Haferflocken, die halbe Miete der Künstlerernährung

Nachtrag 2. Juli 2021: Dieser Artikel ist nun auch als Hördatei zugänglich. Gelesen von Silvia Bervingas.

Die Aufnahme wurde mit der Software Audacity auf einem Raspberrypi aufgenommen und minimal bearbeitet (Grundrauschen entfernt und geschnitten).

Vieruhrfünfunddreißig. Letztes Jahr um diese Zeit wäre ich vermutlich aufgestanden. Runtergeklettert aus dem Hochbett, Kaffeewasser aufgesetzt, ran an den Klapprechner. Letztes Jahr um diese Zeit schrieb ich Radlantix.

Letztes Jahr um diese Zeit hatte ich Kraft. Oder eine Vision wie es weitergehen könnte oder eine Perspektive. Ich konnte mir Dinge vorstellen. Tagesabläufe, Wochen- und Monatsgebäude errichten. Es gab Zukünfte und ich hatte Freude an Vergangenheiten. Vielleicht sind es Zukünfte und Vergangenheiten, die die Gegenwart ausmachen, also die glückliche, gelebte Gegenwart? Glückliche Gegenwart bedeutet vielleicht, dass man auf  Vergangenheiten zurückblickt und sich an ihnen nährt. Dieser Ereignisstrang hier und jener da und wie sie ineinander verwoben sind, fette Beute gelebten Lebens. Und es bedeutet vielleicht, dass man Zukünfte denkt: ich könnte dies oder jenes, in einem längeren oder kürzeren Ereignisstrang zusammengefasst, ein Ziel … welch gar merkwürdiger Morgen, welch merkwürdiges Erwachen, das sich am ehesten als ‚da ist nichts mehr‘ klassifizieren lassen könnte. Ich wälze mich hin und her. An Schlaf ist nicht mehr zu denken. An Aufstehen auch nicht. Selbst an Denken ist nicht zu denken. Versuche mich zu erinnern an das vergangene Jahr. Kaum ein Fixpunkt. Nichts Besonderes.

Seit Tagen habe ich das Haus nicht mehr verlassen. Es gibt nichts zu tun, also eigentlich gibt es sehr viel zu tun, aber eben, es gibt in diesem Zustand nichts zu tun; kann weder wieder einschlafen, noch den Tag planen, noch über irgendetwas nachdenken. Im Garten wäre viel Arbeit. Zwei Zucchinipflanzen und eine Tomate sind schon draußen und ein paar Zeilen Kartoffeln immerhin. Legst du mich im April, komme ich wann ich will, sagt die Kartoffel, legst du mich im Mai, komme ich glei(ch). Und: Die Kartoffel will die Glocken läuten hören, sprich, nicht zu tief unter die Erde. Die Blätter der Zucccini und der Tomate haben weiße Flecken angesetzt. Mehltau womöglich. Es war unheimlich trocken die letzten Wochen, kaum Morgentau, kein Regen, einmal gab es Nebel, glaube ich. Mehltau sei ein Sommerpilz, der Wärme und Trockenheit liebt. Gestern gelingt es mir irgendwie, eine Sprühflasche mit Seifenlösung anzumischen und die Blätter zu besprühen. Es war eine rechte Überwindung, die Seifenlauge zu mischen. Man sagt, Seifenlauge könne helfen. Das Internet sagt es. Es ist mir egal, ob die Pflanzen durchkommen. Ich bin recht gefühlstaub dieser Tage. Ambitionslos. Nein, eher antriebslos. Absichten schlummern noch in dem kalt gestellten Geist, das weiß ich. Manchmal stelle ich mir vor, ans Nordkap zu radeln. Im Juli könnte das gut passen. Oder mit Frau Soso nach Kihlangi zu fahren und auf dem alten Schmugglerpfad bis zu einer Kaltwasserquelle wandern, von der mir vor vielen Jahren einmal ein Mann erzählte, der im alten Schulhaus in Kihlangi wohnt und eine Art privates Museum betreibt. Eine Bühne voller alter Kettensägen hatte er mir gezeigt, spektakuläre Maschinen mit gigantischen Motoren, russische Modelle, schweres Gerät, ich weiß gar nicht, wie ein Mann alleine so etwas bedienen kann, aber egal, das könnte ich mir vorstellen, mit Frau Soso auf Auto-Wandertour durch ein unter ewigem Sommerhoch liegendes Ostseeküstenschweden.

Am Ehesten bin ich wohl nichts. Ich kann prima Sessel sitzen und starren. Das bereitet zwar keine Freude, aber auch kein Leid. Die Zeit vorbeirauschen sehen und dabei nichts empfinden. Hie und da eine Idee, was man tun könnte, vielleicht aufs Rad steigen und eine Runde drehen. Bloß wozu? Einkaufen gehen? Der Kühlschrank ist leer. Nur noch ein Stück Butter in Helgoland-Form mit waschechter Mini-Langer-Anna, reicht noch für das halbe Brot, das im Brotkasten liegt. Dazu Salz. Oder ein Glas Marmelade. Huch, Samstag ist Feiertag! Wochenende. Ich sollte einkaufen. Das denke ich gegen Morgendämmerung. Noch immer im Bett, schaue nicht auf die Uhr, es könnte halb sechs sein. Ich sollte aufstehen und mich aufs Einkaufengehen vorbereiten, vielleicht einen Blogartikel schreiben, diesen hier, bloß wozu? Ich habe keine Lust. Wälze mich weiter hin und her. Traumbilder, abstrakt. Verrückt.

Kürzlich schrieb mir ein Freund, er stehe nicht mehr auf, was mich bestürzte. Der Freund hat eine schlimme Krankheit. Ich nicht. Aber ich stelle mir trotzdem vor, wie es wäre, liegen zu bleiben. Ich könnte liegen bleiben mit nichts im Kopf und keinen Gefühlen und die Zeit verrinnt, ohne dass man es mitkriegt. Liegt dann irgendwann ein bärtiges, langhaariges, ungewaschenes Wesen mit ewig langen Fingernägeln und Zehennägeln … mindestens das Wochenende könnte ich durchhalten mit Bettnichtverlassen. Ich und mein Stück Brot und meine Butter, die im fast verzehrten Zustand aussieht wie ein Modell der Insel Helgoland mitsamt Langer Anna und Düne. Wasser dazu. Kaffee ohne alles. Spartanisches Künstlerdasein. Es gibt noch Haferflocken. Der Hahn kräht. Ein Rebhuhn gibt laut, Vögel zwitschern. An der fernen Straße erste Motorengeräusche. Als ich den Rechner aufklappe, zeigt die Uhr Fünfuhrvierzig. Ich eröffne den Artikel. Wenn ich schon nichts bin und nichts fühle und mir alles egal ist, kann ich machen was ich nicht beabsichtige und nicht fühle und mir egal ist, also einfach irgendwas. Es tut ja nicht weh. Es ist nur ein bisschen anstrengender, als zu sitzen und zu starren. Musse‘ Tasten quälen. Musse‘ Hirndenken, musse‘ Worte fügen, Alter. Worte ins Internet schreiben um niemanden zu haben, der sie liest oder kaum jemanden, alles ist so beliebig, so egal geworden. Im letzten Jahr kam mächtig etwas abhanden, stelle ich fest. Vermutlich ist die innere Leere deshalb so groß, weil der Verlust so groß war. Man es sich nicht vorstellen möchte, weil es weh täte.

Sechsuhr. Die Glocken läuten in der fernen Stadt. Seichtroter Himmel. Der Künstler will die Glocken läuten hören, die alte Kartoffel, ey!

13 Antworten auf „Haferflocken, die halbe Miete der Künstlerernährung“

  1. ja, ich habe das gefühl, mir fehlt ein jahr, irgendwie nicht gelebt. und ich halte mich mit kommenden vorhaben wach, anstrengend allemal. aber nun bin ich 2 x geimpft und die angst vor dieser krankheit verschwindet. aber wenn man über 70 jahre ist, ist die restlebenszeit ohnehin begrenzt, und es gibt doch noch dinge, die ich tun will. vergangenheit und zukunft sind nicht unser, nur das heute, sagen mir alle.

  2. Frueher ging es mir manchmal so, lieber Juergen, und ich bin dann auch schon mal mehrere Tage im Bett geblieben. Zum Glueck ist das aber seit einiger Zeit nicht so, und obwohl wir nur noch wenig unternehmen (koennen), fuehle ich mich gut. Ich halte Dir die Daumen, dass auch Du mental wieder auf die Beine kommst.
    Alles Liebe und Gute und viele Gruesse,
    Pit

  3. Ich verzichte auf jede Auf- oder Ermunterung.

    Dieses Dokument der Erschöpfung sollte für sich stehen bleiben.

    Aber dass Du Deine Situation noch so gekonnt verwörterst, stimmt mich verhalten hoffnungsvoll.

    Gruß,
    Uwe

  4. Ja, das Leben findet zwischen Vergangenheit und Zukunft statt. Im Jetzt. Oft entgleitet uns das Jetzt, wenn uns die Perspektive fehlt. Wir sind so angelegt, dass wir immer etwas müssen, sollen. Wir haben nicht einfach Zeit. Schon gar nicht welche, die sich selber füllen darf. Und der Künstler? Misst sich an seinem kreativen Ausstoss. Auch wenn er längst wissen könnte, erfahren hat, dass ganz viel von dem, was er schon geschaffen hat, das Ergebnis solcher Unruhephasen war, die er aushalten musste, durchleiden, erdulden. WAS geschieht wohl, wenn wir die Haferlocken einfach einweichen, essen, versonnen mampfen und dabei nichts anderes tun, als auf unser Kauen zu achten? Oder nicht mal das. Und doch ist alles in Ordnung. Gerade nährt sich unser Körper. Und auch unser Geist.

  5. Nu häng Dir ne Glocke auf,
    werde Glöckner,
    die müssen immer am Punkt pünktlich sein.
    Klingt gut , tut gut.

    Wenn ich nun gar nicht mehr aufstehe,
    so verlasse ich doch das Bett
    regelmäßig, um noch ein wenig zu arbeiten,
    wie gewohnt.
    Es entsteht sogaar noch interessantes…

    Aber ich erhebe mich nicht mehr.
    Keine Kraft dazu.
    Und ich passe sehr auf, nicht aus dem Rollstuhl zu fallen.
    Dann kann man nämlich die Feuerwehr rufen, um mich aufzurichten…

    Dasein zu nutzen
    wie es eben geht
    brauche ich weder Flocken,
    noch web-Resonanz.
    Gruß.

    1. Das klingt positiv. Sich nicht erheben hat etwas von Frieden, finde ich. Und was die Web-Resonanz betrifft hast Du auch recht. Was zählt ist die Gegenwart und darin glücklich sein.

    1. Bei mir ist kein Störgeräusch zu hören. Bisher hatte das noch niemand berichtet. Aber es sind auch nicht sehr viele Hörende bisher, glaube ich.

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