Wieviele Meter mögen das sein bis zu dem schlanken Stahlträger, auf dem die alte Bahntrasse ruht, der eine kleine Durchfahrt zu dem Gehöft außerhalb der Stadt überbrückt? Deutlich hört man das Surren der Fahrradketten und Elektromotoren. Ab und zu quietscht sich ein eben dem letzten Winter entsprungenes, sträflich ungeschmiertes, altes Fahrrad voran. Es ist mächtig was los an diesem sonnigen Tag, obwohl erst Freitag.
Wie oft bin ich da oben schon vorbei geradelt auf altbekannter Strecke und nun hier, kaum zwanzig Meter entfernt etwas tiefer, zu Fuß unterwegs.
Eine völlig andere Gegend durchwanderten wir in der letzten halben Stunde. Nachdem wir das Auto in der Klosterstadt geparkt hatten, folgten wir dem erstbesten Wanderschild, das zu einer Klamm zeigte. Hofkopfklamm. Über Wiesen, vorbei an Gärten, raus aus dem Dorf und einem Feldweg folgend. Kein Anzeichen von einer Schlucht oder auch nur einem Tälchen, das die Bezeichnung Klamm erfüllen würde. Bei einer Ruhebank ein halber Hund. Ich scherze vor mich hin, das sei mehr als ein halber Hund, was da an braunen Haaren verteilt in der Wiese liegt. Etwas angeekelt setze ich mich auf die Lehne der nicht sehr sauberen Bank, was sonst nicht meine Art ist, aber ein bisschen Egoismus in vorverschmutzter Welt darf auch sein. Oder besser gesagt, nein: dürfte nicht sein! Eigentlich sollte ich die Bank nun putzen, um die vorgefundene Welt ein bisschen besser zu hinterlassen. Es ist eine Richtungsfrage im Kleinen, die hier zur Debatte steht. Putzt du und machst es besser oder schmutzt du mit im kollektiven Dahindriften durch die kaputte Welt.
Der Gedanke, etwas besser zu machen, was man nicht selbst zu verantworten hat, hat etwas von Bedingungslosigkeit. Abstreifen des Alltagskleids, das dir in einer das-war ich-nicht, das-geht-mich-nichts-an-Einstellung ein guter Schutz ist. Sich nackt machen, bedingungslos werden. Ein ungewöhnlicher, ein schwerer Weg. Die Regel ist genau umgekehrt: wenn du etwas in desolatem Zustand vorfindest, mache das Beste für dich selbst daraus, auch wenn du den Zustand dann nur noch verschlimmerst. Wenn vor deinem Mietshaus ein altes Möbelstück liegt, lege getrost ein weiteres hinzu und alle deine Nachbarn werden folgen, bis nach wenigen Tagen schon ein gigantischer Dreckhaufen vor der Tür liegt. Wenn irgendwo im Wald jemand Autoreifen oder einen Kühlschrank abgelegt hat, lege deinen eigenen alten Kühlschrank dazu. Schließlich kommt es ja nicht darauf an, ob die Entsorger nun einen oder zwei Kühlschränke mitnehmen müssen, wenn man sie denn ruft und die wilde Müllablage zur Anzeige bringt. Wenn du eine dreckige Parkbank voller Fußabdrücke und Hundehaare vorfindest, setz dich auf die Lehne und tue die Füße dahin, wo man normalerweise sitzt. Ich bin nicht bedingungslos an diesem Tag. Unsere Schuhe sind allerdings auch nicht dreckig. Und Putzzeug haben wir nicht dabei.
Die kaputte Welt der Verkommnung folgt einer einfachen, unbestechlichen Logik.
Hundert Meter nach der dreckigen Bank zweigt der Wanderweg von der geteerten Strecke ab und stürzt sich in ein wildes Etwas, das auf schmalem Pfad entlang einer Erosionsrinne steil abwärts führt. Die versprochene Klamm. Nur etwa dreihundert Meter über Stock und Stein, aber das ist genug. Taugt zum Abenteuer. Wie schon vor zwei Wochen entdecken Frau SoSo und ich im Altbekannten das Neue. Im Nahen die Ferne und wir basteln unsere, pandemiebedingt eingeschränkte Welt neu auf engstem Raum. Es ist wirklich faszinierend, wie fremd und fern man sich daheim und im oft Durchquerten fühlen kann. Schon stehen wir vor dem einsamen Gehöft, das ich nur von der anderen Seite her kenne. Ein Hof von zweifelhaftem Ruf, auf dem stolz die Deutschlandflagge gehisst ist. Hier von unserer Seite dominiert eher das Wilde in der Behausung. Hinter einer abgebrochenen dicken Pappel wuchert Garten und Feld bis zum abblätternden Putz der Gemäuer. Das Gebäude strotzt vor Umbauten und man steht ehrfürchtig vor mehreren Generationen von Menschenträumen, die hier verwirklicht werden wollten. Unfertig, nie zu Ende gelebt. Wie in fast allen Menschleben, so schätze ich. Nie werden wir fertig mit unseren Plänen, die wir im Leben machen. Mit unseren Sichtweisen der Welt.
Vielleicht ist das der Kern dieses Blogartikels? Kaum zwanzig Meter entfernt, hinaufblickend zur oft beschauten und erradelten Bahntrasse. Der Blickwinkel und der Standort muss sich nur geringfügig ändern und alles sieht ganz anders aus. Das Bild kommt mir gerade recht, denke ich. Gerade recht fürs Finale meines Radlantix-Blogs, in dem es ja im Prinzip auch nur um Sichtweisen einer Welt geht, egal, ob ich nun in ‚Echt‘ unterwegs bin oder alles nur erfinde. Es handelt sich um mehr oder weniger präzise beschriebene Ansichten. Was wir letztlich erleben, ist eine andere Geschichte, die erlischt noch während sie stattfindet.
Ich habe genug gesehen. Ich bin zehntausende Kilometer kreuz und quer durch Europa geradelt. Ich weiß wie es läuft und dass eine Situation, ein Ort, wo auch immer, stets ähnlich zu etwas schon Erlebtem sein wird. Ich weiß, wie das ist, wenn jemand mit quietschender Kette, schwer schnaufend einen Bahntrassenradweg entlang radelt … oder wie es ist, einen Ort in besserem Zustand zu hinterlassen als man ihn vorfand.