26. Juni 2019
Am Anfang der Reise tut sich eine große Leere auf. Sie besteht aus all den Dingen, die man zu Hause lassen musste. Aus menschlichem Komfortbedarf, aus einem unsichtbaren Skelett an Gewohnheiten, aus einem Tagesablauf, der einem Halt gibt. Wie kann etwas aus Dingen bestehen, die man nicht im Rucksack mit sich schleppt? Wie kann etwas Gestalt annehmen, das gar nicht ist, aber dennoch auf Dein Gemüt wirkt? Erst wenn Du die Leere mit dem füllst, was sie von Natur aus beinhalten sollte, wirst Du Deinen Frieden finden. Fülle die Leere mit Nichts!
So ähnlich formulierte ich kürzlich die Gefühle der ersten Tage, die uns den Berg hinab begleiteten. Sowohl Frau SoSo, als auch ich mussten uns erst einmal an den neuen Reisealltag gewöhnen und an das Nichtvorhandensein der vielen kleinen Gewohnheiten, die unsere Daheim-Alltage ausmachen. Neben Einbußen an Komfort, etwa Wasserhahn einfach aufdrehen oder Duschköpfe, Spülmaschinen und Elektroherd nutzen, oder mal eben noch einkaufen, etwas nicht vorhandenes besorgen, gehören dazu auch tägliche Routinen. Am PC arbeiten, Mails schreiben, sich Sorgen machen, kommunizieren, neue Projekte aufgleisen und … darfs abends vielleicht ein bisschen Heimkino sein? – lieb gewordene Serien schauen. All die fluffigen schönen Alltagsbegleiter.
Nichts von den genannten Dingen hat in den Rucksack gepasst. Die Sommertage sind sehr lang. Unsere Etappen, trotz recht schwerem Gepäck, sind mit zehn, fünfzehn Kilometern eher kurz. Mehr als fünf Stunden muss man dafür nicht wandern. Es bleiben also locker etwa zehn bis zwölf Stunden Tageszeit, die man verbringen muss und in die sich die Leere legt, die aus all dem Materiellen und den Gewohnheiten besteht, die man daheim lassen musste.
Man könnte sagen, uns ist langweilig. Jene Art unruhige Langeweile, ein unbestimmtes Gefühl, das sich aus der Spannung des Nichtvorhandenseins von etwas, woran man sich gewöhnt hat zu der Reisemasse ergibt. Mit dem Begriff Reisemasse bediene ich mich eines Begriffs aus der Fahrzeug-Elektrotechnik. Als Masse bezeichnet man einen der beiden Batteriepole, der an die metallische Karosserie des Fahrzeugs angeschlossen wird. Somit genügt es, bis zum Verbraucher, zum Beispiel dem Rücklicht, nur ein einziges Kabel zu legen, wenn der Verbraucher mit dem anderen Pol direkt an die Masse angeschlossen wird. Und das wird er.
Wie zwei Rücklichter in düstrer Nacht, die sich unheimlich langweilen sind wir?
Ich will das Bild nicht überstrapazieren.
Von unserem Freiluftlager im Bachbett nahe Boden erheben wir uns schon bei Sonnenaufgang. Noch weht der Gebirgsbachwind kühl von der Grimsel herab, so kühl, dass ein frühmorgendliches Flussbad im vielleicht 14 Grad kalten Wasser unattraktiv ist. Nach wenigen Metern aber schlägt die Temperatur auf der frisch gemähten Wiese um. Deutlich wärmer, deutlich weniger Gebirgsbachwind.
Innertkirchen wird die erste größere Siedlung, die wir heute durchqueren werden. Dort gibt es Bahnhof, Laden, Bushaltestellen, Restaurants, Metzgerei, Campingplatz, Hotel.
Im Weiler Boden, etwa sechs Kilometer oberhalb, finde ich an einer Mauer lehnend einen Haselnussstock, der mich fortan begleitet. Frau SoSo ist mit ihrem teleskopierbaren Wanderstab schon von Beginn an bestens gerüstet.
Bemerkenswert an diesem Abschnitt ist der alte Saumpfad, der sich auf schmalsten Wegen über Schmelzwasserrinnen durch die Schlucht zieht bis zu einem magischen Ort namens Sprengfluh. Dort ist das Aaretal besonders eng. Die Grimselstraße ist unhörbar in einen langen Tunnel verbannt. Auf der alten Grimselstraße, gut sichtbar in den gegenüberliegenden Fels gehauen, verkehren nur ein paar Radler und ein paar Lieferfahrzeuge. Stille. Unten in der Schlucht rauscht die Aare. Die Sprengfluh ist ein markanter Wegpunkt, bei dem der alte Saumpfad in den Fels gehauen wurde. Die Grimsel hatte nie die Bedeutung, die andere Passstraßen für den internationalen Verkehr haben, weshalb auch erst sehr spät, Ende des 19. Jahrhunderts, überhaupt eine fahrbare Straße gebaut wurde. Vorher diente die Strecke eher als regionale Verbindung zwischen der Hasligegend und Italien.
Dann Innertkirchen. Zwei Pfützen an Wand vor riesigem Stromumspannwerk, so könnte man uns wohl bezeichnen. In praller Mittagshitze keuchen wir die letzten Meter hinein in das kleine Städtchen, suchen jeden Brunnen auf, ducken uns in jeden Schatten. Ganz bemerkenswert jener alte, riesige Baum, mitten auf dem Friedhof, unter dem ein wie für uns geschaffenes Bänklein steht. Hier gehen wir nie wieder weg! Doch! Die Zivilisation lockt.
Sobald sich in Deinem Kopf ein kühler Schokodrink oder eine Limonade manifestiert und dazu ein Gipfeli und allmögliches, kaufbares Zeug, bist Du bereit, auch noch die letzten – lass mich nachsehen auf dem GPS – hundertachtzig Meter bis zum Dorfladen zu laufen.
Nichts wie hin. Vor dem Laden zwischen Bahnhof und Museum steht ein riesiges Festzelt, darin drei Bankgarnituren. An dem Knotenpunkt zweier Passstraßen gehen täglich viele Leute ein und aus, Motorradkorsos, Busse und Bahn, die Wanderer und Wanderinnen ausspucken. Alle wollen einkaufen. Alle wollen sitzen, alle wollen keine Sonnen bei der Hitze dieser Tage. Im rundum offenen Zelt ist es trotzdem extrem warm. Wir kaufen nicht viel. Entsorgen unseren Müll, den wir seit drei Tagen mitschleppen, keuchen schließlich weiter durchs Dorf, überqueren die Aare, die hier schon ein richtig kleiner Fluss geworden ist, liebäugeln, uns auf dem Campingplatz einzuquartieren, der direkt an der Hochwassermauer liegt. Kein einziger Schattenplatz zu sehen. Dennoch, wirkt sehr sympathisch. So wandern wir weiter auf dem Flussdamm schnurgerade auf die legendäre Aareschlucht zu. Auf einer Bune lagern wir einen Moment, kühlen uns im immer noch eiskalten Wasser. Bremsen zerstechen uns. Rein in die Klamotten, weiter. Der Eingang zur Aareschlucht ist in Sichtweite. Kurz bevor der kanalisierte Fluss zwischen den Felswänden verschwindet, führt neben einem Grillplatz eine Fußgängerbrücke hinüber zur vielleicht bizarrsten Bahnstation, die ich je erlebt habe. ‚Aareschlucht Ost‘ heißt der Bedarfshaltepunkt. Durch einen in den Fels gehauenen Pfad geht man auf eine Aufzugstür zu. Daneben Knöpfe für beide Richtungen. Wenn man einsteigen will, muss man den jeweiligen Knopf drücken und unten warten. Erst wenn der Zug kommt, kommt auch der Aufzug, der einen hinauf ans Gleis bringt. Die Züge fahren oft. Vielleicht halbstündlich?
Wir bleiben auf der linken Flussseite, wandern einen Serpentinenpfad und einige Treppen hinauf zum Besucherzentrum der Aareschlucht. Die Passage kostet Eintritt. Etwa anderthalb Kilometer führt der Wanderweg über Stege, die an den senkrechten bis überstehenden zig Meter hohen Felswänden verankert sind. Über Treppen und durch enge, feuchte Tunnels. Denke ich anfangs noch, hey, das wäre cool, hier mit dem Kajak einmal durchzufahren, wird mir später zehn Meter über sehr rauem Wasser balancierend auf den Stegen klar, das wäre Selbstmord. An der engsten Stelle hat sich der Fluß tief in den Fels gefräst und gurgelt in einem nur einen Meter breiten Spalt. Es ist kühl da unten und der Bachwind kühlt noch mehr. Die Schlucht ist eine der faszinierendsten Attraktionen des Berner Oberlands. Viele Touristen aus aller Herrenländer wandern auf den Brücken und Stegen. Nie habe ich mehr Frauen in Vollverschleierung gesehen wie in der Aareschlucht. Bizarr und surreal wirkt das manchmal, wenn plötzlich drei vier verschleierte Frauen hintereinander an Dir vorbeilaufen. Noch verrückter, dass dann Männer und Kinder folgen, die aber nicht wie zu erwarten etwa Kaftane tragen, sondern stinknormale Hemden, Jeans, Turnschuhe.
Auch auf der Westseite der Aareschlucht gibt es ein Besucherzentrum mit Souvenirsladen und Restaurant. Mit unseren schweren Rucksäcken sind wir definitiv die exotischsten Wesen, die die Schlucht durchqueren. Man fragt uns oft, ob wir Pilger sind. In der Tat befinden wir uns auf einer alten Pilgerroute, die von Sankt Gallen westwärts führt am Brienzer- und Thunersee vorbei, um dann kurz vor Bern ins Waadtland und nach Frankreich abzuzweigen.
Jenseits der Schlucht lassen wir uns auf einer Parkbank neben einem Kinderspielplatz nieder, legen die Solarzelle in die Sonne, laden die Handys.
Ich glaube, das ist der Moment, an dem unsere Leere sich nach und nach mit Nichts füllt und wir zur Ruhe kommen. Keine Spur von Langeweile. Ich könnte mir gut vorstellen, eine ganze Woche hier am Tor zur Aareschlucht zu sitzen und die Menschen zu beobachten, sie zu interviewen, über sie zu schreiben. Aareschluchtblogger. Hey, das wäre doch mal ein Job, liebes Berner Oberland!
Neben einer Wandergruppe aus vielleicht zwanzig Menschen mit leichten Rucksäcken lagern viele Familien im Schatten, Touristen von überall. Zwei Kinder werfen eine Plastikflasche durch die Luft, versuchen sie mit der riesigen, runden Korbschaukel aufzufangen. Herrliches, selbst erfundenes Spiel. Einmal noch im Leben möchte ich die Muse und die Kraft haben, mich so intensiv auf ein im Grunde ganz einfaches Spiel einzulassen wie es diese Kinder tun.
Die Schlucht schließt um 17 Uhr. Der Parkplatz leert sich. Die Frage nach einem Lagerplatz für die Nacht klärt sich auch. Zwar wären wir in zwanzig Minuten in Meiringen, aber der Park mit Grillplätzen zwischen Parkplatz und Aare bietet allen Komfort, den wir uns wünschen und dürfte zudem etwas ruhiger sein, als etwa ein Campingplatz (so es denn überhaupt einen gibt).
Dusche gibt es an diesem Abend auch, gespeist vom nicht mehr ganz so kalten Wasser der Aare, das wir mit unserem zehn Liter Sack an einem Baum aufhängen.
Frau SoSo schreibt -> hier über Tag vier.