Schweizer Aufzug, acht Personen, 52 Meter, nur ein Knopf mit der Aufschrift ‚Upp‘, also aufwärts. Bei Neptun des Planetenpfads, der sich vom Zentrum Örebros Richtung Nordosten windet, erreichen wir die Stadt. Ohne unsere Zeltplatznachbarn in Uskavigården, die uns morgens in ein Schwätzchen verwickelten, wären wir womöglich nicht auf die Idee gekommen, zu dem blassen, pilzähnlichen alten Wasserturm zu fahren und uns die Stadt von oben anzuschauen. Ulfon und Ingeå und ihr Hund Nala luden mich morgens auf eine kurze Spritztour in den Wald nahe des Uskavisees ein. Dort gäbe es eine grüne Lagune in einem alten Kalksteinbruch, die man unbedingt gesehen haben muss. Die man als herkömmlicher Tourist nur schwer finden würde und so luden sie mich in ihren Allrad und wir brausten durch die Wälder, zweiggepeitschten Außenspiegels über Stock und Stein bis zu einem Parkplatz, wo einige Autos standen. Die Wagen der Kenner, die von dem kleinen See wissen, den man die letzten hundert Meter nur zu Fuß durch einen Hohlweg erreicht. Zwei Marinetaucher, ein Paar, das dort übernachtet hatte und wunderbares smaragdgrünes Wasser, klar bis fast zum sieben Meter tiefsten Punkt. Frau SoSo, die keine Lust hatte, das morgendliche Zeltpacken durch den Abstecher zu unterbrechen, übernimmt derweil das Zusammenpacken von Zeltlager und Küche. Ewig gedankt seis ihr. Aber die Sache war stimmig. Jeder in seinem Flow. Herr Irgendlinks auf smaragdgrüne Seen fixiertes Ich im Einklang mit Frau SoSos Frühmorgenflow. Als Lohn gibt es die Koordinaten des Sees inklusive einer eingebrannten Wegbeschreibung in Herrn Irgendlinks Hirnwindungen. Falls man mal wieder kommen würde (das werden wir bestimmt, hoffentlich) und die Aussicht auf ein kühles Bad in dem Kleinod.Ulfon und Ingeå kommen aus Lindesberg, nur etwa anderthalb Mil entfernt, also anderthalb schwedische Meilen, das sind 15 Kilometer von Uskavigården. Der schwedische Muttertag ist am heutigen Sonntag und den wollen sie mit den Kindern, die noch anreisen, auf dem Zeltplatz gediegen feiern. Dass sie beide in den schlimmsten Knästen Schwedens, also den Knästen mit den bösesten Verbrechern des Landes gearbeitet haben, erfahre ich und dass sie es zu schätzen wissen, wenn man ihnen, fremd, irgendwo auf der Welt Tipps zu schönen Flecken gibt und dass sie deshalb auch gerne Tipps geben. Und das brenne ich mir mal ins Hirn: immer schön Fremden sagen wo es schön ist.
Der Swampen ist ein ehemaliger Wasserturm, in dessen Bassin sich nun ein Restaurant befindet und auf dessen Rand hoch oben man auf einem Rundkurs die ganze Stadt und das Umland überblickt. An den Glasballustrade sind Infotafeln über die wichtigsten Gebäude der Stadt angebracht und über die Kilberge nordöstlich. Piktogramme zeigen die Umrisse der Sehenswürdigkeiten. Besonders spannend lockt eine Ölschieferhalde südlich. Der zig Kilometer entfernte künstliche, runde Hügel ist wie die Halden im Saarland ein Relikt aus alten Zeiten, als die Minen noch in Betrieb waren. Heute ist dort Kunst. Leider liegt er nicht auf dem Weg, der uns südwestlich Richtung Göteborg führen wird.
Nach dem kreisrunden virtuellen Stadtspaziergang begeben wir uns runter ins Echt. Wo wir 2015 ein von Kunstwerken gespicktes Städtchen erlebeten, der Biennale Open Art sei Dank, flanieren wir heuer durch ein ganz normales Samstags-Örebro. Erstaunlich, was so ein bisschen Straßenkunst oder auch nicht für einen Unterschied macht. Samstagsstadt voller Menschen. Zunächst fällt uns eine Gruppe unisono gekleideter Mädels auf, die eine Braut im Gepäck haben. Jungesellinenabschied, diagnostiziert Frau SoSo. Rings ums Schloss wandern wir, nehmen in einem Kiosk ein Softeis und vor der Tür sitzt ein Bettler, dem ich zwei Münzen in die verkrüppelte Hand drücke und dabei schießt mir mein Fehler in den Sinn: du hättest aufs Eis verzichten können und ihm die dreißig Kronen geben sollen. Nicht dass ich mich deswegen schäbig fühle, aber dennoch, ein Denkanstoß: Verzicht um des Wohls des Mitmenschen willen, der zerlumpt vor dir auf der Straße bettelt. Ich nehme den Gedanken mit ins Seelengepäck und lasse mir das dahinschmelzende Etwas dennoch schmecken.
Villu Jaanisoos schwarze Gummiente steht noch immer in einem Brunnen. Ein gut zwei Meter hohes Gummientchen (den swarte Gummiantan), das von der Open Art 2013 stehen geblieben ist. Ich liebe die Skulptur, die wulstig aus alten Autoreifen mittels hunderter Schrauben zusammengefügt wurde. Für mich eines der Wahrzeichen der Stadt. Im flachen Brunnen spielen Kinder. Tausend Augen folgen uns in einem Park, indem ganz bestimmt ein Drogenumschlagplatz ist. Etwas mulmig, immer wieder über die Schulter blickend, ob einem jemand folgt. Weiter zum Hintereingang des Schlosses. Dort wird das ganze Ausmaß alltäglichen Heiratens offenbar. Etliche Hochzeitsgästegruppen flanieren über die Brücken, fotografieren, verewigen multiple schönste Tage des Lebens. Fast wirkt es so, als sei das Schloss eine Art Heiratsmaschine: vorne gehen die Hochzeitsgäste rein und hinten kommen sie mitsamt frisch getrautem Brautpaar wieder heraus. Wie bei den in Schweden so beliebten Minigolfanlagen, in denen man die Bälle bei manchen Bahnen durch Häuschen oder Nachbildungen von Sehenswürdigkeiten spielen muss. Der rote Golfball, frisch vermählt mit dem blauen, möglichst mit wenigen Schägen ins finale Loch.
Bei genauerem Hinsehen sind nicht nur fertige Brautgesellschaften unterwegs, sondern auch diverse Jungesellenabschiede, bei denen die zu Trauenden peinliche Prüfungen ablegen müssen. Eine Braut etwa, die unter den Augen ihrer Freundinnen irgendwas, was sie in der Hand trägt versucht, einem bärbeißigen Kerl anzudrehen: ein Kondom? Der Typ lehnt ab und sie wirft das Etwas in den nächsten Mülleimer. Schlimmer trifft es einen armen Kerl, der baren Oberkörpers mit blonder Perücke und einem Wickingerhelm in Schwedenfarben von seinen Kumpels flankiert wird. Er wirkt recht apathisch, als sie die Brücke betreten. Die Kumpels tragen würdevoll schwarze T-Shirts mit der Aufschrift 11. Der arme Kerl ist vielleicht schon betrunken. Hoffentlich! Denn auf der Brücke packen ihn drei seiner Freunde und wuchten ihn übers Geländer hinein in den Fluss, der das Schloss umschließt.
Wenn ich Jungesellenabschied feiern würde (müsste), ich käme nicht auf so viele Freunde, denke ich. Ich bin wohl ziemlich entwurzelt. Eigentlich fällt mir nur ein einziger Freund ein, der mich beim Junggesellenabschied begleiten könnte. Und der würde mich nicht über eine Brücke in den Fluss werfen.
In Frankreich habe ich einmal in einem Dorf in Burgund einen Typen im Tauchanzug gesehen. Mit Schnorchel und Neopren und sooo langen Flossen, der die Autos der Vorbeifahrenden waschen musste. Seltsam diese Menschen.
Nein. Ich bin seltsam, wird mir bewusst. So richtig dazu gehört habe ich nie. Vielleicht habe ich deshalb so viel Energie dafür, daneben zu stehen und zu beobachten? Ich Voyeur, ich.
Wir quartieren uns auf dem Campingplatz Gustafsviken in Örebro ein. Genau wie 2015 auf dem Weg ans Nordkap, stellen wir unser Zelt auf den Hügel am Ende des Platzes unter Kiefern, schön schattig. It is hot, it is very hot. Nur zehn Kronen teurer als vor drei Jahren ist der riesige Campingplatz. Aber die gute Sitte, freien Eintritt ins nebenan liegende Spaßbad Lost City zu haben, wurde abgeschafft. Man erhält nur noch eine freie Eintrittskarte für das fünfzig Meter lange Schwimmbecken mit den bis zehn Meter hohen Sprungtürmen. Der Bereich zur verwunschen Stadt zwischen künstlichem Basalt und Palmen und Kletterfelsen, die von drei Riesenrutschbahnen gekrönt werden, ist mit einer Barriere verschlossen, deren Drehkreuze einen nur durchlassen, wenn man mit seinem elektronischen Armband die Berechtigung hat. Laut piepst die Anlage, als Frau SoSo testet, ob sie rein kommt.
Schwimmen also. Während nebenan das Spaßvolk in den hunterte Meter langen Röhren jauchzt.
Da der Bademeister jedoch neben seiner Kabine einen Bypass hat und vergessen hat, das rote Band aufzuhängen, schlüpfe ich kurz vor Ladenschluss hindurch. Ich Adam im Paradies piscinären Wunderdaseins, ich. Niemand bemerkt mich. Dennoch habe ich ein schlechtes Gewissen und grübele darüber, dass es mit den neumodischen Trackern eigentlich gut möglich wäre, den Aufenthaltsort eines jeden Gastes zu ermitteln. Herr Irgend, gefallener Engel aller badespaßigen Verlockungen, befindet sich in Rutschbahn drei, kurz vor dem Teufelskreisel. Schaltet den Schredder ein! Gerade will ich mich warmrutschen auf einer der kleineren Bahnen ohne Gummireifen. Die Größeren betritt man nämlich mit riesigen Reifen, in die man sich abwärts schmiegt, da steht schon der Bademeister unten vor dem Becken – nicht wie ich befürchte, weil man Adam, moi même, der in den Apfel biss, getrackt hat, sondern weil das Bad schon schließt.
Auch die Umgebung des Platzes hat sich in den letzten drei Jahren verändert. Neben unserem Zelt ist ein neuer Stadtteil gewachsen mit schönen Wohnhäusern, manche noch im Bau. Adieu grüne Wiese.
Die Wehmut des vergangenen ersten Mal, das sich nie nie nie wiederholen lässt, weil sich die Welt ändert, überkommt mich gerade. Ich weiß nicht, ob ich noch einmal hierher komme. Der Weg ist weit und teuer und die Wiederkehr konfrontiert einen unweigerlich mit den oftmals verklärten Erinnerungen und etwas, das einmal so war und wiederkehrt kann nie wieder genauso empfunden werden wie beim ersten Mal.
Die Ölschieferhalde sechzig Kilometer entfernt, die werde ich mir vielleicht anschauen, wenn es ein nächstes Mal gibt.