Das deutsche Klomannprinzip #AnsKap

Was für ein schrilles Grün diese Pflanzen haben. Rankende Etwase mit breiten, moosgrünen Blättern, so grün, dass es schon wieder leicht gelblich wirkt, auf jeden Fall eine sehr angenehme Farbe, die sie da auf ihrem mannigfaltig mit Tätowierungen verzierten Oberarm trägt.Fast scheu fragte sie, ob sie sich neben mich setzen darf bei dem kleinen Café an der Abzweigung der Cycelspåret vom Sverigeleden ungefähr 25 Kilometer östlich von Kalix. Es ist der einzige sonnige Platz auf dem Freigelände. Die Tische sind verwaist. Direkt hinter uns befindet sich die Hundebar – auch Schweden lieben Hunde – mit drei vier Näpfen voller Wasser und einem Haken in der hölzernen Wand des Hauses, um die Tierchen anzubinden.

Kaum zu glauben, dass wir uns eben noch ein Duell geliefert haben, draußen in den Wäldern, nur sie und ich, fast wie in dem frühen Spielbergfilm, der mit dem Autofahrer und dem Truck. Ich glaube, der deutsche Titel ist sogar ‚Duell‘. In dem Film wird kaum ein Wort gesprochen. Ein düsterer Truck verfolgt einen spießig wirkenden Familenkutsche fahrenden Geschäftsmann durch die weiten der USA. Will ihn töten, überfahren. Die Scheiben des Trucks sind dunkel. Nur schemenhaft erkennt man, dass jemand am Steuer sitzt.

So wie in dem Traktor, der den Straßengraben zwischen Kalix und – ähm – weiter östlich mulcht.

Die Walze macht ganz schön Lärm. Das Ding fährt mit zehn km/h vor mir her. Irgendwann nehme ich mir ein Herz und überhole, ganz links am anderen Straßenufer. Steine werden geschreddert. Ich bin heilfroh, als ich vorbei bin.

Wäre da nicht die Kunstfotografie und das Twittern, hätte ich jetzt leichtes Spiel, würde nie wieder was von meinem Verfolger hinter den spiegelnden Scheiben des Traktors sehen. Aber ab und zu ein Tweet, gerade mal 140 Zeichen lange Gedankengänge, direkt ins Internet gepostet und Fotos bei dem tollen Licht, halten mich auf. Schon rauscht mein Verfolger wieder heran, gleich kommt er hinter der Kurve herbei. Ich muss mich sputen.

So geht das Spiel vielleicht zehn Kilometer weit bis zur Mündung auf die Hauptstraße, die 356, wo auch schon das Café wartet. Pause. Rad abstellen, Kaffee kaufen und leckeren Kuchen.

Plötzlich parkt der Traktor direkt vor dem Hof und die Fahrerin mit neongelber Warneste kommt herüber. Und so kommen wir ins Gespräch.

Fast schon wie Seelenverwandte erzählen wir über dies und das, das Reisen.

Sie hat einen Sohn, der in Tromsø lebt, droben in den Fjorden, den sie kürzlich besucht hatte. Das Auto zu einem schlafbaren Miniwohnmobil umfunktioniert, fifty Miles da hinauf, zeigt sie mit der Hand. Also etwa 500 Kilometer bis an den Atlantik. 

Das schlimmste an ihrer Arbeit sei die Zerstörung, die sie ausübe. Bei Radlern stoppe sie den Rotor, wenn sie sie rechtzeitig sieht. Ich sei einfach zu schnell gewesen. Ganz besonders übel war das Übermähen eines Karnikelnests. Das ist ihr ziemlich unter die Haut gegangen.

Über Gott und die Welt reden wir und sie hat noch eine witzige Anekdote aus Deutschland parat, wo sie einmal mit Ihrem Freund, einem Monstertruckfahrer getourt war. Monstertruck, verstehst du, die, die mit riesigen Reifen andere plattwalzen, hakt sie nach und erinnert mich an unser kleines Duell von eben. Wie auch immer, an einer Autobahnraststätte in Deutschland sei plötzlich ein Mann in der Damentoilette aufgetaucht und habe sie fordernd angeschaut, ihr die Hand hingehalten. Da sie dringend musste und nicht kapierte, was er wollte, schüttelte sie ihm die Hand, sperrte sich in einer Kabine ein, worauf er mit einem Wischmob demonstrativ davor wischte – trug er einen weißen Kittel, frage ich – ja – sogar unter der Tür hindurch sei der Wischmob gewedelt und sie habe die Füße hochheben müssen, bis irgendwann wieder diese Hand unter der Tür durchkam und sie dann endlich das deutsche Klomannprinzip kapierte und ihm ein paar Münzen in die Hand drückte.

Ich schreibe diese Zeilen an einem Badeplatz kaum zwanzig Kilometer Luftlinie bis zur finnischen Grenze. Die Sonne scheint. Seit Stunden ist kein Auto mehr auf der nahen Landstraße vorbei gebraust. Es gibt ein Plumpsklo hier, zwei kleine Grillhütten, Scheitholz und eine kleine Rutschbahn steht mitten im See. Mäßiger Südwind hält mir die Mücken vom Leib.

Das Plumpsklo nebenan ist sauber, erinnert mich aber an eine Szene aus Jo Nesbøs Roman ‚Headhunter‘, in der sich der Held in einem Plumpsklo verstecken muss, einizig mit einer Pappröhre im Mund, völlig untergetaucht, um seinem Häscher zu entkommen.

Ich weiß nicht, ob diese Kloanalogien hier als Blogbeitrag durchgehen.

Es war mir aber ein Bedürfnis, darüber zu reden.

Tag 60 | Im Polcirkelland #ansKap

Das Finale #ansKap hat begonnen, die Zielgerade.
Immer nordwärts jetzt, immer nordwärts radelt Irgendlink. Das sieht in groß dann etwa so aus. Hier klicken zum Link zur Kartenübersicht.

Im Detail sieht es so aus: Vespern im Campingcafé Kukkolaforsen → hier klicken und weiter, weiter, weiter …
… denn irgendwo muss Irgendlink nicht irgendwann sondern heute mal wieder Vorräte kaufen. In Övertornea hat er Glück.

Die heutige Tagesstrecke sieht ungefähr so aus: hier → klicken.

Und die Tagestweets? Die werden euch heute mal wieder pfannenfertig ans Bett serviert:

Tag 61 | Über die Schwelle

Bitte hier → klicken zur ungefähren Tagesstrecke von Tag 61.

Heute hat Irgendlink die Schwelle, den 66. Breitengrad, den Polarkreis, überschritten, überradelt vielleicht besser gesagt.

Am Polarkreis pausieren – im T-Shirt notabene.

Das Nachtlager hat er heute ziemlich früh gefunden. Warum auch nicht. Nachdem Irgendlink heute Morgen das schnelle 3G-Netz für ein Dutzend iDogma-Postkarten ausgekostet hat, ist er relativ spät los. Ruhige Tage müssen auch mal sein.

Beim heutigen Zeltplatz … die Baustelle, derentwegen die Straße gesperrt und somit ruhig ist.

 

Friedliches Abendbild. Hier zelten? Aber gerne!

Weitere Tweets zum Selbstverzehr gibt’s hier → klicken.

Wie Landstraßen. Schrödingeresk befahren unbefahren #AnsKap

Kälte kriecht den Rücken hoch. Vor mir der Trangiakocher, Kaffeewasser sitzt auf. Bestecke, Topfgreifer, Küchenhandtuch liegen auf der Isomatte und daneben steht der leergeleckte Couscous-Topf von gestern Abend. Wenn das Wasser kocht, wird es im Zelt schlagartig warm. Dampf steigt auf. Wie in einer Schwitzhütte. Der schwedische Trangia-Spirituskocher entfacht eine ungeheure Energie. Zudem lässt er sich, mit viel Vorsicht, auch im Zelt aufstellen. Das ist bei Kälte oder bei Mückenbefall von unschätzbarem Wert.Büro, Küche, Lagerraum und Schlafplatz gehen unscharf ineinander über. Kaum auszumachen, wo was beginnt und wo was endet auf dieser winzigen, zwei Quadratmeter großen Wohn- und Arbeitsfläche.

Das Schneidersitzbüro besteht aus einer Bluetooth-Tastatur und dem Smartphone, das auf dem Feurzeug lehnt, leicht schräg, wie ein Pult. Daneben ein Notizbuch, Bleistift, Pufferakkus, Kabel, ein Stück Schokolade, eine halbe Zwiebel, Milch, Kaffee, Wasserflasche. 

Coop Supermarkt Schriftzug vor blauem Himmel in Övertorneå/Lappland Ich weiß nicht, aus wievielen Gegenständen das Lager besteht. Unzählige. Der neueste ist ein Beutel ‚Semper Mjölk‘. Das sei Trockenmilch, hat man mir versichert. Nach dem Debakel im ‚Paradies‘ auf der Landzunge am See – Kaffee zweiter Klasse trinken zu müssen, also ohne oder mit saurer Milch – habe ich mich nach einer Alternative umgeschaut.

Bis ans Nordkap, nun noch zwischen 700 und 800 Kilometer, je nach Strecke, kommen nicht mehr viele Einkaufsmöglichkeiten.

Ein Blick aus dem Zelt auf die Baustelle an der Straße 99. Drei vier Arbeiter in gelben Warnwesten werkeln an der gesperrten Brücke. Hämmern und flexen und schrauben seit halb sieben. Unter der Brücke und neben meinem Zelt rauscht der Bach, der in den Torne-Fluss mündet. Das Zelt steht neben einem – hmm, was ist das? – eine Art Trafohäuschen. Drumherum frisch gemäht, davor der Radweg, geteert, der unter der Straße hindurchführt.

Wenn die Straße nicht gesperrt wäre, hätte ich hier nie das Zelt aufgeschlagen. So aber ist es ruhig.

Interessanter Weise hat sich meine Lagerplatztaktik seit 1995 um 180 Grad gedreht. Konnte es mir damals nicht unbelebt und menschenfern genug sein, zieht es mich heute eher in die Siedlungen (nur hier in Schweden).

Beliebt ist das ‚Kirchenasyl‘, sprich direkt neben der Kirche das Zelt aufzubauen. Natürlich nicht auf dem Friedhof, obwohl sich der auch bestens zum Zelten eignet. Um die Kirchen sind die Wiesen immer frisch gemäht und es gibt meist Trinkwasser und ein WC. Sportplätze sind auch eine tolle Zeltmöglichkeit. Eigentlich ist es mir heuer egal, wo das Zelt steht. Nur nicht zu nahe an einer Straße. Und nicht dort, wo Mücken sind, in hohem Gras, im dichten Wald usw.

Apropos Mücken. Bisher kann ich den Lappland-Mücken-Supergau, wie man ihn aus unzähligen Reiseberichten kennt, noch nicht bestätigen. Nichts, was ich nicht schon daheim auch so erlebt hätte.

Zu Beginn der Reise hatte ich – wegen dieser Berichte, wegen dieser ‚Kenntnisse‘ – die Horrorvorstellung,kliometerweit bergauf, langsam, angreifbar durch Stechmückenschwärme radeln zu müssen, die Augen kaum aufzukriegen in einer mit Mücken durchmischten Luft. Das ist mir bisher erst einmal passiert. Und zwar am Main.

Abends wenn ich das Zelt aufbaue, richte ich es dennoch so ein, dass ich drinnen koche und nicht vor der Türe. Es ist einfach gemütlicher. Die Technik, das Innenzelt mit allen Utensilien, Kochpacktaschen, Matte, Schlafsack usw. zu befüllen, noch ehe es im Gestänge eingehakt wird und dabei den Reißverschluss zuzuziehen, hat sich bewährt. Dann können sich keine Viecher hinein verirren, wie dies der Fall wäre, wenn man nach dem Aufstellen bei offenem Reißverschluss alles einräumen würde.

Zeltfachsimpelei.

Kenntnisse.

Wissen.

Alles, was ich hier erzähle sind ja subjektive Wahrnehmungen.Das geht mir beim Radeln öfter durch den Kopf. Ich schiebe dann eine Art Wissen von der Welt, die mich erwartet vor mir her, das ich mir durch Bloglesen und Reiseberichte, manchmal auch vom Hörensagen von Mensch zu Mensch unterwegs, angeeignet habe.

Dass es sich dabei aber um andere, subjektive Welten handelt, die nicht unbedingt deckungsgleich mit meiner erlebten Welt sein müssen, durchsschaue ich zunächst nicht. Lappland gleich Mücken. Finnen gleich Messer, Berge gleich schwitz, Gegenwind gleich gemein, unsichtbar. Oaaah, was für ein höllisches Radlerleben, das ruckzuck vor einem liegt, wenn man die selektiven Wahrnehmungen der anderen zu seinen eigenen macht und im Hintergrund sein Bild von der Welt festzementiert, ohne sie selbst gesehen zu haben.

Ja, auch dieser, mein Bericht, zementiert, ob du willst oder nicht, ein Bild, ein Feeling von dem was Lappland, was diese Radreise zum Nordkap ist. Für dich, in dir. Vergiss es. Versuche zumindest, es zu vergessen. Es ist meine Welt, die du da montierst, stellvertretend für etwas, was du noch nicht erlebt hast (oder was du selbst auch schon erlebt hast, nur eben anders).

Seit Ewigkeiten geht mir das im Kopf rum. Dass wir so wenig wissen im Vergleich zu dem, was wir zu wissen glauben. Selbst wenn ich meine eigene Vergangenheit betrachte, zum Beispiel die Reise 1995 mit dem Fahrrad zum Nordkap, die ja Vorlage für die jetztige Reise ist: wir hatten sechs Wochen lang nur Sonne. So erzählen wir es, QQlka und ich. So haben wir das erlebt. So erinnern wir uns. Im alten Tagebuch, das leider sehr spärlich ist und sich fast ausschließlich mit dem Kunststraßenprojekt beschäftigt, steht etwas ganz anderes. Natürlich gab es Regen. Natürlich hatten wir Gewitter. Gegenwind. Kälte. Mücken? Ne, Mücken gab es damals auch nicht. Dafür war es am Ende in Kautokeino mit fast null Grad wohl zu kalt. Ich erinnere mich, in einem Gästebuch auf dem Campingplatz Kautokeino lasen wir einen Eintrag von einem Deutschen, der eine Woche vorher dort war, der sich über die Mückenplage ausließ.

Es könnte also sein.

Seine Welt, nicht unsere.

Wenn ich eine Landstraße radele und darüber fluche, wie stark befahren sie ist, bin ich vielleicht in der nachmittäglichen schwedischen Stoßzeit geradelt. Sonntags früh sieht die Straße ganz anders aus.

Wenn also jemand in der Stoßzeit radelt und über die Straße schreibt, ist sie stark befahren, wenn jemand sonntags radelt und darüber schreibt, ist die Straße menschenleer. Geradezu schrödingeresk.

Eigentlich handelt dieser Beitrag vom trügerischen sich selbst eine Welt und Sichtweise zusammenschustern und daraus in herrischer Uneinsicht abzuleiten, dass diese eigene Sichtweise – wie die Dinge nunmal so sind – für immer und jederzeit auf alle anderen übertragbar ist.

Ein gefährlicher Aspekt des Menschseins. Denn es gilt ja nicht nur für Witterungszustände, Insektenplagen, Gegenwinde, verkehrsreiche Straßen, es gilt auch für uns Menschen und wie wir uns gegenseitig sehen. Vorurteile. Rassismus.

Die Finnen haben alle Messer.

Tag 62 | Rheinradeln im hohen Norden #AnsKap

Frau SoSo in der Homebase hat heute ihren freien Tag, weshalb ich mich aus dem ‚Schneidersitzbüro‘, achtzehn Kilometer südlich von Pajala melde. Das Zelt steht, ähnlich wie vorgestern, auf einer frisch gemähten Wiese zwischen weiß verpackten Silageballen, die ein bisschen aussehen wie überdimensionierte Marshmallows.

Die Wiese hat mich nach knapp sechzig Kilometern so wunderbar angelacht unter der schrägen, fast im Norden stehenden Sonne. Eine kleine Anhöhe etwa hundert Meter vom Straßenrand. Man hört den Torneälven rauschen. Wohl ist hier wieder eine der Kataraktstellen, die sich mit ruhigen, fast stehenden und sehr breiten Flussabschnitten abwechseln.

Für eine ganze Weile hatte ich heute das Gefühl, am Rhein zu radeln. Irgendwo in der Gegend um Kehl/Strasbourg, flussaufwärts. Hier Frankreich und drüben, wo eigentlich Finnland ist, wäre dann Deutschland.

Schwarzwald und Vogesen muss man sich wegdenken. Hier gibt es keine Berge. Allenfalls Hügel. Künmerlicher Wald aus Birken und Kiefern. Sogar so eine Art Landwirtschaft, Wiesen, Kühe, betreibt man hier.

Die Straße 99 ist an diesem Samstag so gut wie leer. Alle viertel Stunde mal ein Auto. Herrliches Radfahren ist das, vor allem, als gegen Abend die Sonne durchkommt.

Am Flussufer gibt es ab und zu Rastplätze mit Bänken, Tischen und kleinen Hütten. Scheitholzschuppen daneben. Die Hütten haben Feuerstellen in der Mitte und rusige Decken, sind aber sauber und gemütlich.

Ich war etwas schlapp heute und gestern. Rätsele immer noch, ob man als Mensch so einer Art Zyklus unterliegt, ähnlich wie der ganze Planet mit seinem Tagesrund, den Jahreszeiten, und ja sogar – wie gestern festgestellt – dem über zigtausend Jahre auf und ab wandernden Polarkreis.

Wenn dem so ist, freue ich mich, dass das nächste Hoch dann wohl am Nordkap erreicht wird.

Noch sind es etwa sieben- achthundert Kilometer. Je nachdem, ob ich den Sverigeleden über Vitangi und Karesuando weiter radele, oder die alte Kapschnittstrecke durch Finnland nehme, die wir 1995 radelten.

Finnland war übel, erinnere ich mich. Es war nicht nur mehr Verkehr, was uns so sehr nervte – jetzt fällt es mir wieder ein – es war Hektik, Geschwindigkeit und ein anderer Umgang mit schwächeren Verkehrsteilnehmern.

Ich werde mal darüber schlafen. In achtzehn Kilometern muss ich eine Entscheidung treffen.

Hier der aktuelle Standort als Screenshot.

EDIT:  Zum Tagesstreckenlink (ungefähr) bitte → hier klicken.