Hör immer auf das, was dir wohlmeinende Menschen am Wegrand mitgeben, gaukelt es schon kurz nachdem ich bei Tim und Lynn einen Kaffee genossen habe, in meinem Kopf. Das Leben ist oft, nein meist, eine reine Gefühlssache. Somit ist es gut, den Kopf auszuschalten, bedenken und Ziele über Bord zu werfen, wie Bojen, die den Verlauf einer Transatlantikverkabelung markieren. Aus den Augen, aber immer da. Ja. Engelbert, es war ein Wink des Schicksals (siehe Kommentar ein zwei Artikel zuvor), in Rochester ins Hotel zu gehen, auch wenn das empfohlene Hotel – nur hundert Meter entfernt von dem, in dem ich dann tatsächlich abgestiegen bin – geschlossen war.
Mit Songs im Sinn von The Clash verlasse ich blauäugig Rochester. „Police and Thiiihieevs in the Street shallala“ und „London‘s burning“ und „The Guns of Brixton“. Ich naives, kleines Kunstreisebübchen. Wäre ich doch besser in Rochester geblieben. Der Regen hat mich abgeschreckt, mit dem vollgepackten Rad noch eine Weile durch die Stadt zu schlendern, mir Castle und Cathedral anzuschauen. In voller Wasserdichtmontur ackere ich über die Cycleroute 1 der Themse entlang. In Gravesand führt die Strecke durch die hintersten Docks. Gestank, Müll, Enge, ich alleine. Die Tristesse dieser Welt scheint sich auf einen winzigen Brennpunkt genau über mir zu konzentrieren, notdürftig hindere ich mein Hirn daran, sich vorzustellen, was passiert, wenn hier in den ostermontagsleeren Dockgässchen plötzlich Räuber auftauchen. Ich bin ein schweres, unbewegliches Opfer, das bereitwillig sagen würde: „Geld wollen Sie, Eure Highness? Aber gerne“. Und Fischjakobesk würde ich rufen: „… und ich pack noch einen drauf! Die Kreditkarte, Ausweis und das ist immer noch nicht genug. Das iPhone, greifen Sie nur zu!“ Die wichtigsten Reisenden-Habseligkeiten verpackt in eine Tüte zieht mein imaginäres Gesindel ab, überzeugt, ein echtes Schnäppchen gemacht zu haben.
Eine von Öl und Müll und Brandstellen verschandelte Gasse spuckt mich aus nach Gravesand, wo ich vor einem Haus am Pier erst einmal ein Mittagspäuschen einlege. Unter einer Überwachungskamera gehen Wachleute ein und aus, wohl ihr Bau, grüßen mich freundlich und just dort erreicht mich eine Mail von Brian, der mit seiner Partnerin an der Englisch-Übersetzung der Kernelemente so wie der Vermittlung von Pressekontakten auf irgendlink.de maßgeblich beteiligt war und ist: „Fahr nicht in die südlichen Vorstädte, sei sehr sehr vorsichtig. Smartphonerobbery ist dort gang und gäbe. Übernachte auf keinen Fall dort.“
Eine Warnung, die ich als „highly critical“ einsortiere. Wenn irgendwo Grundeis wäre, dann wäre mein Hintern jetzt auch dort. Ich beschließe, den unheimlichen Radweg erst einmal zu verlassen und über die A-Straßen Richtung London zu fahren. Ein gebeugter alter Wachmann erklärt mir den Weg. Über die 226 nach Dartford, dann die 206 nach Erith und via 2016 später wieder die 206 nach Woolich, wo mich eine Freeferry in den sicheren Norden bringt. Die Straßen könne ich an diesem Feiertag benutzen, es sei nicht sooo viel los. Er sei selbst ein Radler. Was mich immer wieder wundert ist diese unglaubliche Gelassenheit, die die Leute an den Tag legen. Fragst Du sie nach dem Thema Robbery, sagen sie Yes, of course, was aber so klingt, als würden sie auf die Frage antworten, ob die Sonne scheint. Völlig unemotional, rein informativ, ganz und gar unhysterisch. Ein Deutscher würde die Kriminalität aufblasen bis zum Gehtnichtmehr.
Die A-Strecken sind tatsächlich nur mäßig befahren und ich muss erneut das Vorurteil entkräftigen, die Engländer fahren rasant. Im Gegenteil. Sie sind auch auf den Schnellstraßen äußerst rücksichtsvoll, halten Abstand, so dass ich mich nie gefährdet fühle.
In Wollich gefällt es mir gut und der Thames-Radweg, der gemeinsam mit der Route 1 verläuft hat eine Qualität, wie etwa der Mainradweg durch Frankfurt. Was soll‘s. Die Fähre ist noch nicht da, und ob ich jetzt diesseits oder jenseits des Flusses radele, ist doch egal. Stadt ist überall. Das London Cycle-Network grüßt mit vielen Schildern. So übel ist die Stadt nicht zum Radeln. Irgendwann stehe ich vor dem Greenwich Fußgängertunnel, ein rundes Gebäude, das eine schmale Wendeltreppe und einen großen Aufzug beherbergt, mit dem man auf Themseboden-Niveau gelangt. Just, als ich im Aufzug bin, erfolgt die Meldung, er sei out of order. Also rolle ich das Rad die Treppe runter, in der Hoffnung, dass drüben der Aufzug funktioniert. Im Tunnel kommen mir französische Schulklassen entgegen, die so tun, als seien sie Brixtoner Vorstadtgangs und in der Mitte, an der tiefsten Stelle, des zunächst abfallenden und dann wieder aufsteigenden Ganges, herrscht plötzlich Stille. ich bin alleine. Es ist, als habe ich eine unsichtbare Grenze überschritten. Auf der nördlichen Themseseite erwartet mich in der Tat eine ganz andere Welt. So frappierend ist der Unterschied zwischen Lärm, Hektik, Schmutz, bedrohlichen Gruppen junger Männer auf der Südseite und der geradezu gespenstischen Stille im Norden.
In einem Kiosk kaufe ich Fanta und lasse meine Wasserflasche auffüllen. Der Besitzer hat das Radio ganz laut gestellt, man hört O-Ton-Kriegsgetümmel, ich verstehe „türkische Grenze“ Oh, Scheiße! „Was ist los?“, frag ich. Zu sehr ist mir der Ausbruch von Golfkrieg 1 im Sinn, just, als ich 1991 nach Spanien radelte. Mr. Europenner unterwegs in seiner selbstgebastelten Blümchen-Parallelwelt und vom gemeinen Weltgeschehen kriegt er nichts mit.
Die Cycleroute 1 führt ab dem Greenwich Foottunnel über fast unbefahrene Stadtstraßen. Es herrscht Stille. Die Leute tragen hier 500 €-Schuhe statt mutmaßliche Messer. Das Hilton duckt sich x-stöckig vor einer Szene Hochhäuser. Sauberkeit und Überwachungskameras Durch den Viktoria-Park und vorbei am Olympic-Park führt die Strecke oft an Kanälen entlang, auf denen schmale, bewohnte Boote liegen. Wegen der Kälte laufen die Dieselmotoren, und diejenigen, die es sich nicht leisten können, hacken Obstbaumholz vor ihrem Kahn. Jogger, Spaziergänger, das ist meine Blümchenwelt, die Welt der gutbürgerlichen Mitte, in der ich mich so wohl und aufgehoben fühle.
Fast ist die heutige Strecke ein Bild für die große weite Welt mit all ihren Arms und Reichs, die im steten Clinch gegeneinander liegen: die Reichen – also im großen Europa wir – verteidigen bis aufs Messer ihre Pfründe, die sie oder ihre Vorfahren von den jetzt Armen in Afrika oder Fernost erpresst haben. Und die Armen, bei denen es ums nackte Überleben geht, holen sich von den Reichen das, was sie zum Überleben brauchen. Mit Gewalt, wenn nötig.
Das Kerngehäuse Europas ist faul. Das London und seine Vororte, das ich heute durchquert habe ist nur ein Abbild der großen weiten Welt. Mit dem Beigeschmack, dass es für die Probleme der Menschheit keine Lösung gibt, radele ich auf einer Bliesradweg-ähnlichen Strecke gut 25 km bis zum Camping Lee Valley.
(entfipptehlert und gepostet von sofasophia)