Bis zum jüngsten Tack

Der letzte Arbeitstag für dieses Jahr. Das Überstundenbarometer hat doch tatsächlich die Viermonatsmarke überklettert. Wir spinnen alle ein bisschen in der Tackerwerkstatt. Mit Kollege T. machte ich vorhin die Übergabe der Werkstatt. Er wird nun den großen Auftrag zu Ende führen.

Auf dem PC zeigte er mir Fotos seiner Jakobsweg-Reise vom Juni letztes Jahr. In drei Wochen ist er vom Saarland bis Santiago geradelt. Damals hatte ich versucht, ihn zu täglichen Telefonaten zu animieren oder SMSen, in denen er über die Reise berichtet – ein erster Versuch, die Technik einer Live-Reise auszuprobieren. Ich wollte dann in diesem Blog darüber berichten. Es scheiterte daran, dass T. viel zu wenig Zeit hatte, einen täglichen Reisebericht abzuliefern. Irgendwo in Frankreich hatte er sein Handy kaputt geschwitzt und er legte Etappen von bis 200 Kilometer zurück.

Aus der Radtour diesen Frühling nach Andorra weiß ich, dass für das Live-Reisen nichts wichtiger ist, als Ruhe. Du darfst nicht ankommen-wollen. Du musst unbedingt das Scheitern als zweites Ziel in dein Konzept aufnehmen, nur für den Fall, dass du das erste Ziel nicht erreichst.

Um 15:25 setzte ich die letzte Tackernadel in ein schickes, rotes Ledermöbel, legte das Gerät zur Seite, leerte den Mülleimer, verabschiedete mich von den Kollegen und Kolleginnen mit „Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch“. In der Mittagspause hatte ich alle aufgefordert, ihre Sünden auf einen Zettel zu schreiben und ihn mir in einem versiegelten Umschlag mitzugeben auf den Jakobsweg. So würden sie auch ein bisschen an der religiösen Reinwaschung profitieren. Auf meinen eigenen Zettel mit den Sünden kritzelte ich am Ende einer langen Liste: „Habe die versiegelten Umschläge mit den Sünden meiner KollegInnen geöffnet“.

:-)

Jakobsweg Testlauf – eine Rekapitulation des Erlebten

Höm? Ich hab die Dinge, glaub ich, ins Rollen gebracht. Nur noch der Tod kann mich vom Santiago-Trip abhalten – kleines Grinsen im Gesicht. Die gestrige Wanderung von 9 Kilometern mit mehr als vollem Gepäck ließ sich doch ganz gut an: 18 Kilo bergab und, nachdem ich Künstler H. die Stahlplatten für seine Kunstwerke abgeliefert hatte, nur noch 14 Kilo bergauf. Es ist psychologisch von Vorteil, wenn man den Weg, den man geht, schon kennt. Um Vieles schwerer werden 9 Kilometer ins Unbekannte sein. Hirn, dein Name sei Verrat.

Abends entpackte ich den nigelnagelneuen Rucksack in der Künstlerbude und dividierte von den flüchtig gepackten Gegenständen diejenigen, die ich nicht mitnehmen werde auf den Camino Frances, schrieb eilig eine Liste der Dinge, die zusätzlich in den Rucksack gepackt werden müssen und eine Liste derer, die ausgetauscht werden müssen gegen leichtere Gegenstände. Den Regenschirm, liebe rebellierenden FernwandererInnen, lasse ich natürlich daheim. Ich hatte mir nur die Illusion gemacht, dass es gut ist für die sündhaft teure D 300, sie unter einem Regenschirm im nassen Galizien zu bedienen. Aber vielleicht lasse ich auch die D 300 zu Hause. Was nützt mir die beste Hightech-Kamera, wenn ich mir wegen ihres Gewichts die Gelenke zu Schanden laufe?

Ihr seht, liebe Live-Blog-Lesende, ich hadere im Vorfeld dieser Reise mal wieder sehr mit den Möglichkeiten – und weiß gleichzeitig, dann, wenn alles begonnen hat, wird es ein Großes werden, und kein Hahn mehr, insbesondere ich selbst, wird danach krähen, woran man einst zweifelte.

Testpilgern Tag 1 – 9 km

Habe den ganzen Nachmittag damit verbracht, in der Startnext-Sphäre alle Felder des Eingabeformulars  auszufüllen und das Live-Reise-Projekt, welches mich ab 18. November auf dem Jakobsweg von Saint Jean Pied de Port bis nach Santiago de Compostella führen soll, auf digitale Beine zu stellen.
Die Arbeit ist sicher nicht schlecht investiert: erstmals betrachte ich die Idee, die seit anderthalb Monaten in den Tiefen meines Hirns Gestalt annimmt, wirtschaftlich. Erstaunlicher Weise wird mich die Reise mit Roamingkosten, Telefonie, Ausstellung und Buchproduktion knapp 5000 Euro kosten (die Lebenshaltungsspesen nicht eingerechnet). Es war nicht wichtig, das auszurechnen, aber äußerst aufschlussreich. Nicht wichtig, weil ich ein Getriebener bin, weil ich besessen bin von der Idee, live zu reisen, direkt darüber zu schreiben, Bilder ins Irgendlink-Blog zu posten, so wie ich es im Frühling auf der Andorra-Tour gemacht habe und so grandios, wie die geliebte Blog-Kollegin Sofasophia und ich es im Juli quer durch Skandinavien bewiesen haben: es ist möglich, die virtuelle und die reale Welt miteinander zu verbinden und auf Direktreisen , noch während man etwas erlebt, darüber zu berichten. Geld spielt dabei keine Rolle, traumhaft, nicht?
So arbeitete ich diesen milden Oktobertag verbissen im Netz, Serendipität sei Dank – ich suchte nicht und fand: Startnext. Die Zukunft wird zeigen, was sich aus dieser Sache entwickelt. Über meiner Fummelei an dem Profil vergaß ich, dass ich eigentlich Künstler H. besuchen wollte, drunten in der Stadt. Mit dem nigel-nagel-neuen Rucksack wollte ich die abgeernteten Felder überqueren, drei vier Kilometer mit vollem Gepäck, weil: eigentlich bin ich noch kaum gewandert. Und wenn, dann nicht mit Gepäck. Gegen 16 Uhr packte ich einige repräsentative Reisegegenstände in den Rucksack, Socken, Unterhosen, Handtuch, die schwere Digitalkamera, Zusatzakkus, Solarzelle. Eigentlich fast alles, was ich für den Jakobsweg auch mitnehmen würde. Die Zugwaage, die wir hier auf dem einsamen Gehöft normalerweise verwenden, um die Ernte zu wiegen, zeigte 16,5 Kilo. Gut doppelt so viel, wie ich im Geiste gerne schleppen würde. Egal. Vielleicht lasse ich den Regenschirm, den ich eingepackt habe, damit ich auch bei Regen fotografieren kann, doch besser daheim. Und natürlich die beiden Stahlsockel, die ich dem Künstler H. schenken will. Muss ich mich auch mit Künstlern abgeben, die mit Eisen arbeiten. Kann er nicht einfach Aquarell malen oder irgendwas mit Balsaholz machen?
Runter in die Stadt. Auf den Äckern ein paar Jungs, die mit Drachen im mäßigen Wind spielten, Wir nickten einander zu und nur knapp 100 Meter vom einsamen Gehöft entfernt, kam ich mir sogleich fremd vor, als sei ich schon Tage unterwegs. Die 16,5 kg schleppten sich mäßig, aber der Rucksack ist, (wie ich gestern berichtete) wie verwachsen mit meinem Rücken – eine perfekte Einheit.
Friedhof Niederauerbach: ein uraltes Muttchen begegnet mir mit Kopftuch, rot geweinten Augen, ich grüße sie, was ich nicht tun würde, wenn ich einer von hier wäre – ja, es ist wie unterwegs. Ein bisschen Phantasie und hinter den nächsten Hügeln findet sich Galizien. Das Muttchen tut mir leid. Vielleicht hat sie ihren letzten lieben Menschen verloren und ist nun allein. Für immer.
Kaffee bei Künstler H. Ich bin mächtig geschwitzt, vertraue ihm als zweitem Menschen nach Journalist F. meine geheimen Pläne an, den Jakobsweg live zu begehen (oke, Sofasophia weiß natürlich auch Bescheid). Räume auch ein, dass ich es vielleicht nicht tue (weil ich mich nicht traue, weil ich Angst habe zu scheitern, weil das liebe Leben mit Sofasophia so süß und warm ist – ach, es gibt tausend Gründe, solch eine Reise nicht zu tun, aber es gibt nur einen, sie zu tun: weil dein Künstlerleben es dir diktiert!), egal.  Dass ich es vielleicht nicht tue, erzähle ich Künstler H. Aber der hat mich durchschaut: „Gilt nicht, erst groß posaunen und dann kneifen. Du musst das durchziehen.“
Rückweg in der Dämmerung. Ich erklimme die Hügel durch die düstre Heilbachschlucht, erhasche einen letzten Blick auf einen Millimeter breiten Streifen rosa Horizont. Westen. Die Richtung, in die ich ab 18. November für mehr als 30 Tage laufen werde. Heute habe ich die ersten 9 Kilometer bei vollem Gepäck fast ohne Blessuren überstanden.

Back in Blog

Das Genre Weblog lebt vom Alltag. Schon im Jahr 2001 wusste ich das. Über Jahre titelte ich alle meine Blogartikel grundsätzlich mit „Alltag, der Soundsovielte Soundsovielte 2tausendX“. Die guten alten Alltagstexte, die ich zu Beginn des Jahrtausends in die Tasten hackte und per händisch verlinkten, einzelnen Html-Seiten ins Netz stellte, sind die urtümlichen Quelltexte dessen, was aus mir im Lauf der Zeit geworden ist: Blogpionier, spätberufener Internetprophet, stumpfe Speerspitze des Geotaggings, sowie – mit den revolutionären Ideen der letzten Tage im Gepäck, von denen noch zu reden sein wird – vielleicht ein Forscher auf den brandheißen Spuren der modernen Netz-Kunst. In jedem Fall hart am Wind der Zeit. Hey hey Lincki, hey Lincki hey, zieh fest das Segel aahahan.

Zehn Jahre sind ins Land gegangen, in denen es keine Phase wie diese gab; in der ich so lange das Blog habe schleifen lassen, soviel Nichts über so viele Tage und Monate ausgebreitet habe. Dass es mir schon beinahe selbst weh tut. Die Lohntackerei ist nicht schuld an der Schreibflaute. Es ist die verflixte Kombination aus Brotjob und Kunst, die ab Anfang August zur vollkommenen Überlastung geführt hatte, so dass ich seither nur kleine Notfall-Artikel geschrieben habe, gerne zwar mit Bildern, denn Bilder, meine Lieben, damit kann ich Euch überschütten.

Dass trotzdem ich nun zurück kehre ins Blog, gestärkt und mit neuen Ideen, schreibe ich einzig und allein dem Wunder des Lebens zu. Dinge, die passieren wollen, passieren. Blogeinträge, die geschrieben werden wollen, werden von Bloggern geschrieben, die sie schreiben wollen. Kurz: von mir :-).

Vorgestern habe ich einen Rucksack gekauft in einem völlig überfüllten Rucksackladen in Homburg an der Saar. Verschämt antwortete ich auf die Frage, wofür ich den Rucksack denn brauche: „Tagestouren im Pfälzer Wald und so.“ Ich wich dem Blick des Verkäufers aus und bat ihn, 9 Kilo in den Sack zu packen, ihn mir auf den Rücken zu winden. Dann stolzierte ich im Laden umher, betrachtete die Taschenmesser. Besonderen Gefallen erregten die roten Opinel-Messer in einer kleinen Vitrine. Derweil verwuchs der blaue Bergans-65-Liter-Rucksack so fest mit meinem Rücken, dass es fast weh tat, ihn wieder abzuziehen. Der Verkäufer kompromittierte meine in Anführungszeichen „Tagestouren im Pfälzer Wald“ mit der Empfehlung, ich solle doch den kleineren Bergans mit 40 Litern mal probieren, weil man ja den 65er nur braucht, um die Welt zu umrunden oder wenigstens den Jakobsweg … ich winkte ab, aber zum Schein probierte ich den 40er Sack noch aus, nur 129 Euro, unschlagbar billig, ich gebe es zu, aber vor dem großen Spiegel im Laden rebellierte mein Rücken und ich fragte um einen Rabatt für den 65er, der mir sofort gewährt wurde. Kauf!

Eine halbe Stunde später besuchte ich Journalist F. in der Klinik, was nicht sehr erfreulich ist. Es rüttelt mich stets wach, wenn ich auch nur im Entferntesten mit der Klinik in Berührung komme – sei auf der Hut, der große böse Tod lauert hinter jeder Ecke – besuchte ich also Journalist F., dem es wirklich nicht bestens geht, der aber sein Schicksal wunderbar meistert und das macht ihn zu einem der großen Menschen. Wir schwadronierten über dies und das, die Nieren und all das Leid und dass wir ja beide schon mindestens ein Mal dem Tod von der Schippe springen mussten, bis ich ihm an diesem Abend, vorgestern war das, als Erstem offenbarte: „ich lauf‘ runter nach Santiago, Jakobsweg und so, hab eben einen 65 Liter Rucksack gekauft, liegt da im Auto (mit dem Kinn zeigte ich hinüber zur silbergrauen Künstlerkutsche, die vor der Nierenambulanz frech im Parkverbot stand). Jawoll“, füge ich hinzu, „und weißt du was, ich mach#s life und online. So wie im Sommer mit Sofasophia, als wir durch Skandinavien reisten und jeden Tag einen Blogartikel in unsere Blogs stellten. Genau das mache ich mit dem Camino Frances“. Euphorisch schaute ich in den Himmel. Der Journalist blies einen Wolke blauen Dunstes in den Nebel, die sich sofort mit der kalten Winterluft vermählte. „Das wird kalt, eklig, nass, ungemütlich.“ konstatierte er, „ich wünsche Dir viel Glück.“ Diese Worte, meine Freunde, kommen einer Umarmung gleich.

13 Tage Regen

Regentage in La Coruna, Nordspanien: im November 12, im Dezember 14. Das heißt: wer Mitte November den Jakobsweg läuft und dafür 31 Tage braucht, könnte 26 Tage im Regen laufen oder Null? Also 13 Tage Regen, einigen wir uns auf die Mitte. Ich sollte meine Schuhe imprägnieren und muss verrückt sein.