Testpilgern Tag 1 – 9 km

Habe den ganzen Nachmittag damit verbracht, in der Startnext-Sphäre alle Felder des Eingabeformulars  auszufüllen und das Live-Reise-Projekt, welches mich ab 18. November auf dem Jakobsweg von Saint Jean Pied de Port bis nach Santiago de Compostella führen soll, auf digitale Beine zu stellen.
Die Arbeit ist sicher nicht schlecht investiert: erstmals betrachte ich die Idee, die seit anderthalb Monaten in den Tiefen meines Hirns Gestalt annimmt, wirtschaftlich. Erstaunlicher Weise wird mich die Reise mit Roamingkosten, Telefonie, Ausstellung und Buchproduktion knapp 5000 Euro kosten (die Lebenshaltungsspesen nicht eingerechnet). Es war nicht wichtig, das auszurechnen, aber äußerst aufschlussreich. Nicht wichtig, weil ich ein Getriebener bin, weil ich besessen bin von der Idee, live zu reisen, direkt darüber zu schreiben, Bilder ins Irgendlink-Blog zu posten, so wie ich es im Frühling auf der Andorra-Tour gemacht habe und so grandios, wie die geliebte Blog-Kollegin Sofasophia und ich es im Juli quer durch Skandinavien bewiesen haben: es ist möglich, die virtuelle und die reale Welt miteinander zu verbinden und auf Direktreisen , noch während man etwas erlebt, darüber zu berichten. Geld spielt dabei keine Rolle, traumhaft, nicht?
So arbeitete ich diesen milden Oktobertag verbissen im Netz, Serendipität sei Dank – ich suchte nicht und fand: Startnext. Die Zukunft wird zeigen, was sich aus dieser Sache entwickelt. Über meiner Fummelei an dem Profil vergaß ich, dass ich eigentlich Künstler H. besuchen wollte, drunten in der Stadt. Mit dem nigel-nagel-neuen Rucksack wollte ich die abgeernteten Felder überqueren, drei vier Kilometer mit vollem Gepäck, weil: eigentlich bin ich noch kaum gewandert. Und wenn, dann nicht mit Gepäck. Gegen 16 Uhr packte ich einige repräsentative Reisegegenstände in den Rucksack, Socken, Unterhosen, Handtuch, die schwere Digitalkamera, Zusatzakkus, Solarzelle. Eigentlich fast alles, was ich für den Jakobsweg auch mitnehmen würde. Die Zugwaage, die wir hier auf dem einsamen Gehöft normalerweise verwenden, um die Ernte zu wiegen, zeigte 16,5 Kilo. Gut doppelt so viel, wie ich im Geiste gerne schleppen würde. Egal. Vielleicht lasse ich den Regenschirm, den ich eingepackt habe, damit ich auch bei Regen fotografieren kann, doch besser daheim. Und natürlich die beiden Stahlsockel, die ich dem Künstler H. schenken will. Muss ich mich auch mit Künstlern abgeben, die mit Eisen arbeiten. Kann er nicht einfach Aquarell malen oder irgendwas mit Balsaholz machen?
Runter in die Stadt. Auf den Äckern ein paar Jungs, die mit Drachen im mäßigen Wind spielten, Wir nickten einander zu und nur knapp 100 Meter vom einsamen Gehöft entfernt, kam ich mir sogleich fremd vor, als sei ich schon Tage unterwegs. Die 16,5 kg schleppten sich mäßig, aber der Rucksack ist, (wie ich gestern berichtete) wie verwachsen mit meinem Rücken – eine perfekte Einheit.
Friedhof Niederauerbach: ein uraltes Muttchen begegnet mir mit Kopftuch, rot geweinten Augen, ich grüße sie, was ich nicht tun würde, wenn ich einer von hier wäre – ja, es ist wie unterwegs. Ein bisschen Phantasie und hinter den nächsten Hügeln findet sich Galizien. Das Muttchen tut mir leid. Vielleicht hat sie ihren letzten lieben Menschen verloren und ist nun allein. Für immer.
Kaffee bei Künstler H. Ich bin mächtig geschwitzt, vertraue ihm als zweitem Menschen nach Journalist F. meine geheimen Pläne an, den Jakobsweg live zu begehen (oke, Sofasophia weiß natürlich auch Bescheid). Räume auch ein, dass ich es vielleicht nicht tue (weil ich mich nicht traue, weil ich Angst habe zu scheitern, weil das liebe Leben mit Sofasophia so süß und warm ist – ach, es gibt tausend Gründe, solch eine Reise nicht zu tun, aber es gibt nur einen, sie zu tun: weil dein Künstlerleben es dir diktiert!), egal.  Dass ich es vielleicht nicht tue, erzähle ich Künstler H. Aber der hat mich durchschaut: „Gilt nicht, erst groß posaunen und dann kneifen. Du musst das durchziehen.“
Rückweg in der Dämmerung. Ich erklimme die Hügel durch die düstre Heilbachschlucht, erhasche einen letzten Blick auf einen Millimeter breiten Streifen rosa Horizont. Westen. Die Richtung, in die ich ab 18. November für mehr als 30 Tage laufen werde. Heute habe ich die ersten 9 Kilometer bei vollem Gepäck fast ohne Blessuren überstanden.

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