Tief sinken auf hohem Niveau

Einer jener Abende. Einer jener Tage. Eine jener Situationen. Verdammt in den eigenen PC. Virtuell, online, an der Welt teilhabend per Sozialer Medien. Nicht mehr ‚echt‘ existierend dem Leben und einem gelebten Leben hinterher heulend. Lese ich den Tweet eines Freundes, in dem es ums Rauchen geht und wie schlimm die Situation ist, bei Hochwasser, abgeschnitten von der Möglichkeit für Nachschub zu sorgen, keine Chance zu haben, Zigaretten oder sonstwie Rauchbares aufzutreiben.

Auf einem einsamen Gehöft abseits der Welt ist nicht gut Tabak beschaffen, falls man, als sozusagener Ex-Raucher mal Lust hätte auf eine Zigarette. Die Stimmung stimmt. Musik dudelt per Youtube, Sandinista von The Clash, Hitsville und wie sie alle heißen, die tollen Titel aus den frühen 1980er Jahren.

Jetzt eine Zigarette! Der Twitterfreund skizziert ein Szenario, in dem der Tabak alle ist, die Blättchen und die Filter auch und es gibt noch nicht einmal eine Prawda, die man in Stücke fetzen könnte, um sich notdürftig mit einem Rest Tabak, den man eventuell doch noch fände, eine Notkippe zusammen bappen zu können. (Nachtrag, es waren mehrere Twitterinnen an der Rauchlustauslösung beteiligt, namentlich @FrauRettich und @der_emil).

Ich drifte durch den Abend und lasse mich per Mausklick von hie nach da driften. Im Hintergund dudelt immerhin The Clash nach Herzenswunsch, was unweigerlich die Lust auf Tabakkonsum entfacht. Jetzt eine Zigarette! Oh Welt, was tust Du mir an, mich in die Erinnerung (wie es einmal war als rauchender Mensch) knechtend!

Flapsig kommentiere ich dem Freund etwas mit Aschenbecher und dass es doch problemlos möglich wäre, einen Aschenbecher zu fleddern, um Tabak und Rauchbares zu generieren nur für den gelebten Moment.

Idee!

Hey, Moment mal, das könnte ich eventuell wahr machen, denn solch einen Aschenbecher gibt es tatsächlich hier auf dem Gehöft. Kilometerweit vom rettenden Zigarettenautomaten entfernt. Also nix wie weg vom PC und all den Botschaften, die auf mich einprasseln, runter in die echte Welt. Unters Vordach der alten Scheune. Dort steht ein Aschenbecher.

Es regnet. Es regnet seit Tagen. Seit Wochen. Schon immer? Vor Tagen noch saßen wir beisammen, aßen, redeten, tranken, rauchten. Da ist noch was übrig. Bestimmt. Hoffentlich! Es ist diese seltsame Menschseinsstimmung, geworfen ins eigene Sein, das sich um nichts kümmert als um das eigene Sein selbst. Ein egoistischer Akt, der sich vorbeimogelt an den Problemen der Welt die auf einen eindreschen ohne Gnade und der einen sich glücklich fühlen lässt, ohne dass es dafür eine Grund gäbe. Das Clash-Gedudel tut sein Übriges.

Man ist. Ich bin. Und das ist auch gut so (um es mal mit einem ehemaligen Berliner Oberbürgermeister zu sagen). Kurzum, ich drifte durch den Abend, abgekoppelt von der Welt, dennoch Teil davon, was es zwar kompliziert macht, was aber für den gelebten Moment keine besondere Rolle spielt. Was ist der glückliche Mensch so klein und schön, wenn er einfach nur klein und schön sein darf und es sich eingesteht, klein und schön zu sein.

So klettere ich aus meinem Kokon der Künstlerbude weg von dem Sozialen Medien-Gedudel hinaus in die echte Welt. Regen, Regen, Regen. Durch mannigfaltige Löcher im Dach rinnt das Wasser. Es ist nicht anzunehmen, dass das sechzig Jahre alte Dach auf der Künstlerbude noch die zwanzig dreißig Jahre durchhält, die ich womöglich noch auf der Welt sein werde. Das ist mir aber im Moment egal, denn ich habe mir eine abendliche kleinfeinmensch-Mission definiert, in der es darum geht, sowas Ähnliches wie eine rauchbare Zigarette zu schaffen. Aus Nichts. Einzig aus dem, was aus einem vor Tagen vollgedrückten Aschenbecher noch herauszuholen ist.

Der Aschenbecher ist ein schneeweißes Keramikding, das wie ein Würfel aussieht, in dem sich eine Mulde befindet. Ein in die dritte Dimension entronnenes Renault-Symbol, das einst als Werbedingsi geschaffen wurde. Wenn man den Meterstab anlegt, kann man das Dingsi genau definieren und stellt fest, dass es exakt sonundsoviele Zentimeter hoch, breit und lang ist und dass sich darin zwei Mulden befinden, in die man brennende Kippen hineinlegen kann, gemütlich schwofend mit Leuten, einen Abend verbringend. Ein kleiner, eigentlich wertloser Kultgegenstand mit aufgedrucktem  Renault-Markenzeichen. Ich liebe dieses wertlose Ding. Ich besaß einst zwei dieser Renault-Aschenbecher-Würfel, verschenkte aber einen davon an einen Freund, der ein großer Renault-Fan war und der freute sich riesig über das Geschenk.

Gut fünfzehn Jahre her, dass ich ihm den Fan-Aschenbecher schenkte. Ich habe lange nichts von dem Freund gehört. Laut Facebook aber geht es ihm gut und er ist am Leben und er liebt noch immer Renault und ist Fan.

Zurück zu meiner ‚Sucht‘ und dem anderen Freund, der mich mit seiner Twitterei lustig gemacht hat, jetzt und hier ohne Tabak, Filter und Blättchen eine Zigarette zu rauchen.

Was uns Künstlerinnen so besonders macht, ist, aus dem Moment heraus zu agieren. Aus dem Nichts das Etwas zu schaffen. Das Nichts meines jetzigen Moments ist Zigarette. Es gibt keinen Tabak auf dem einsamen Gehöft. Und das ist auch gut so (siehe ehemaliger Berliner OB, sinngemäß). Wenn man in diesem Zustand die Lust verspürt, dennoch eine Zigarette zu rauchen, muss man mächtig in die Trickkiste greifen. Man muss sich über zahlreiche Bedenken hinwegsetzen: Rauchen schadet. Eine Zigarette führt unweigerlich zur nächsten und ruckzuck hängt man wieder am Stengel. Alles erwiesen und oft ausprobiert und bestätigbar, so isses.

Als Künstler, zumindest so einer wie moi même, Herr Irgendlink, der nicht das Glück hat, mit Wumms in den Kunstmarkt einzudringen, weiß man, wie mit gefühltem Mangel umzugehen ist.

Man improvisiert. Und das ist auch gut so.

Also unterm Vordach stehen, Regen beplätschert. Der Himmel dunkelt noch nicht. Diffuses Licht der Sommermonate. Darf ich diese Grenze überschreiten? Ich starre in den Renault-Kubus. Körper Lust auf Tabak. Nur einen Zug wenigstens. Das wärs jetzt. Also fleddere ich den Grund des Würfels und fummele fünf oder sechs Stummel hervor, vielversprechende Überreste eines gelebten Abends. Normalerweise würde ich nun den Tabak heraus fummeln (ich gebe zu, diese Siuation ist nicht neu) und ihn notdürftig von Asche und Schwärze befreien und den gereinigten Stoff in ein frisches Blättchen rollen. Auf Wunsch mit Filter. Perfekter Genuss aus Müll. Ich habe weder Blättchen, noch Filter, noch Tabak. Nicht einmal die aktuelle Prawda.

Obs gesund ist? Welch Frage! Ist es natürlich nicht, aber ich könnte und plötzlich, als ich mir die Finger in all dem Müll beschmutze und es stinkt und ekelt, wird mir bewusst, wie jämmerlich und pervers die ganze Situation ist, wie tief ich auf allerhöchstem Niveau in meiner Wohlstandswelt sinke. Ich könne auch runter zum nächsten Automaten und die Scheckkarte reinstecken und mir ein neues Päckchen Kippen kaufen oder zwei. Oder hundert. Aus den Vollen schöpfen.

Wieviel Prozent meiner Mitmenschen haben die Möglichkeit, einfach so aus dem Vollen zu schöpfen und ist das gerecht?

Ist es nicht und ich sollte aufhören vom Rauchen zu reden oder von Annehmlichkeiten oder vom schönen Leben. Wenn man einen Strich unter die Rechnung ‚Schönes Leben‘ zöge auf dieser Welt – alle Menschen gerechnet, die die gerade sterben, die die gerade geboren werden in Elend oder Glück – was käme wohl dabei heraus? Der primitive Additionsmathematiker in mir mag gar nicht ausrechnen, was dabei heraus käme. Die Billanz wäre katastrophal.

Die Billanz ist katastrophal!

Das muss man sich vor Augen führen, wenn man gefühlsmäßig dazu in der Lage ist. Danach glücklich weiter leben? Ist das möglich? Im Nichtwissen und Nichtwahrhaben wollen, fährt man gewiss besser. Man muss sich als moderner Mensch eigentlich in einer permanenten Selbstverzeihungsschleife befinden, um bestehen zu können, vermute ich.

Unguten Gefühls schreibe ich diesen Artikel. Nicht unglücklich, zum Glück.

Wenn ich bloß die Welt retten könnte, für Glück allüberall zu sorgen, das wärs.

Glücklich sein in der Gewissheit, dass es dazu einen Gegenpart gibt.  Unglück nämlich.

Stichworte im Jetzt. Nachdenkenswertes, das vermutlich zu nichts führt. Ich werde trotzdem weitermachen. Das Ergebnis, unter welcher Rechnung auch immer, bzw. unter meiner eigenen Lebensbilanz, ist noch offen.

Das ist doch auch ein bisschen Glück, oder?

Es hat etwas von Möglichkeit.

6 Antworten auf „Tief sinken auf hohem Niveau“

  1. „So kenn ich dich! 😂“

    „Das macht dich so menschlich!“

    Wetten, dass wir alle solcherlei ‚banale’ sofortbefriedigtwerdenmüssende Gelüste und Abgründe haben? Wie du sie beschreibst, ist allerdings so gar nicht banal! Klasse Text, gestern noch als Bettmümpfeli gelesen. ☺️

  2. Schallendes Lachen, als ich das in der Nacht las. Und meine Frage „Alter, was hast DU geraucht?“ wurde ja beantwortet. Jetzt las ich nochmal und fand vieles, das weniger lustig, dafür aber bedenkenswerter ist. Zum Beispiel:

    „Im Nichtwissen und Nichtwahrhaben wollen fährt man gewiss besser. Man muss sich als moderner Mensch eigentlich in einer permanenten Selbstverzeihungsschleife befinden, um bestehen zu können, vermute ich.“

    Am „besser“ habe ich herumgedacht. Besser vielleicht nicht, aber unbesorgter, und ob unbesorgt besser ist als sein Gegenteil …

  3. Nicht bilanzieren,
    sondern balancieren –
    auf Nuancen.
    Du machst das schon richtig.

    In jedem Fall, finde ich, ist es besser zu wissen, dass hinter jedem Augenblick der Zweifel liegt, als es nicht zu wissen. Glanz und Elend der Reflexion: doch nur so öffnen sich Möglichkeitsräume.

    Daher: „weitermachen“ (Grabspruch von Herbert Marcuse)

    Gruß,
    Uwe

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

%d Bloggern gefällt das: