Ich Adam im Paradies piscinären Wunderdaseins | #kursnord

Schweizer Aufzug, acht Personen, 52 Meter, nur ein Knopf mit der Aufschrift ‚Upp‘, also aufwärts. Bei Neptun des Planetenpfads, der sich vom Zentrum Örebros Richtung Nordosten windet, erreichen wir die Stadt. Ohne unsere Zeltplatznachbarn in Uskavigården, die uns morgens in ein Schwätzchen verwickelten, wären wir womöglich nicht auf die Idee gekommen, zu dem blassen, pilzähnlichen alten Wasserturm zu fahren und uns die Stadt von oben anzuschauen. Ulfon und Ingeå und ihr Hund Nala luden mich morgens auf eine kurze Spritztour in den Wald nahe des Uskavisees ein. Dort gäbe es eine grüne Lagune in einem alten Kalksteinbruch, die man unbedingt gesehen haben muss. Die man als herkömmlicher Tourist nur schwer finden würde und so luden sie mich in ihren Allrad und wir brausten durch die Wälder, zweiggepeitschten Außenspiegels über Stock und Stein bis zu einem Parkplatz, wo einige Autos standen. Die Wagen der Kenner, die von dem kleinen See wissen, den man die letzten hundert Meter nur zu Fuß durch einen Hohlweg erreicht. Zwei Marinetaucher, ein Paar, das dort übernachtet hatte und wunderbares smaragdgrünes Wasser, klar bis fast zum sieben Meter tiefsten Punkt. Frau SoSo, die keine Lust hatte, das morgendliche Zeltpacken durch den Abstecher zu unterbrechen, übernimmt derweil das Zusammenpacken von Zeltlager und Küche. Ewig gedankt seis ihr. Aber die Sache war stimmig. Jeder in seinem Flow. Herr Irgendlinks auf smaragdgrüne Seen fixiertes Ich im Einklang mit Frau SoSos Frühmorgenflow. Als Lohn gibt es die Koordinaten des Sees inklusive einer eingebrannten Wegbeschreibung in Herrn Irgendlinks Hirnwindungen. Falls man mal wieder kommen würde (das werden wir bestimmt, hoffentlich) und die Aussicht auf ein kühles Bad in dem Kleinod.Ulfon und Ingeå kommen aus Lindesberg, nur etwa anderthalb Mil entfernt, also anderthalb schwedische Meilen, das sind 15 Kilometer von Uskavigården. Der schwedische Muttertag ist am heutigen Sonntag und den wollen sie mit den Kindern, die noch anreisen, auf dem Zeltplatz gediegen feiern. Dass sie beide in den schlimmsten Knästen Schwedens, also den Knästen mit den bösesten Verbrechern des Landes gearbeitet haben, erfahre ich und dass sie es zu schätzen wissen, wenn man ihnen, fremd, irgendwo auf der Welt Tipps zu schönen Flecken gibt und dass sie deshalb auch gerne Tipps geben. Und das brenne ich mir mal ins Hirn: immer schön Fremden sagen wo es schön ist.

Der Swampen ist ein ehemaliger Wasserturm, in dessen Bassin sich nun ein Restaurant befindet und auf dessen Rand hoch oben man auf einem Rundkurs die ganze Stadt und das Umland überblickt. An den Glasballustrade sind Infotafeln über die wichtigsten Gebäude der Stadt angebracht und über die Kilberge nordöstlich. Piktogramme zeigen die Umrisse der Sehenswürdigkeiten. Besonders spannend lockt eine Ölschieferhalde südlich. Der zig Kilometer entfernte künstliche, runde Hügel ist wie die Halden im Saarland ein Relikt aus alten Zeiten, als die Minen noch in Betrieb waren. Heute ist dort Kunst. Leider liegt er nicht auf dem Weg, der uns südwestlich Richtung Göteborg führen wird.

Nach dem kreisrunden virtuellen Stadtspaziergang begeben wir uns runter ins Echt. Wo wir 2015 ein von Kunstwerken gespicktes Städtchen erlebeten, der Biennale Open Art sei Dank, flanieren wir heuer durch ein ganz normales Samstags-Örebro. Erstaunlich, was so ein bisschen Straßenkunst oder auch nicht für einen Unterschied macht. Samstagsstadt voller Menschen. Zunächst fällt uns eine Gruppe unisono gekleideter Mädels auf, die eine Braut im Gepäck haben. Jungesellinenabschied, diagnostiziert Frau SoSo. Rings ums Schloss wandern wir, nehmen in einem Kiosk ein Softeis und vor der Tür sitzt ein Bettler, dem ich zwei Münzen in die verkrüppelte Hand drücke und dabei schießt mir mein Fehler in den Sinn: du hättest aufs Eis verzichten können und ihm die dreißig Kronen geben sollen. Nicht dass ich mich deswegen schäbig fühle, aber dennoch, ein Denkanstoß: Verzicht um des Wohls des Mitmenschen willen, der zerlumpt vor dir auf der Straße bettelt. Ich nehme den Gedanken mit ins Seelengepäck und lasse mir das dahinschmelzende Etwas dennoch schmecken.

Villu Jaanisoos schwarze Gummiente steht noch immer in einem Brunnen. Ein gut zwei Meter hohes Gummientchen (den swarte Gummiantan), das von der Open Art 2013 stehen geblieben ist. Ich liebe die Skulptur, die wulstig aus alten Autoreifen mittels hunderter Schrauben zusammengefügt wurde. Für mich eines der Wahrzeichen der Stadt. Im flachen Brunnen spielen Kinder. Tausend Augen folgen uns in einem Park, indem ganz bestimmt ein Drogenumschlagplatz ist. Etwas mulmig, immer wieder über die Schulter blickend, ob einem jemand folgt. Weiter zum Hintereingang des Schlosses. Dort wird das ganze Ausmaß alltäglichen Heiratens offenbar. Etliche Hochzeitsgästegruppen flanieren über die Brücken, fotografieren, verewigen multiple schönste Tage des Lebens. Fast wirkt es so, als sei das Schloss eine Art Heiratsmaschine: vorne gehen die Hochzeitsgäste rein und hinten kommen sie mitsamt frisch getrautem Brautpaar wieder heraus. Wie bei den in Schweden so beliebten Minigolfanlagen, in denen man die Bälle bei manchen Bahnen durch Häuschen oder Nachbildungen von Sehenswürdigkeiten spielen muss. Der rote Golfball, frisch vermählt mit dem blauen, möglichst mit wenigen Schägen ins finale Loch.

Bei genauerem Hinsehen sind nicht nur fertige Brautgesellschaften unterwegs, sondern auch diverse Jungesellenabschiede, bei denen die zu Trauenden peinliche Prüfungen ablegen müssen. Eine Braut etwa, die unter den Augen ihrer Freundinnen irgendwas, was sie in der Hand trägt versucht, einem bärbeißigen Kerl anzudrehen: ein Kondom? Der Typ lehnt ab und sie wirft das Etwas in den nächsten Mülleimer. Schlimmer trifft es einen armen Kerl, der baren Oberkörpers mit blonder Perücke und einem Wickingerhelm in Schwedenfarben von seinen Kumpels flankiert wird. Er wirkt recht apathisch, als sie die Brücke betreten. Die Kumpels tragen würdevoll schwarze T-Shirts mit der Aufschrift 11. Der arme Kerl ist vielleicht schon betrunken. Hoffentlich! Denn auf der Brücke packen ihn drei seiner Freunde und wuchten ihn übers Geländer hinein in den Fluss, der das Schloss umschließt.

Wenn ich Jungesellenabschied feiern würde (müsste), ich käme nicht auf so viele Freunde, denke ich. Ich bin wohl ziemlich entwurzelt. Eigentlich fällt mir nur ein einziger Freund ein, der mich beim Junggesellenabschied begleiten könnte. Und der würde mich nicht über eine Brücke in den Fluss werfen.

In Frankreich habe ich einmal in einem Dorf in Burgund einen Typen im Tauchanzug gesehen. Mit Schnorchel und Neopren und sooo langen Flossen, der die Autos der Vorbeifahrenden waschen musste. Seltsam diese Menschen.

Nein. Ich bin seltsam, wird mir bewusst. So richtig dazu gehört habe ich nie. Vielleicht habe ich deshalb so viel Energie dafür, daneben zu stehen und zu beobachten? Ich Voyeur, ich.

Wir quartieren uns auf dem Campingplatz Gustafsviken in Örebro ein. Genau wie 2015 auf dem Weg ans Nordkap, stellen wir unser Zelt auf den Hügel am Ende des Platzes unter Kiefern, schön schattig. It is hot, it is very hot. Nur zehn Kronen teurer als vor drei Jahren ist der riesige Campingplatz. Aber die gute Sitte, freien Eintritt ins nebenan liegende Spaßbad Lost City zu haben, wurde abgeschafft. Man erhält nur noch eine freie Eintrittskarte für das fünfzig Meter lange Schwimmbecken mit den bis zehn Meter hohen Sprungtürmen. Der Bereich zur verwunschen Stadt zwischen künstlichem Basalt und Palmen und Kletterfelsen, die von drei Riesenrutschbahnen gekrönt werden, ist mit einer Barriere verschlossen, deren Drehkreuze einen nur durchlassen, wenn man mit seinem elektronischen Armband die Berechtigung hat. Laut piepst die Anlage, als Frau SoSo testet, ob sie rein kommt.

Schwimmen also. Während nebenan das Spaßvolk in den hunterte Meter langen Röhren jauchzt.

Da der Bademeister jedoch neben seiner Kabine einen Bypass hat und vergessen hat, das rote Band aufzuhängen, schlüpfe ich kurz vor Ladenschluss hindurch. Ich Adam im Paradies piscinären Wunderdaseins, ich. Niemand bemerkt mich. Dennoch habe ich ein schlechtes Gewissen und grübele darüber, dass es mit den neumodischen Trackern eigentlich gut möglich wäre, den Aufenthaltsort eines jeden Gastes zu ermitteln. Herr Irgend, gefallener Engel aller badespaßigen Verlockungen, befindet sich in Rutschbahn drei, kurz vor dem Teufelskreisel. Schaltet den Schredder ein! Gerade will ich mich warmrutschen auf einer der kleineren Bahnen ohne Gummireifen. Die Größeren betritt man nämlich mit riesigen Reifen, in die man sich abwärts schmiegt, da steht schon der Bademeister unten vor dem Becken – nicht wie ich befürchte, weil man Adam, moi même, der in den Apfel biss, getrackt hat, sondern weil das Bad schon schließt.

Auch die Umgebung des Platzes hat sich in den letzten drei Jahren verändert. Neben unserem Zelt ist ein neuer Stadtteil gewachsen mit schönen Wohnhäusern, manche noch im Bau. Adieu grüne Wiese.

Die Wehmut des vergangenen ersten Mal, das sich nie nie nie wiederholen lässt, weil sich die Welt ändert, überkommt mich gerade. Ich weiß nicht, ob ich noch einmal hierher komme. Der Weg ist weit und teuer und die Wiederkehr konfrontiert einen unweigerlich mit den oftmals verklärten Erinnerungen und etwas, das einmal so war und wiederkehrt kann nie wieder genauso empfunden werden wie beim ersten Mal.

Die Ölschieferhalde sechzig Kilometer entfernt, die werde ich mir vielleicht anschauen, wenn es ein nächstes Mal gibt.

Eine Stimulation der Schwedenkrimimordgemetzel-Synapsen | #kursnord

Ist das Blut in den beiden Abläufen der Dusche? Wie zwei Augen ins Nichts liegen die Mulden in den beiden äußeren Drittelspunkten der Männerdusche auf dem Campingplatz Uskavigården. Ich bin nicht willens, es genauer zu untersuchen und suche mir auf den Fließen einen erhöhten Punkt, möglichst nicht mit dem roten Zeug in Berührung kommen. Vorhänge trennen die Zellen. Das Strahlwasser ist nicht in der Lage, das Rot auszuwaschen. Vielleicht gehört es zum Inventar? Der Campingplatz ist so gut wie leer. Im vorderen Bereich sind vielleicht drei vier Wohnwagen belebt. Hier hinten auf der Zeltwiese direkt am See sind wir alleine.Vier Inselchen liegen im Wasser und direkt am Ufer noch ein Stein, hinter dem sich die winzigen Wellen für ein paar Quadratmeter zu einem oszillierenden Etwas formen. Wie bei den alten Plattenspielern, an denen man mittels Strichmarken am Plattenteller und Geschwindigkeitsregler die exakte Drehzahl einstellen konnte, um ein möglichst perfektes Klangergebnis zu erzielen.

Vier Birken. Eine abgebrochen, eine mit einer grausamen senkrechten Narbe wie von einem Blitzschlag. Ich muss an Falun denken 2015. Das Ferienhaus, in das wir uns eingemietet hatten mit feinem Stahlkamin. Das Gewitter über der hügeligen Seelandschaft. Dass es unwahrscheinlich ist, dass man vom Blitz getroffen wird. Dass es plötzlich ‚zack‘ machte und die Funken vom Stahlrohr in den Raum sprühten und nocheinmal zack und wir saßen – unversehrt, zum Glück, draußen auf der Treppe vorm Häuschen unter dem Vordach, als ob das etwas schützen würde. Die Gewissheit, dass der Blitz nicht noch einmal an der selben Stelle einschlagen würde …

Über die 84, die 50, die E16 und wieder die 50 haben wir uns gestern hier herunter geschafft. Vielleicht 350 Kilometer südwestwärts. Unendlich langsam. Unendlich behäbig tuckerte das Auto mit 60 bis 90 km/h über die breiten Straßen. Keine Eile, keine Drängler, ein zivilisierter Ministau außerhalb Faluns. Badeseen en masse. Das ist eine der schwedischen Besonderheiten: überall am Straßenrand zeigen Symbole ‚Badplatse‘ an, fein gemachte, gepflegte Badestellen mit Picknick-Bank, Umkleidekabine, Feuerstelle, Steg. In der Hochsaison hängt am Ende der Stege oft ein Thermometer, das die aktuelle Wassertemperatur anzeigt. Jetzt noch nicht. Die Badestelle, die wir für die Mittagspause ansteuern, ist gleichzeitig auch ein Naturcampingplatz der Gemeinde. An der Umkleidekabine hängt eine Symboltafel: Zelten kostet 50 Kronen, Wohnmobil oder Wohnwagen 100. Daneben eine hölzerne Kasse, in die man auf Treu und Glauben das Geld wirft. Es gibt einen Wasserhahn und eine Trockentoilette und viel Wiese und eben den Badeplatz. Stille inklusive.

Uskavigården war schon 2015 für etwa fünf Tage unser kleines Paradies. Wandernd und mit Leihrad vom Camping erkundeten wir die Gegend um Guldmedshyttan, unweit von Nora, ganz in der Nähe von Lindesberg, grob gesagt etwa 200 Kilometer westlich von Stockholm, nördlich von Berlin.

Ich scherze gerne mit den Kilometern und Ortslagen. Obschon es sicher dem Ortsunkundigen hilft, wenn man sich im Zwiebelschichtprinzip vom kleinsten Weiler hochhangelt zu immer größeren Städten und geografischen Lagen. Ein paarhundert Kilometer sind in Schweden ohnehin so gut wie nichts. Ganz im Norden, in Lappland, kann es einem passieren, dass man ein zwei Stunden fahren muss mit dem Auto, ehe die nächste Siedlung ‚mit Alles‘ auftaucht. Tankstelle inklusive. Wenn man dann noch in Betracht zieht, dass in dieser vorsaisonalen Jahreszeit an den vom Winter geschundenen Straßen noch gebaut wird, man zehn, zwanzig, dreißig Kilometer über derben Schotter fahren muss und, mit dem deutschen Flachstraßen-Gen gesegnet, sich kaum traut, schneller als dreißig Kilometer zu fahren, voilà Tagesetappe.

Die Mitte der Tour ist gekrönt von Bummeligkeit, Dahintreiben, Nichtswollen. Ein sehr angenehmer Zustand, in dem sich Raum und Zeit auflöst, der Alltag sich völlig auflöst, es keine Behördendrangsale per Brief gibt und nur ein leises Hintergrundrauschen in Form von Emails erinnert einen hin und wieder an die staatsbürgerlichen Pflichten. Mitglied einer Gesellschaft zu sein. Ihren Gesetzen und Normen zu genügen. Massenhaft prasseln Newsletterbestätigungsnachfragen herein. Ich werde die Newsletter alle verlieren, weil ich außer Dienst bin.

Stattdessen: fast hätten wir nackt gebadet auf dem Badplatz am gestrigen Nachmittag. Ich glaube, das ist in Schweden auf Badplätzen zwar tabu, aber man könnte. Da niemand ist. Kurz vorm Wassergang kam jedoch eine Familie, und naja, vor den Kindern will man ja kein schlechtes Beispiel geben und Badehose schadet ja auch nicht.

Uskavigården ist ein Anglerparadies. Im Aufenthaltsraum des Servicehauses surren zwei Gefrierschränke, in die die Beute eingelagert werden kann. Es gibt eine Art Wohnzimmer mit schön vertäfelten Holzwänden, Sofa, Fernsehgerät, Bücherregal. Küche mit vier Elektroherden und Spülgelegenheiten. das ist standard in Schweden. Falls man einmal eine Mieswetterpassage erleben sollte, ist man dafür auch sehr dankbar. Besonders als Radler oder Wanderer. Der Sverigeleden, Schwedens nationales Fernradnetz führt direkt am Platz vorbei und auch der über hundert Kilometer lange Wanderweg Bergslagsleden.

Zurück zur Dusche: als ich morgens ins Waschhaus eintrete, ist es frisch geputzt. Alle Grashalme, die man vom frisch gemähten Zelplatz hereinschleppte sind weg und auch die roten Flecken um die Duschabläufe. Ich hatte recht mit meiner Vermutung: jemand hat seinen frischen Fang ausgewaschen und das ist ja im Prinzip auch ein kleines Sakrileg, also sowas zu tun und bei ahnungslosen Touristen die Schwedenkrimimordgemetzel-Synapsen zu stimulieren.

Wie so ein wetten-dassischer Baggerführer | #kursnord

Das tat weh. Der gestrige, gelöschte Blogartikel. Selten war ich um den Verlust eines Textes trauriger. Es war einer der beiden Kerntexte unseres gemeinsamen Kursnord-Blogbuches. Meines Teils des Buches, denn Frau SoSo tut ihr übriges in ihrem Blog. Sie bloggt sogar täglich. Vermutlich ergänzen wir einander gut.Ein simpler Copy-und-Paste-Fehler hatte dazu geführt, dass der Artikel, an dem ich eine gute Stunde geschuftet hatte, mit dem Großbuchstaben G überschrieben wurde. Ich pflege meine Blogartikel zunächst mittels Bluetooth-Tastatur in die Notizbuch-App des iPhones zu hacken, grob und voller Tippfehler. Zudem muss ich in diesem zweiten Arbeitsschritt nicht nur die Tippfehler eliminieren, sondern mit abgekoppelter Tastatur die skandinavischen Umlaute, die ich auf der Tastatur nicht finde und andere Sonderzeichen über den Smartphonebildschirm in den Text streicheln. So weit so gut. Dann kommt der nächste Schritt: alles auswählen und den aufpoppenden Dialog Kopieren antippen, um es in die WordPress-App zu fügen. Der Kopieren-Dialog taucht manchmal nicht auf, weshalb ich auf dem Bildschirm herumtippte, in der aufpoppenden Tastatur das große G traf, statt direkt zu widerrufen irgendwas hektisch Unkoordiniertes machte et voilà la misère.

Das mitten im Idyll unseres Zeltplatzes unter lau beschatteten Kiefern an einer feinen Picknick-Bank, Kaffee schnurgelte auf dem Trangia, alles perfekt … so knapp, sagte ich, sooo knapp und mache dazu eine Geste mit Daumen und Zeigefinger, war der Artikel davor, in die WordPress-App kopiert und mit einem Titel versehen veröffentlicht zu werden. Sogar den Titel hatte ich schon aus dem Fließtext auserkoren. Das mache ich oft, dass ich den Titel eines Artikels mittels intuitiver Suche irgendwo im Artikel finde. Meist steht er im unteren Drittel. Wegen der Dramaturgie.

Wie man sieht, habe ich den Artikel noch einmal geschrieben, während Frau SoSo die häuslichen Arbeiten übernahm, das Zeltlager zusammen räumte, mir gnädiger Weise ihre Tastatur lieh, da meine – verflixtes HP-geplante-Obsoleszenz-Drecksding – obendrein noch den Geist aufgegeben haben schien und kein E mehr ausgab. Gestern hatte sich alles gegen mich verschwor: irgendwo an einem Nagel mit der schlabbernden Hose hängen geblieben, beim Geschirrspülen geschusselt, Tassen zu Boden geworfen. Das sind die Tage, an denen man ganz vorsichtig sein sollte und bloß keine Kettensäge anwerfen … dachte ich und kniete mich rein, den Artikel zu rekonstruieren. Man sieht (im vorigen Beitrag), es geht solala. Aber ich stelle fest, dass er etwas holprig geworden ist. Den Weg im Kopf zum zweiten Mal zu gehen ist fast unmöglich. Ich glaube, es nennt sich Schreibflow. Man merkt es einem Text durchaus an, ob er im Flow geschrieben wurde, oder ob man ihn, wie auf einer Landkarte in einer Art Verbinde-die-Punkte-Spiel rekonstruiert, nachgezeichnet hat. Denn die Eckpunkte waren ja allesamt noch da. Ich wusste, woüber ich schreiben musste, bloß die eleganten Wortketten wollten nicht mehr wiederkehren, die mir manchmal – einfach so – in den Sinn kommen. Erst gegen Ende des Artikels, als ich vom gezwungenermaßen zu rekonstruierenden Thema abschweifte, spürt man wieder den Flow.

Vielleicht bin ich nur gut in der Direkten, dachte ich später, als wir auf der E4 gen Süden brausten. Die Straße ist oft tief eingeschnitten in den eiszeitlichen Fels, so dass oft hohe Felswände emporragen, über denen sich das ewig ungetrübte skandinavische Himmelsblau trübt. Direkt wie diese Straße. Direkt wie die Bauarbeiter, die sie einst bauten. Wie ein grober Baggerführer, der in einer verrückten Achtziger-Jahre-Wetten-Dass-Schnapsideen-Wette mit der derben, tonnenschweren Baggerschaufel ein Frühstücksei köpft, so bin ich im ersten direkten Schreiben. Wie die stoischen Fichten … Abfahrt Hoga-Kusten-Brücke. Sie sieht ein bisschen aus wie die Golden-Gate-Brücke. Nur nicht so lang, nicht so rot, nicht so sanfranziskoisch melancholisch nebelumwabert – if you are going to Hogaaa Kusten, summt es in meinem Ohr und schon biegen wir ab, unterqueren die Brücke, fahren hinauf zum Parkplatz, wo ein Hotel, ein Infozentrum, ein Wohnmobilparkplatz und eine Butik lauern. Souvenirs kaufen, Softeis essen. Das erste für diese Ferien übrigens und die Frau am Eisstand sagt, sie haben erst gestern die Softeismaschine in Betrieb genommen und schon beginne ich eine Verschwörung zu wittern, das Anti-Midsommerfest am 22. Mai, wenn die Softeismaschinen auf einen Countdown hin in ganz Schweden angestellt werden, aber das ist natürlich quatsch. Wie so ein wetten-dassischer Baggerführer, ja, genau, so ist mein Hirn, wenn es anfängt Blogartikel zu denken und den willfährigen Fingern geheißt, das Gedachte in Worte umzusetzen und das ist dann der Flow, da kannste bei der Brücke stehen und darüber schreiben, wie du in den Souvenirsshop gehst, eine Postkarte kaufst, Salzlakritze und irgendwelche Dinge zum Herschenken und gleichzeitig in einem Nebensatz zurückkehren zu deinem Baggerführer, der das Ei köpft, ha, mehr noch, Wetten Dass war ein Dreck dagegen: mein Schreibflow-Baggerführer nimmt noch genüsslich einen Löffel und einen Salzstreuer und führt sich das wachsweich gekochte Hühnerprodukt zu Munde.

Die E4 nördlich von Sundsvall ist ein zwei- bis dreispuriges Etwas, das man in den Fels gehauen hat, um möglichst wenige Steigungen zu haben und das auf Brücken die oft weit ins Land führenden Fjorde überbrückt. Meist sieht man nur Wald und Fels und Brücken und andere Autos, Wohnmobile und LKW. Und Radarkontrollen. Das sind längliche, meterhoch aufragende Dinger mit dunkelblauem Rand, einer Kamera und einem Blitz. Sie werden grundsätzlich 200 Meter vorher angekündigt. So fahren wir Richtung Süden, vorbei an Timrå, wo ein riesiges Monument am Parkplatz des Indalsälven-Deltas lockt. Schießmichtot, ich komme gerade nicht auf den Namen des Künstlers, an dessen Stil es mich erinnert. Sagen wir Picasso. Ist immer gut. Weiter über eine Brücke über Sundsval und später biegen wir ab nach Bergsjö, um einen Campinplatz zu finden, auf dem wir 2010 waren. Geführt von einem uralten Jazzmusiker mit Nierenproblemen. Aber den Platz gibt es nicht mehr (oder wir finden ihn nicht – vergiss nie, deine alten Tourbücher einzupacken). Dennoch, nach acht Jahren ist es gut möglich, dass die alten Leutchen, die den Platz am See betrieben haben, aufgegeben haben oder gar schlimmeres.

Schon spät manövriert uns Frau SoSo durch die Wälder westwärts zu einem Alternativplatz in Ljusdal. Direkt der Sonne entgegen wie zwei Westernhelden, die am Ende des Films in den Sonnenuntergang reiten.

Was mein Hirn betrifft, so hat es diesen Artikel heute Morgen direkt nach dem Aufwachen schon einmal geschrieben. Fluffig leichtes Etwas von Text inklusive eines gedachten Schichtenmodells, in dessen Kern eben es selbst steht, das denkende Hirn am zu schreibenden Text, der aber nicht geschrieben wird, weil das Hirn ja denkt und erlebt und die Arme noch müde sind und die Technik zu schreiben nicht vorhanden und die zweite Schicht, diese hier, in der ich dies notiere, die ist auch noch gut. Der Flow. Nicht gut ist die dritte mögliche Schicht, einen schon einmal geschrieben Text zu rekonstruieren.

Jetzt bloß kein Copy und Paste-Fehler.

G

Ich schrieb in etwa: Acht Quadratmeter. Seit gut anderthalb Wochen ist das unser Heim. Alles, was das Herz begehrt haben wir zwischen den Doppelwänden des Zelts untergbracht. Schlaf- und Wohnzimmer und im Entré der geräumigen Apsis könnte man sogar Gäste empfangen.

Noch vor 20.000 Jahren lag an der Stelle eine drei Kilometer dicke Eisschicht, die mit 3.000 Tonnen pro Quadratmeter den Fels presste. Als die Eiszeit vorüber war und die Gletscher geschmolzen waren, begann sich das Land langsam zu heben. Und tut es noch immer. Wenn man einen LKW senkrecht stellen würde wie zum Beispiel das Kunstwerk mit den Bussen in Dresden, würden seine vierzig Tonnen just da, wo jetzt unser Zelt steht, Druck ausüben. 600 Stück müsste man übereinander Stapeln, um die 24000 Tonnen Gewicht zu simulieren (in der Annahme, ein LKW sei zehn Meter lang also sechs Kilometer hoch).

Seit vorgestern steht unser Zelt in dem weitläufigen Kiefernwäldchen des Campingplatzes nahe Norrdalsviken auf der Halbinsel Mjällom mitten im Welterbe Hohe Küste. Über die blankgewetzten Wurzeln der Kiefern haben wir das Auto bis zu einer Picknickbank manövriert. Gleich daneben eine Feuerstelle. Ein Idyll. Der Platz hat kaum Gäste. Wir haben ein eigenes WC und die Küche mit den vier Herden gehört uns quasi alleine, da die wenigen anderen Gäste autark in ihren Wohnwagen und Wohnmobilen leben.

Auf Mjällom befindet sich die größte Geröllhalde der hohen Küste, lese ich auf einer Infotafel. Seit viertausend Jahren hebt sich das Land. Jährlich entstehen neue Inseln. Eine Fläche von 150 Fußballfeldern hebt sich pro Jahr aus dem Meer, lese ich in einem Prospekt.

Mit verantwortlich, dass wir überhaupt hier sind, ist der Slåttdalsskrevan auf einer Halbinsel weiter nördlich im Naturreservat Skulekogen. In einer gestrigen Wanderung erkundeten wir das Kleinod.

Der Skuleskogen ist ideal geeignet für eine Privatisierung, falls Schweden einmal in eine ähnlich missliche Lage gelangen sollte wie Griechenland, twitterte ich.

Das etwa 20 Kilometer durchmessende, unzugängliche Stück felsige Natur hat nur drei Zugänge, die von kleinen Parkplätzen aus erreicht werden können: Nord, West und Süd. Von Osten schützt das Meer. Man müsste nur noch Kassenhäuschen aufstellen.

Aber noch kostet es keinen Eintritt (gegen Eintritt zum Wohle der Natur und der Gemeinschaft hätte ich auch nichts einzuwenden – bei Privatisierung und Raubkapitalisierung hingegen schon). Einen guten Kilometer wandert man durch dichten Kiefernwald auf Stegen aus fünfzig Zentimeter breiten Bretten dicht überm federnden, oft matschigen Boden. Vermutlich wird das Baumaterial für die Stege, die immer wieder auf den etwa drei Kilometern bis zum Slåttdalsskrevan zum Einsatz kommen, mit Hubschraubern eingeflogen und dann verlegt.

Geröllhalden mit runden, von Flechten bewachsenen Felsen wechseln mit massiven Platten und dichtem Wald ab. Das Gebiet hat alles, was das Wanderndenherz begehrt. Schroff trifft Soft und vermählt sich.

Der Slåttdalsskrevan ist das Filetstück des Naturreservats. Die Schlucht ist etwa hundert Meter lang, etwa zehn Meter breit. An den Quadern, die unten liegen, lässt sich erahnen, dass hin und wieder eine der senkrechten Platten vom Frost abgesprengt wird und hinabstürzt. Mit mulmigem Gefühl durchwandern wir das Kleinod. An manchen Stellen liegt noch Schnee. Oben auf den vielleicht dreißig Meter hohen Klippen stehen vereinzelt Fichten. Über die Nordroute klettern wir hinauf zum etwa 250 Meter hohen Ståttdalsberget-Plateau. Überall kreuchen zu Krüppeln geknechtet Fichten mit meterlangen Wurzeln, die über den Fels laufen, um sich irgendwo in einer Ritze zu vertiefen und dem Baum Halt zu geben.

Nach Norden ein Blick auf die vielen kleinen Inseln. Eine davon scheint noch ganz frisch. Winzig, weiß, ohne jeglichen Bewuchs. Wie sie wohl in zehn, fünfzehn, oder hundert Jahren aussieht, frage ich? Wir werden es nicht erfahren, sagt Frau SoSo, … Obwohl, vielleicht doch, wir können uns ja die Satellitenbilder anschauen, wenn wir dereinst, im Altersheim, perfekt zu einem kapitalisierten menschlich geriatrischen Gut geworden sind.

Schnitt.

Völlig verstümmelt, diese Geschichte. Ich schreibe sie zum zweiten Mal, nachdem ich bei einem dummen Copy & Paste Fahler die ursprüngliche Geschichte mit dem Buchstaben G überschrieben habe. Sitze im kühlen Wind im Halbschatten zwischen den Kiefern, weiß, was ich gerade verloren habe: jede Menge skurrlier Wortschöpfungen, die in Reihe geschaltet wunderbare Sätze ergeben haben. Von inseligen Inselchen war die Rede und ich glaube auch von landbrückigen Landbrücken, über die man hinaus gelangt an feinsandige Strände, an denen sich kleine Biwackhütten befinden. Das ganze war garniert mit einem Vergleich des Eisgletschers vor 20.000 Jahren und der Art wie wir leben, wie wir unsere Gesellschaft formen, wie sie tickt. Eigentlich eine recht simple Sache, die ich da beschrieb, aber in der direkten Poesie, die man nunmal nur einmal schafft, war der Blogartikel vemutlich ein ziemlich guter.

G wie gut.

Nach dem Aufschrei, ohneiiiin, ich hab den Blogartikel überschrieben, war die Enttäuschung erst einmal groß, aber es war auch klar, dass die Eckpfeiler immer noch da sind: Tonnenlast auf Zeltplatzflächengröße als bildlicher Vergleich mit den LKW, Seitenhieb zum Denkmal in Dresen, Schwenk vom wahren Geltscher zur selbstgebastelten Gletschermaschine des Kapitalismus, der eine Welt in Form von Scheinwerten erschafft, die tatsächlich und in echt auch funktioniert, ein kleines Wunder eigentlich, mit einem Seitenhieb darauf, dass eben dieses Raubtier namens Kapitalismus und Privatisierung, dessen Teil wir alle kollektiv auch sind, tonnenschwer hobelnd über uns hinwegfährt und nichts als menschliches Geröll hinterlässt und in 20.000 Jahren genauso passée sein wird wie der echte Gletscher. Mit finalem Schwenk ins Altersheim – ich habe versucht, den letzten Satz genauso wieder hinzuriegen, es ist mir nicht gelungen. Es endet jedenfalls damit, dass wir Menschen uns gegenseitig zu Melkvieh machen und bis zur Unkenntlichkeit verprodukten und es letzten Endes irgendwann kein einziges unbezahltes Ding mehr gibt, nichts mehr, dem der Mensch keinen Wert in Dollar oder Euro entgegenzusetzen wüsste. Selbst Streicheln, Küssen und Atmen würde irgendwann gerechnet und verhandelt werden … nein, das mit dem Streicheln, Küssen nd Atmen stand nicht in dem Artikel, denn dies ist ein ganz neuer Artikel, zwar nicht so brilliant wie der nativ geflossene erste, aber er mausert sich, seit ich aufgegeben habe, den ersten Artikel noch einmal möglichst genauso hinzukriegen wie einst gelöscht.

Mit Gerard ein paar Stufen auf der Treppe zu den Sternen | #kursnord

Drei Nächte an einem Ort. Nachdem wir seit einer guten Woche fast täglich den Standort wechselten und immer weiter nördlich fuhren. Härnösand. Kleine Stadt, Hafen. Fabrik. Gewerbegebiete. Direkt an der E4, die für Schweden ungefähr das ist, was die A7 oder die A5 für Deutschland. Pulsierende Nord-Süd-Ader.Der Campingplatz auf Terrassen über der Meersbucht wirkt nordisch karg, ist fast immer von Wind umspült. Hinter uns im Wald befindet sich ein Militärgelände, das wir gestern mit mulmigm Gefühl durchwanderten. Die Schranken der Wege, auf denen man die Spuren von Kettenfahrzeugen erkennen konnte, waren offen. Es waren zwar Schilder mit durchgestrichenen Fußgänger- und Skilanglaäufer-Piktogrammen an den Schranken angebracht, daneben aber auch weitere Schilder, auf denen auf schwedisch – wahrscheinlich – erklärt wurde, dass man nur dann nicht eintreten darf, wenn die Schranken unten sind. Trotzdem fühlten wir uns beobachtet. An den Wegkreuzungen gab es Straßennamenschilder: Granatsvägen, Handgrantsplats usw. Schöner Humor. Frau SoSo und ich spannen Geschichten, in denen wir von unsichtbaren Camouflage-Typen ins Visier genommen werden, rote Laserpunkte auf der Stirn. Zack. Den Schuss würden wir gar nicht hören, oder aber, eine Patrouille greift uns auf und wir werden verhört und man fleddert Kameras und Smartphones nach belastendem Material. Warum fotografieren Sie Hochsitze, Herr Irgendlink? All die Schilder und all das untouristische Zeug! Gestehen Sie endlich, Sie sind ein russischer Spion.

Nichts passierte.

Nachmittags stand Gerard vor unserem Zeltlager. Frau SoSo saß bloggend am Tisch und ich twitterte im Zelt. Ob ich da sei, fragte er, ich würde ihn bestimmt wieder erkennen, wenn er sich ausziehe. Am Abend zuvor hatten wir uns in der Campingplatzdusche kennengelernt, splitternackt zwischen zwei Duschvorhängen. Der Witz sitzt. Und nun vertieften wir unseren Smalltalk, gaben einander Namen: Angenehm Irgend, angenehm Heras (jaja, so ähnlich wird Gerard auf Holländisch ausgesprochen). Gerard ist 77 und tourt seit – schießmichtot, ich glaube – seit 18 Jahren durch Europa. Alle Länder mindestens einmal bereist, Schwerpunkt Spanien und Skandinavien. Über 280.000 Kilometer hat er zurückgelegt und gut 35.000 Seemeilen auf Fähren zwischen Patras und Norditalien und Island und Dänemark und Schootland und Norwegen und Santander und Enbland.

In aller Kürze erfahren wir viel über sein Leben: dass er mit 49 die Reißleine gezogen hat und vom Ingenieur zum Heiler geworden ist. Nach dreijähriger Ausbildung arbeitete er seither als eine Art engergetischer Heiler, der seine eigene Energie einsetzt, um anderen Menschen zu helfen, wenn sie das wollen. Einer der wenigen in den Niederlanden, die das Diplom bestehen, denn man muss seine Fähigkeiten in einer theoretischen und einer praktischen Prüfung nachweisen vor einer dreiköpfigen Prüfungskommission, die aus Psycholgen, Medizinern und anderen Heilern besteht. In Findhorn in Schottland hat Gerard eine Weile gelebt und südlich von London nahe dem Flughafen Gatwick hat er auf einem College für Geschichtenerzähler in einem dreimonatigen Seminar ein Diplom für Story Telling erworben. Story Telling nicht wie vielleicht neumodisch gebräuchlich mit viel Technik und Suchmaschinenoptimierungsbrimborium im Internet, sondern in ‚ech’t, auf einem Teppich sitzend, wahlweise verkleidet vor vielen echten, neugierigen Menschen. So mischt er Geschichten aus 1001 Nacht und der Bibel und allem, was ihm im Laufe der Zeit unter die Finger kam und komponiert daraus eigene Geschichten. Die Geschichte vom Ungeheuer, dem Baum und dem Felsen zum Beispiel. In Island aufgeschnappt, erzählte er sie vor Kindern, woraufhin sie ihm Bilder malten als Dank. Der Vierjährige malte ein Krikelkrakel, das einen Baum darstellere, die Siebenjährige malte das Ungeheuer und der Achtjährige malte eine Art Storyboard, die alle Elemente der Geschichte enthielten, inklusive Gerard auf seinem magischen Teppich in seiner orientalischen Verkleidung.

Obwohl wir nur kurze Zeit erzählten, gaben wir einander ziemlich viel preis und mit.

Eine brisante Frage drängt sich mir nun auf: wie es sich wohl anfühlen mag, völlig entwurzelt kreuz und quer durch Europa zu trudeln, jahrelang. Gerards selbst entworfenes Wohnmobil ist zwar bestens ausgestattet, und wenn es etwas größer wäre, wäre es weit komfortabler als meine heimische Künstlerbude, aber dieses Leben ohne festen Ort? Ohne Wurzeln, hätte ich beinahe gesagt, aber das stimmt ja nicht, die Wurzeln trägt man ja im Innern, dennoch, ohne materiell fixen Punkt auf der Erde, wie sich das anfühlt? Zudem im Herannahen des Todes, denn 77 ist ja schon ein recht hohes Alter, in dem viele Menschen schon im Altersheim fristen … Guter Gerard. Nun, da ich dies schreibe, beginne ich zu verstehen. Es ist vielleicht das Bremer-Stadtmusikanten-Prinzip. Etwas anderes als den Tod können wir überall finden. Lebensgenießerei pur. Selbstbestimmt sein. Der scheinbaren Auswegslosigkeit, sich in eine Gesellschaft eingliedern zu müssen durch schlichtes Reisen zu entrinnen? 

Während unseres mulmigen Spaziergangs durchs Militärarreal redeten Frau SoSo und ich – zwar scherzend – darüber, wie es wohl wäre, wenn man eingesperrt würde und da wurde uns klar, dass die Strafe nicht nur in Freiheitentzug bestünde, sondern auch darin, sich in eine Gesellschaft einzugliedern. Ihren Takt mitzuleben, ihren Gepflogenheiten zu folgen und sich anzupassen. Vom Wecken über den Hofgang zum Essenfassen und zurück zum abendlichen Einschluss. Geburt, nicht selbst bestimmtes Leben, Tod und das freiheitsstrafenjahrelang Tag für Tag. Einhellig war uns klar, dass das fast noch schlimmer wäre als Freiheitsenzug.

Einen kilometerweiten Spaziergang auf einem Waldweg, an dessen Rand sich in regelmäßigen Abständen die Überreste abgefackelter Leuchtfeuer befanden kamen mir einige Erlebnisse in den Sinn, in denen ich mich der Gesellschaft verweigert hatte. Schon der Versuch meiner Mutter vor zig Jahren, mich erstmals in einen Kindergarten zu bringen scheiterte.

Gerard zeigte mir bei einem Gegenbesuch in seinem Wohnmobil noch einige Gegenstände und Bilder, die ihn begleiten. Unter anderem ein Gemälde, das er einst gekauft hatte und es an den einzigen winzigen Hängeplatz über dem Tisch platziert hatte. Ein gut DIN A4 großes Acrylbild auf Leinwand. Es zeigt ein Schiff, mit gesetzten Spinackern, dahinsegelnd in die Freiheit, sagte ich auf die Frage, was es wohl darstelle. Das habe er auch so gesehen, aber der Künstler sagte, es sei ein Vogel. 

1001 Nacht befände sich in dem Stauraum unter der Sitzbank. Im Raum unterm Bett lag einst ein Motorschlauchboot mit Außenborder, Ebookreader auf dem Tisch, die Bibel in einer feinen mit geprägtem Leder gebundenen uralten Fassung von seiner Großmutter. Den Koran auf Englisch habe er einem Dänen in Spanien geschenkt, der auf dem Weg nach Marokko war: kannst doch nicht ohne den Koran gelesen zu haben in ein muslimisches Land fahren. Bibel, christlich, dito.

Und in der Piano-Jazz-CD-Sammlung, in der großen Box mit mindestens dreißig Scheiben, sei die Nummer achtzehn herauszuholen und das Lied Nummer achtzehn bei seiner Beisetzung zu spielen: Stairway to the Stars in einer Aufnahme aus dem Jahr – ich glaube er sagte 1956. Da war er fünfzehn und ich minus zehn.