treuen Sponsor Sarcom! :-) (siehe unten: letzter Streckenartikel).

>>> Wildzeltplatz bei Estourmel – Wildzeltplatz auf dem Motocrossplatz zwischen Harcigny und Plomion: zum Kartenausschnitt von heute: bitte hier klicken!