Das chinesische Insekt ist auch hier, sagt der Mann. Ein sonniger Tag in einem gespenstisch leeren Aargauer Dorf. Eigentlich wollten Frau Soso und ich nach einem Spaziergang entlang der Aare – wie schon so oft – in dem feudalen Café im örtlichen Schloss eine heiße Schokolade trinken und den Sonntagnachmittag genießen. Das Café ist aber zu. Vor der Tür liegen Kisten. Der Briefkasten quillt über. Es sieht ein bisschen verwahrlost aus oder mindestens, um es brachial schwedisch zu sagen, ‚for ever stengt‘, für immer zu. Wir setzen uns auf Korbsessel in dem parkähnlichen Innenhof und Frau Soso versucht, die Baumart zu bestimmen, die uns überragt. Buchen vielleicht? Oder Eichen, mutmaße ich. Nee, da liegen doch Ahornblätter. Quatsch, das ist Efeu. Frau Soso fragt die App und die sagt, es sind asiatische Platanen, riesige Wesen, die in den letzten zig Jahren hier was-weiß-ich-schon-alles gesehen haben mögen. Das Dorf ist wie verlassen. Wir begegneten auf unserem Spaziergang nur wenigen Menschen. In einem Hinterhof ist ein Weinlokal geöffnet. Halligalli in dunklem Raum voller presswurstähnlichem beseeltem Klientel. Wir beobachten den plaudernden Frohsinn durch offene Türen.
Dann der Mann mit dem Insekt, den ich erst einmal gar nicht verstehe. Hä, wassen für ein Insekt? Ist da etwas Schlimmes, denke ich? Will schon naiv fragen, ob eine Spezies in die Schweiz eingewandert ist, die es den örtlichen Bauern schwer macht und die Weinernte frisst. Jenseits auf der kleinen Insel in der Aare pumpt das Kernkraftwerk ganz unscheinbar und hier an der Glastüre des Besucherzentrums hängt ein Zettel, dass das Zentrum bis auf Weiteres geschlossen bleibt und da dämmert mir, dass der Typ, ein alter, verkautzter Kerl, mit dem Insekt, das Virus meint. Schallend kracht der Groschen endlich. Ich bin geneigt, zu husten. Nur so aus Trotz, archetypisiere den Kerl als konservativ bis rechten Drecksknauser, der ganz gewiss die SVP wählt, aber vielleicht habe ich unrecht. Mögen tue ich ihn auf keinen Fall. Es gibt solche Menschen, leider immer mehr, die man auf den ersten Blick und wegen ihrer Äußerungen kategorisch nicht mag. Er nähert sich uns nicht, treibt sich stattdessen im Park herum, wo es einige physikalische Experimente mit sich drehenden Maschinen gibt, wohl um das Klientel des Besucherzentrums des Kernkraftwerks auf die Führungen einzustimmen. Wer weiß, vielleicht mache ich solch eine Führung auch einmal mit, wenn denn das ‚Insekt‘ endlich wieder weg ist. Eines der schönsten Experimente in dem Park ist eine akustische Installation zweier Parabolschalen, etwa fünfzig Meter voneinander entfernt, gegenläufig ausgerichtet, in die man sich hineinsetzen kann, einer hier, einer dort und sich in normaler Lautstärke unterhalten kann. Frau Soso und ich konzentrieren uns jedoch darauf, im Innenhof des Schlosses, neban des Besucherzentrums auf den Korbstühlen zu lungern und über die asiatischen Platanen nachzudenken und uns die Frühlingssonne auf die Körper brateln zu lassen. Später finden wir in einem lichten Wäldchen jenseits der Kernkraftwerksinsel ein halbhektargroßes Areal mit jungem Bärlauch, ernten unser Abendessen und abends, als wir den Sack voll Bärlauch, den wir ernteten in eine köstliche Lasagne verwandelt hatten, kamen kurz Bedenken, hey, Kernkraftwerk da und Bärlauch hier, in Spuckweite voneinander entfernt und nur das naive Bärlauchsammelbübchen in mir argumentiert, hey, denk mal nach, die Hauptwindrichtung führt doch vom Bärlauch zum Kernkraftwerk und nicht umgekehrt, genieße die Köstlichkeit. Aber so einfach ist es leider nicht.