Nájera

Schon wieder 27 km geschafft! > Die heutige Strecke samt Streckenprofil findet ihr hier …

Heute mal ein bisschen Pilgerstatistik:
In neun Tagen ist Irgendlink nun bereits um die 190 km gegangen.
Je nach Leseart und Route sind es von Nájera nach Santiago de Compostela noch 550 km bis 590 km.
Falls er das jetzige Durchschnittstempo beibehält, wird er noch rund 26 – 28 Tage unterwegs sein.

„Würdest du dich auch mal, um schneller vorwärts zu kommen, in ein Taxi oder in einen Zug oder Bus setzen?“, fragte ich ihn vorhin am Telefon, da wir uns ja am 23. Dezember irgendwo – in der Mitte zum Beispiel – treffen wollen.
„Warum auch nicht? Ich darf schließlich alles“, lachte er. „Doch zurzeit ist Abkürzen kein Thema. Das Wandern macht einfach Spaß. Das Licht ist grandios. Die Sonne. Die Stimmungen. Fotowetter vom feinsten!“

by Sofasophia

Nachtrag zur Angst

Gerade lese ich Eure Kommentare. Danke, meine Lieben. Wir sind nur zu dritt in der Herberge. Laura und ich auf der einen Seite. ER auf der anderen Seite des Raums. Heute führt er kaum Selbstgespräcke. Vielleicht liegt es an Los Arcos? Der Enge? An dem seltsamen Wummern und dem Vibrieren des Hauses periodisch in der Nacht. Macht das die Menschen wirr? Als ich morgens den Herbergswirt frage, woher das Wummern kam, sagt er, er habe nichts gehört …

Nun hier in Logroño haben wir unsere Rucksäcke in der Flur gestellt und Fallen gebaut, die Lärm machen, wenn sich jemand unserer Bettenburg nähert.

Ein nahezu quantenphysisches Problem

Während langer, mantrischer Tackerstunden haben Kollege T. und ich im Hochsommer 2008 das Jakobswegbuch von Hape Kerkeling als Hörbuch gehört. Einfach köstlich! Während der nachdenkliche Komedian mit seinen wandernden LeidgenossInnen durch Nordspanien pilgerte und sich selbst suchte, bauten Kollege T. und ich sinnlose Möbel im Akkord. Wir lechzten danach, diesen Weg zu gehen.
Als gutes geflügeltes Wort ist mir Hapes Satz ‚Erkenntnis des Tages‘ am Ende jedes Kapitels in Erinnerung geblieben. Was haben wir gelacht und mitgefühlt. Abendw gingen auch wir mit den Worten ‚Erkenntnis des Tages‘ und irgendeinem sarkastischen Spruch zum Thema Arbeit nach Hause.
Nun ist alles ein bisschen anders. Die Erkenntnisse kommen nicht tageweise und sie sind auch nicht in einem Satz zu fassen. Sie sind nicht leicht verdaulich und oft nicht für die Öffentlichkeit geeignet. Nach sieben Tagen unterwegs habe ich keine einzige handfeste Erkenntnis vorzuweisen.
Gestern, als ich das iPhone verliere, nähere ich mich erstmals dem Kern meiner Pilgerreise: würde ich den Weg auch gehen, wenn ich ihn nicht live bloggen würde. Gestern habe ich für eine halbe Stunde einen Großteil meines Sinnkonstrukts verloren. Ich stand sprichwörtlich vor dem Nichts. Der Rucksack war mir egal. Ich ließ ihn in einer Ecke in Sansol stehen und hastete verzweifelt durch die Gassen. Wo ist mein Handy? Wo ist mein Jakobsweg. Natürlich könnte ich die Reise fortsetzen und natürlich würde ich weiterdenken -erleben -erkennen. Aber:hätte ich die Reise ohne iPhone, ohne tägliche (und nächtliche – es ist halb vier) Liveblogmöglichkeit fortgesetzt? Ein geradezu quantenphysisches Problem: der Forscher beeinflusst durch den Akt der Beobachtung das, was er beobachtet. Das vorhanden Sein der Möglichkeit vernebelt die Sinne, um Herauszufinden, ob man Etwas auch ohne die Möglichkeit tun würde – nur mit anderen Mitteln.

Unterwegs schreibt fast jeder. Menschen allen Alters und jeder Nation notieren in allen Sprachen der Welt ihre Gedanken in ihre Notizbücher. Vor ein paar Tagen habe ich mir gedacht, wenn man all das in einem gigantischen Buch notieren würde, erhielte man das klügste Buch der Welt. Ich glaube sogar, vieles, was hier am Camino geschrieben wird, ist durchgehend schlüssig und wäre veröffentlichenswert. Hier schreiben sich die Geschichten wie von selbst.
Als mir Jan und Jost erzählten, dass sie für 130 € via Frankfurt-Klagenfurt heimfliegen würden, dachte ich für eine Sekunde ans Aufgeben. Erinnerte mich des Prinzips des ‚plötzlichen Lustverlusts‘ welches dazu führt, eine Reise zu beenden. Dem ‚plötzlichen Lustverlust geht meist ein Sinnverlust voraus und immer eine Erkenntnis.
Ich schließe ohne Erkenntnis – außer vielleicht: nachts, wenn ruhig sie alle schnaufen, schmatzen, röcheln, ist einfach prima liveblogging :-)

Der Wille zur Angst

Konzeptkünstler R., mein alter Freund und Kunstkollege hat einmal gesagt: „Wenn die Menschen keine Angst mehr hätten, würden sie auch nicht mehr krank werden und sie würden auch nicht sterben.“ das erinnert ein bisschen an den amerikanischen Journalisten und Autor Prentice Mulford, der eine ähnliche Theorie hatte.
Und auch ich beschäftige mich mit dem Gedanken, während ich heute, meist alleine, von Los Arcos in die ca. 150.000 Seelen-Stadt Logoroño laufe. Anfangs lenkt mich noch Shijatsu-Mann Thomas von meinen kleinen Alltagssorgen ab. Wir reden auf dem topfebenen Stück bis Sansol über Energieflüsse und er erzählt mir etwas über den menschlichen Körper, Meridiane und natürlich über den Camino und all die seltsamen Typen hier. Pilgertratsch meets Philosophie. Nebenbei muss ich immer wieder an mein stechendes linkes Knie denken und mache mir Sorgen, dass es schlimmer wird. In dem Dörfchen Sansol trennen wir uns. Ich packe die D 300 aus und screene die Straßen, den mobilen Fischhändler fotografiere ich, der gerade bimmelnd durch die Straßen fährt. Ich habe Lust auf Räucheraal, aber es gibt nur Rohes. Hoch zur Kirche, die wie fast alle Kirchen in den Dörfern am Weg den höchsten Punkt bildet. Am Dorfende zeigt ein Schild noch 20,3 km bis Logoroño. Ich will das iPhone auspacken und ein HDR Bild machen, kann es aber nicht finden. Adrenalinschub. Alle Jackentaschen sind offen. Es muss mir bei meinen Streifzügen durchs Dorf rausgefallen sein. Panisch den selben Weg zurück, Nase am Boden wie ein Spürhund. Ich schaue unter alle Autos, sogar die drei Meter hohe Wand bei der Kirche schaue ich hinab in eine dornige Wildnis, frage Müllmänner, alte Herren und Frauen. Niemand hat den Kleinstcomputer gesehen. Zurück bis zum Ortsschild, wo ich das letzte Bild gemacht habe. Das Telefon bleibt verschwunden. Auf einer Bank auf dem Dorfplatz setze ich den Rucksack ab, durchwühle ihn, leere alle meine Hosen- und Jackentaschen. Nichts. Finde Dich mit dem Verlust ab, denke ich. Niedergeschlagen. Ziehe die Jacke aus, um die Taschen erneut zu durchsuchen. Nichts. Als ich völlig entmutigt die Jacke wieder anziehe, um orientierungslos weiter zu laufen, spüre ich das Telefon im rechten Ärmel. Da, wo ich es manchmal reinstecke, wenn ich es schnell griffbereit haben will. Über all den Trouble hat sich mein Knieschmerz gelegt. Und mir kommt der Gedanke mit der Angst. Dass sie das, wovor man Angst hat erst ins Leben ruft: Angst vor Rückenschmerzen, lässt einen sich unbewusst Rückenschmerzen vorstellen und der Körper folgt unbewusst dem Geist und verkrampft sich. Knieschmerz dito. Und mit dem Tod ist es in gewisser Weise so ähnlich. Wenn man dran denkt, bestimmt er das Leben. Denkt man nicht daran, kommt er irgendwann und man ist tot, ehe man etwas merkt.
Vielleicht haben Mulford und Konzeptkünstler gar nicht so unrecht.
Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn das iPhone verloren gewesen wäre. Es gibt dieser Reise für mich nichtgläubigen, sportlich und kulturell uninteressierten Menschen einen Sinn. Ich muss diese Frage irgendwann beantworten: würde ich diese Reise auch dann machen, wenn ich nicht livebloggen würde, ja nicht einmal Kunst schaffen und fotografieren?

5 km Abschied.
Kurz vor Viane sitzen Jan und Jost, die beiden Slovenier in einem Olivenhain. Ganz verdrossen erklären sie mir, dass sie nach Hause wollen. Sie sind miserabel ausgerüstet und haben nicht genug Geld. Ich biete ihnen 150 € an, mit der Auflage, dass sie es in 20 Jahren bedürftigen Jungs zurück zahlen, die, so wie sie unterwegs sind. Aber sie lehnen ab. Mir wird klar, dass es nicht nur das Geld ist, sondern, wie ich so auf ihre abgewetzten löchrigen Schuhe schaue: vor allem die Ausrüstung ist ein Problem. Sie bräuchten jeder mindestens 500 € für eine bessere Ausrüstung. Und mit nur 150 € kommen sie höchstens eine Woche weit. Wir tauschen Mailadressen und sie wünschen mir Buen Camino. Die fünf km bis Viane, von wo sie den Bus zum Flughafen Santiago nehmen, treffen wir uns noch ein paar Mal. Einmal schenken sie mir Schuhimprägnierung. Ein Andermal erzähle ich ihnen von meiner kürzesten Langstreckenradtour, die ich je hatte. Nach Gibraltar im November 1990, nur einen Tag. Aber das ist eine andere Geschichte.
Ich sehe die beiden noch jetzt vor mir, wie sie ein Reben bewachsenes Tal hinunter laufen nach Viane und aus Jans iPod kommt der Beatles-Song „‚Let It Be‘.
Nun für satte 10€ in der neuen Pilgerherberge in Logroño am Plaza Antigua de Torros. Laura wieder getroffen. Shijatsu-Spezialist Thomas durfte wegen des Hundes nicht hier übernachten. Theoretisch wäre noch ein Schweizer Pilger hier, aber er liegt mit Bauchschmerzen im Krankenhaus. Nur sein Rucksack lehnt am Bett.
Dafür hat sich der stinkende Verrückte am anderen Endes des 60 qm Raums einquartiert. Ich entdecke das Stinkmanns-Dilemma, das hoffentlich irgendwann in die Liste berühmter Dilemmata aufgenommen wird: auf dem Pilgerweg wird der stinkende Mann immer deine Geschwindigkeit bestimmen. Versuchst du vor ihm zu laufen, läufst du automatisch schneller, als du willst. Hältst du dich hinter ihm, musst du langsamer laufen, als du willst. Es gibt kein Entrinnen.